Einige Burschenschaften haben seltsame Praktiken.Bild: imago stock&people / Future Image
Analyse
Heidelberger Burschenschaftler verprügeln Mann – mit hanebüchener Begründung
In Heidelberg soll ein Mann auf der Feier einer Burschenschaft geschlagen und beschimpft worden sein, weil er jüdische Vorfahren hat. Was wissen wir über den Vorfall? Und wie groß ist das Problem mit Rechtsextremismus bei Burschenschaften? Eine Einordnung.
Es ist die Nacht zwischen 28. und 29. August. In der Villa Stückgarten in Heidelberg wird gefeiert. Das schmucke Gebäude liegt im gleichnamigen Garten, direkt unterhalb des Heidelberger Schlosses. "Großzügige Gemeinschaftsräume" gibt es in der Villa, einen "atemberaubenden Blick auf die Altstadt". Das schreibt die Studentenverbindung, die in der Villa ansässig ist, in einer Anzeige für Studentenzimmer. Normannia Heidelberg heißt die Verbindung. Sie ist eine Burschenschaft, nur Männer dürfen Mitglied werden.
Was in der Nacht passiert, schildern Staatsanwaltschaft und Polizei in einer Mitteilung so: 28 Menschen sind bei der Feier in der Villa, mindestens. Mitglieder mehrerer Studentenverbindungen sind da. Einer der Gäste ist ein 25-jähriger Mann. Er gehört einer anderen Studentenverbindung an, der Afrania, ihr Sitz ist einen Katzensprung von der Villa entfernt. Gegen 1 Uhr in dieser Nacht sagt der 25-Jährige anderen Gästen, dass er jüdische Vorfahren hat. Danach schlagen einige von ihnen den Mann mit Gürteln gegen Arme und Beine und bewerfen ihn mit Münzen. Die Männer, heißt es weiter, beleidigen den Mann auch verbal antisemitisch.
Sie nennen ihn "Jude", schreibt die "Antifaschistische Initiative Heidelberg" auf ihrem Blog, in anderen Antifa-Quellen werden weitere antisemitische Schmähungen genannt. Acht Menschen werden beschuldigt, den Mann angegriffen zu haben. Er erstattet nach dem Vorfall Anzeige. Gegen die Beschuldigten ermittelt der Staatsschutz der Kriminalpolizei.
Die Villa Stückgarten in Heidelberg: Hier soll der Angriff geschehen sein. Bild: dpa / Uwe Anspach
Dieser mutmaßliche antisemitische Angriff hat Heidelberg erschüttert, das für Millionen Deutsche und Deutschland-Touristen vor allem eine Stadt mit einer romantischen Altstadt und einer altehrwürdigen Universität ist.
Und er wirft eine Frage auf, die regelmäßig öffentlich diskutiert wird: Wie groß ist das Problem mit Rechtsextremismus in Burschenschaften an deutschen Hochschulen?
Nach dem Vorfall in Heidelberg wird es kurios
Nach dem Angriff löst die Normannia am 3.9. ihre Aktivitas, also ihre aktuelle Studentengruppe, auf, ohne Gründe dafür anzugeben: Das ist für eine Studentenverbindung ein denkbar radikaler Schnitt.
Der mutmaßliche antisemitische Angriff wird aber erst vier Tage später öffentlich: am 7.9., in einer Pressemitteilung der Antifaschistischen Initiative Heidelberg. Und wiederum erst einen Tag später veröffentlichten Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Mitteilung dazu. Am selben Tag veröffentlichte die Normannia ein Statement, das seither auf ihrer Website steht. Darüber steht als Überschrift "Wir dulden keinen Antisemitismus". Darunter heißt es unter anderem, dass die Ermittlungen sich nur "gegen einzelne Personen" richte, nicht gegen die Normannia als solche. Der Satz erscheint überflüssig: In Deutschland können sich strafrechtliche Ermittlungen nur gegen Einzelpersonen richten, nicht gegen Vereine, Verbände oder Unternehmen.
Der "Rhein-Neckar-Zeitung" ("RNZ"), der Lokalzeitung für die Region Heidelberg, wurde außerdem ein Brief zugespielt, in dem sich der Altherrenverein der Normannia bei der Afrania für den "abscheulichen und inakzeptablen Vorgang" entschuldigt.
Einiges ist merkwürdig an den Reaktionen auf den Vorfall: Erstens gab es laut Medienberichten schon am 2.9. Hausdurchsuchungen wegen des Angriffs, die Polizei gab dazu aber tagelang nichts bekannt. Am 8.9. schrieben dann Polizei und Staatsanwaltschaft in ihrer Mitteilung:
"Es zeichnet sich ab, dass es sich bei dem Schlagen mit den Gürteln, der sogenannten ,Gürtelung', um ein gängiges Ritual der tatverdächtigen Personen handeln soll."
Diese Meinung scheinen die Ermittler relativ exklusiv zu haben. Zur "Gürtelung" im Zusammenhang mit Burschenschaften oder Studentenverbindungen gibt es auf Google keinerlei Treffer aus der Zeit vor dem Vorfall. Autor Dietrich Heither, der zu Burschenschaften geforscht und mehrere Bücher veröffentlicht hat, sagt dem "Mannheimer Morgen", ihm sei "kein studentisches Ritual bekannt, das so heißt". Frank Kimmerle, seit 1998 Mitglied einer Studentenverbindung in Nürnberg, sagt watson zum angeblich gängigen "Gürteln": "Es mag sein, dass das in früheren Zeiten gängig war, heute ist das sicherlich nicht verbreitet." Und weiter: "Von verbreitet und akzeptiert kann aber sicher keine Rede sein."
