Die Linke ist endgültig in den Bundestagswahlkampf gestartet. Nach AfD, FDP, Grünen und SPD hat die Partei am Samstag und Sonntag ihr Wahlprogramm nach zweitägiger Debatte beschlossen. Der Parteitag war ein digitaler, wie bei allen großen Parteien außer der AfD in Pandemiezeiten üblich. Wenige der 580 Delegierten waren vor Ort in Berlin, die meisten nahmen aus der Ferne teil, per Endgerät zugeschaltet.
Die Vorsitzenden und Spitzenkandidaten der Linken machten ihrer Partei in Reden Mut für die verbleibenden drei Monate bis zur Wahl am 26. September – in einer Zeit, in die Umfragewerte für viele Mitglieder deprimierend sind: zwischen sechs und acht Prozent liegt die Linke, bei der Wahl 2017 erreichte sie noch 9,2 Prozent.
Was bleibt von diesem Programmparteitag? watson fasst die fünf wichtigsten Erkenntnisse zusammen.
Soziale Gerechtigkeit herstellen, das versteht die Linke als Kernauftrag für die Partei. Das Ziel zieht sich wie ein dunkelroter Faden durch das Programm, das die Delegierten nach Stunden der Debatte am Ende mit 87,9 Prozent der abgegebenen Stimmen beschlossen.
Diese Forderungen im Linken-Programm für die Bundestagswahl stechen heraus:
Für ihr Klimaziel bekam die Partei Applaus von Fridays for Future (FFF): Pauline Brünger, Sprecherin der Klimaschutzbewegung, bedankte sich am Sonntag in einer Video-Grußbotschaft dafür, dass die Partei die Klimaneutralität bis 2035 erreichen will. Man kann das als schönen Gruß der Parteitagsorganisatoren an Sahra Wagenknecht verstehen: Die ehemalige Linken-Fraktionschefin fordert seit Monaten von ihrer Partei kritische Distanz zu FFF.
Eine Kuriosität am Rande: Auf Antrag der Linksjugend kommt auch die Abschaffung der Schaumweinsteuer ins Wahlprogramm, die unter anderem auf Sekt und Champagner erhoben wird. Michael Neuhaus, einer von acht Linksjugend-Bundessprechern, sagte dazu am Samstagabend, die Schaumweinsteuer trage "dazu bei, dass die Perlen der Spirituosenwelt ein Statussymbol der Bourgeoisie sind. Sekt trinken ist wie Golfen oder wie ich schon immer sagte: Rotkäppchen saufen ist eine Frage von Klasse. Als Linke dürfen wir das nicht länger hinnehmen." Die "Bild" machte daraus die Schlagzeile: „'Linksjugend' will Champagner billiger machen".
Soll die Linke Teil der nächsten Bundesregierung werden – oder in der Opposition bleiben und von dort aus Druck von linksaußen machen? Das ist seit Jahren eine der Richtungsfragen für die Partei. Die Linken-Anhänger, das zeigen zumindest Umfragen, wünschen sich mit überwältigender Mehrheit eine Koalition mit linker Beteiligung: 96 Prozent sind es laut einer Civey-Umfrage im Auftrag des "Spiegel" aus dem Mai.
In der Parteispitze gibt es dazu unterschiedliche Ansichten: Janine Wissler, eine der beiden im Februar neu gewählten Linken-Bundesvorsitzenden, steht eher für die Linie der Oppositionsfreunde. Ihre Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow aus Thüringen, dem Bundesland des einzigen linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, ist eher für eine rot-rot-grüne Bundesregierung zusammen mit Grünen und SPD.
Bei seiner Rede auf dem Parteitag sprach sich Dietmar Bartsch, einer der beiden Linken-Fraktionschefs im Bundestag und neben Wissler Spitzenkandidat für die Wahl, klar für eine Regierungsbeteiligung aus. "Es ist nicht egal, wer in diesem Land regiert", sagte er und: "Wir wollen keine schwarz-grüne Regierung, wir wollen eine andere Regierung."
Der Bundestagsabgeordnete und Parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte sagte im Interview mit "Phoenix" am Sonntag, man werde "selbstverständlich" regieren, wenn man einen guten Beitrag leisten könne. Hennig-Wellsow meinte in ihrer Rede am Samstag: "Ohne uns werden es Millionen Menschen sein, die nicht von der Politik profitieren, sondern die nach wie vor in Armut leben müssen."
Diejenigen, die am lautesten gegen eine Regierungsbeteiligung redeten, waren auf dem Parteitag die weniger prominenten Delegierten. Thies Gleiss, Parteivorstandsmitglied aus Nordrhein-Westfalen, sprach sich – erfolglos – dafür aus, den Satz "Opposition ist nicht Mist" ins Wahlprogramm aufzunehmen. Er und andere Delegierte sprachen ausgiebig über Klassenkampf, Systemwechsel, von einer "Politik der geballten Faust".
Solche Beiträge sorgen bei pragmatischeren Linken für Augenrollen. Ein Delegierter, der zum Lager der Rot-Rot-Grün-Befürworter gehört, drückte es gegenüber watson so aus:
Co-Parteichefin Wissler sagte zu dem Thema bei ihrer Rede am Ende des Parteitags zum Thema Regierungsbeteiligung: nichts.
Es sieht in den Umfragen gerade so schlecht aus wie seit Jahren nicht mehr: Die Zustimmungswerte sind im Sinkflug, nur noch sechs bis acht Prozent würden die Partei aktuell wählen. Bei den vergangenen Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern kassierte die Partei – mit Ausnahme von Thüringen – herbe Verluste.
