Die "Falle des Thukydides" wird gerne zitiert, wenn es um das Verhältnis zwischen den USA und China geht. Der antike griechische Historiker beschreibt damit ein Gesetz, das besagt, dass eine aufstrebende Macht früher oder später zwangsläufig in Konflikt mit dem bestehenden Platzhirsch kommen muss. In seinem Fall waren es Sparta und Athen. Ein weiteres bekanntes historisches Beispiel ist der Erste Weltkrieg, in dem sich das aufstrebende Deutschland und die Weltmacht Großbritannien in die Haare gerieten.
In seinem Buch "Destined for War" beruft sich auch der Harvard-Historiker Graham Allison auf Thukydides und warnt vor einem drohenden Krieg zwischen den USA und China. Anzeichen dafür gibt es genügend. Die bestehende und die aufstrebende Supermacht liefern sich seit Jahren Geplänkel, die immer zahlreicher werden.
Das jüngste Beispiel des Kleinkrieges zwischen Washington und Peking hat über das Wochenende stattgefunden. Auf Druck der USA hat die G7 China scharf verurteilt. Im Gegenzug haben die Chinesen den amerikanischen Chiphersteller Micron von ihrem Markt ausgeschlossen und damit den bereits heftig tobenden Chip War (Halbleiter-Krieg) verschärft. Zu nennen ist auch der chinesische Spionage-Ballon, den die USA kürzlich abgeschossen und damit einen Besuch des US-Außenministers Anthony Blinken in Peking verunmöglicht haben.
Die gefährlichsten Brandherde sind selbstredend der Krieg in der Ukraine und Taiwan. Präsident Xi Jinping hat sich bekanntlich bedingungslos hinter Wladimir Putin gestellt und die USA als eigentlichen Aggressor dieses Krieges verurteilt. Sollte Peking Moskau auch mit Waffen unterstützen, dann wären wir einem heißen Krieg zwischen den beiden Supermächten einen großen Schritt näher gekommen. Und sollte China gar versuchen, Taiwan mit Waffengewalt zu erobern, dann würde die "Falle des Thukydides" wohl endgültig zuschnappen.
So weit muss es zum Glück nicht kommen. Die "Falle des Thukidides" ist kein Naturgesetz, und es hat auch immer wieder Ausnahmen davon gegeben. Die Briten haben zwar einst versucht, die Unabhängigkeit der Amerikaner zu verhindern. Nach ihrer Niederlage haben sie sich jedoch nicht nur damit abgefunden, sondern auch 1871 einen Vertrag abgeschlossen, der zu einer "speziellen Verbindung" der beiden geführt hat, die bis heute noch besteht.
Von einem Tauwetter zwischen Washington und Peking zu reden, wäre verfrüht und übertrieben. Es gibt jedoch erste Anzeichen, die Hoffnung machen. So haben sich kürzlich Jake Sullivan, der amerikanische Sicherheitsberater, und Wang Yi, ein chinesischer Top-Diplomat, in Wien getroffen und stundenlang miteinander gesprochen. In einer Mitteilung wurde dieses Treffen später von beiden Seiten als "offen, gehaltvoll und konstruktiv" bezeichnet. "In der Sprache der Diplomatie kommt dies einer begeisterten Kritik gleich", kommentiert dies David Ignatius in der "Washington Post".
Das Treffen der beiden Top-Beamten war ein Baby-Schritt in die richtige Richtung. Beide müssen dabei Zugeständnisse an die Gegenseite machen. Die Chinesen müssen sich von ihrer "Dekadente-Amerikaner-These" verabschieden und anerkennen, dass die USA – allen innenpolitischen Querelen zum Trotz – noch lange nicht als Supermacht ausgedient haben.
Die Amerikaner ihrerseits müssen den Chinesen den Platz auf der Weltbühne zugestehen, der ihnen gebührt. "China will als gleichberechtigt mit der führenden Weltmacht angesehen werden", stellt Rohan Mukherjee, Politologe an der London School of Economics, fest. Vor allem in internationalen Gremien wie beispielsweise dem Internationalen Währungsfonds sind die Chinesen nach wie vor deutlich untervertreten.
Vor allem müssen die beiden eine Lösung für den Krieg in der Ukraine finden. Bisher wurde damit argumentiert, dass dieser Krieg Peking nütze, da er die Amerikaner von einer Auseinandersetzung mit China abhalte, und zudem auch Chinas Beziehung zu Russland festige. Inzwischen wird diese These selbst in Peking angezweifelt. Der Krieg habe dazu geführt, dass sich Europa (fast) geschlossen hinter die USA gestellt habe, so das Gegenargument. Der chinesischen Wirtschaft drohe damit der Verlust ihrer wichtigsten Exportmärkte.
Selbst ein Kalter Krieg ist nicht im Interesse der beiden Supermächte. Zu groß sind die wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Chinesen sind nach wie vor auf die westlichen Absatzmärkte angewiesen, die Amerikaner auf die chinesischen Lieferketten. Deshalb hat sich auch eine neue Sprachregelung eingebürgert, natürlich mit zwei englischen Begriffen: Das "decoupling" (abnabeln) wird ersetzt durch "de-risking" (das Risiko vermindern).
Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, und Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, haben kürzlich diesen Begriff bei ihren Besuchen in Peking verwendet. "Es kann nicht im Interesse von Europa sein, sich von China abzunabeln", erklärte von der Leyen. "Unsere Beziehungen sind nicht schwarz oder weiß. Deshalb müssen wir uns darauf konzentrieren, die Risiken zu vermindern."
Trotz des harschen Communiqués betonen auch die Mitglieder der G7, dass es ihnen nicht darum gehe, China zu brüskieren und seine Wirtschaft zu beschädigen. Man sei nicht an einem "decoupling" interessiert, sondern strebe lediglich ein "de-risking" an, wurde betont.