Der Angst, die viele Linken-Mitglieder deshalb befallen dürfte, begegneten die Vertreterinnen und Vertreter von Parteispitze und Bundestagsfraktion mit zwei Botschaften: Erstens, wir werden gebraucht. Zweitens, wir müssen zusammenhalten.
Beide Botschaften betonte ausgiebig Parteichefin Hennig-Wellsow zum Parteitagsauftakt am Samstag. Zur bedrohlichen Lage der Partei sagte sie:
Und sie ergänzte:
Hennig-Wellsow sprach von den Menschen, denen es besonders schlecht gehe im Land, von Menschen, die Pfandflaschen sammeln müssten, alleinerziehenden Müttern, die so wenig Geld hätten, dass sie nicht mehr wüssten, ob sie ihren Kindern das Butterbrot schmieren können, von Familien, die an Lebensmitteln sparen. Hennig-Wellsow sagte dazu, die Partei habe den "konkreten, krassen Auftrag", die Verhältnisse für diese Menschen zu verbessern.
Das könne die Linke, Botschaft zwei, aber nur erreichen, wenn sie geschlossen sei. "Es bringt niemandem 150 Euro mehr Hartz IV, wenn wir uns streiten." Sie spielte auf die Auseinandersetzungen um Parteigründer Oskar Lafontaine auf, der sich mit seinem Landesverband im Saarland öffentlich gefetzt hatte.
Und mit Lafontaines Frau Sahra Wagenknecht, ehemalige Fraktionschefin der Partei im Bundestag und Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen, die der Linken seit Monaten laut vorwirft, sich nicht mehr um bedürftige Menschen, sondern um wohlhabende Akademiker in Großstädten zu kümmern.
Wagenknecht selbst meldete sich beim Parteitag nicht zu Wort. Aber sie spielte trotzdem eine zentrale Rolle. Immer wieder verteilten Delegierte Seitenhiebe auf ihre Thesen. Parteichefin und Spitzenkandidatin Wissler, die sich in ihrer Rede am Sonntag ausdrücklich für eine großzügige Flüchtlingspolitik aussprach und hinter die Jugendbewegungen Black Lives Matter und FFF stellte – beide Bewegungen hatte Wagenknecht kurz vor dem Parteitag in einem Interview gegenüber watson kritisiert.
FFF schickte – wie erwähnt und wie schon beim Personalparteitag im Februar – eine Grußbotschaft an die Linken-Delegierten. Als Gastrednerin trat außerdem Carola Rackete auf, die Klimaaktivistin und Kapitänin des Flüchtlingsrettungsschiffs "Sea Watch 3", eine Symbolfigur für die Rettung Geflüchteter. Sie bekam, zumindest bei den wenigen Delegierten vor Ort in Berlin, lauten Applaus.
Bundestagsfraktionschef und Spitzenkandidat Bartsch ging andererseits auf Wagenknechts Vorwurf ein, die Partei tue beim Klimaschutz zu wenig für Bedürftige. Er sagte in seiner Rede:
Einmal stritten sich zwei Delegierte in zwei Beiträgen direkt nacheinander über die Thesen, die Wagenknecht in ihrem vor Kurzem veröffentlichten und erfolgreichen Buch "Die Selbstgerechten" ausbreitet: Michael Benecke aus dem Landesverband Sachsen-Anhalt, warf den Linken vor, "Grünen-Wählern, Yuppies und anderen" hinterherzuhecheln, anstatt sich auf ihre Kernklientel, deren Wünsche und Sorgen zu konzentrieren. Die "politisch korrekte Gender-Sprache", lehnten die meisten Menschen ab, sei bei einigen Linken sie sie aber das Non-Plus-Ultra, kritisierte er. Es sei "bereits fünf nach zwölf" für die Linke. Sie drohe, ähnlich viele Wähler zu verlieren wie die stark geschrumpfte SPD.
Paul Gruber von der Linksjugend aus Sachsen entgegnete: Dem Osten würden Scheindebatten über angebliche "Lifestyle-Linke" (den Begriff verwendet Wagenknecht) nicht helfen. Es brauche stattdessen eine bessere Erzählung von einem "sozialistischen, demokratischen 'Green New Deal'".
Und Linksjugend-Bundessprecher Maximilian Schulz meinte im watson-Interview: "Ich würde mir von Sahra Wagenknecht wünschen, dass sie unser Wahlprogramm gut verkauft – und nicht ihr Buch."
Überhaupt, die Linksjugend: Die Mitglieder der Jugendorganisation zeigten sich an mehreren Punkten unzufrieden mit dem Parteiprogramm. Man sei vom Teil, in dem es um Klimaschutz geht, "enttäuscht und auch arg verwundert", meinte Linksjugend-Bundessprecher Michael Neuhaus am Samstag. Der Hauptkritikpunkt: Es gebe zu wenig Konkretes im Wahlprogramm.
Gegenüber watson bringt die Linksjugend-Delegation ihren Unmut so zum Ausdruck:
Die Unzufriedenheit der Jungen hat relativ großes Gewicht: Die Partei hat in den vergangenen Jahren deutlich mehr junge Mitglieder bekommen.
Allerdings sind die jungen Linken auch mit mehreren Punkten des Programms nach eigener Aussage zufrieden: mit dem Bekenntnis zur Klimaneutralität bis 2035, der Absenkung des Wahlalters, dem bundesweiten Mietendeckel.