Es wird noch kurioser. Zwischen 8. und 9. September erscheint im Online-Lexikon Wikipedia plötzlich ein Eintrag zur "Gürtelung".Er wird wenige Stunden später von einem Wikipedia-Editor wieder gelöscht – mit der Begründung, der Beitrag solle wohl den antisemitischen Vorfall in Heidelberg "kaschieren". Vor der Löschung hatte den Beitrag Norbert Weidner auf Twitter verbreitet, jahrelang Mitglied im Verbandsrat der Deutschen Burschenschaft, eines Verbands von Burschenschaften. Weidner war in den 1990er Jahren Mitglied in mehreren Neonazi-Organisationen und verunglimpfte 2011 Dietrich Bonhoeffer, einen der prominentesten Widerstandskämpfer gegen die Nazis, als "Landesverräter". Auf seinem Twitter-Account retweetet Weidner heute regelmäßig Inhalte von AfD-Accounts.
Die "RNZ", die seit Wochen investigativ zu dem Vorfall berichtet, schreibt von einem "Versuch", das Geschehen zu "verharmlosen". Und sie erwähnt, dass Thomas Strobl, baden-württembergischer Innenminister und damit oberster Dienstherr der Heidelberger Polizei, selbst Mitglied der Afrania ist – jener Studentenverbindung, dem das Opfer des mutmaßlichen Angriffs angehört.
Wie problematisch ist die Burschenschaft "Normannia"?
Die Studentenverbindung "Burschenschaft Normannia zu Heidelberg", so der volle Name, wurde 1890 gegründet. Sie ist eine sogenannte pflichtschlagende Burschenschaft: Das heißt, ihre Mitglieder müssen die Mensur durchführen, streng reglementierte Fechtkämpfe.
Die "RNZ" schreibt, die Normannia habe "seit Jahren Verbindungen zu Rechtsextremen" – und bezieht sich unter anderem auf ein geplantes Treffen bei der Normannia, zu dem 2004 NPD-Politiker Karl Nier, der wegen Volksverhetzung verurteilte rechtsextreme Politiker Karl Richter und der österreichische rechte Verschwörungsideologe Gerhoch Reisegger anreisen sollten. Laut "Heidelberg 24" wurde in den vergangenen Jahren vor dem Sitz der Normannia in der Villa Stückgarten außerdem die schwarz-weiß-rote Reichsflagge gehisst.
Das prominenteste Mitglied der Normannia war wohl Gustav Stresemann, nationalkonservativer Außenminister in der Weimarer Republik. Der Burschenschaft gehörte der NS-Kriegsverbrecher August Hirt an, der später in einem Konzentrationslager Häftlinge mit dem chemischen Kampfstoff Senfgas quälte. Heute gehört zu den "Alten Herren", also den früheren Mitgliedern der Normannia-Studentengruppe, der AfD-Bundestagsabgeordnete Christian Wirth.
Für Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg, ist die Normannia "eindeutig rechtsradikal". Blume spricht gegenüber watson außerdem von "Personen in Polizeigewerkschaften, Justiz und Politik", die zu den "Alten Herren" der Normannia gehörten. Er habe die Liste mit diesen Namen an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Blume weiter:
"Ich frage mich ernsthaft, warum diese Burschenschaft und ihr Dachverband nicht seit Jahren Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes sind."
In den vergangenen Monaten wurde laut "RNZ" (die sich auf Informationen der Staatsanwaltschaft beruft) gegen mehrere Normannia-Mitglieder ermittelt: Ein Mitglied wurde (bisher noch nicht rechtskräftig) verurteilt, weil es ein Mitglied einer anderen Verbindung 2019 antisemitisch beleidigt und dann geschlagen haben soll, gegen ein anderes Mitglied wurde wegen Zeigens des Hitlergrußes ermittelt. Die Ermittlungen wurden aber eingestellt.
Frank Kimmerle, der heute Alter Herr der Nürnberger Studentenverbindung "Franko-Alemannia" ist, will mangels persönlicher Kontakte kein pauschales Urteil über die Normannia abgeben. Er hält der Burschenschaft zugute, dass sie ihre Aktivitas aufgelöst hat. Das spreche eher gegen die These, dass die Normannia "durchweg von rechten Mitgliedern" besetzt sei. Aber sie scheine immerhin "Aktive anzuziehen, die man einem rechten Spektrum zuordnen würde".
Katholische Studentenverbindungen bei einer Fronleichnamsprozession in Tübingen.Bild: imago stock&people / Ulmer
Wie groß ist das Rechtsextremismus-Problem bei Burschenschaften?
An dieser Frage arbeiten sich seit Jahrzehnten Wissenschaftler und Journalisten ab. Manche linke bis linksradikale Parteien und Organisationen unterstellen Studentenverbindungen immer wieder pauschal, rechtsradikal oder zumindest offen für politisch Rechte zu sein.
Um das Problem zu verstehen, sind zwei grundsätzliche Fakten wichtig:
Es gibt ganz verschiedene Studentenverbindungen. 1500 bis 2200 sind es im deutschen Sprachraum: Darunter sind Verbindungen unterschiedlicher politischer Prägung – und viele, die darauf Wert legen, politisch neutral zu sein. Nur ein Teil der Verbindungen führt Mensuren, also Fechtkämpfe, durch, verpflichtend sind sie bei noch weniger Verbindungen. Und nur ein Teil der Verbindungen ist "farbentragend", sie treten also in der Öffentlichkeit mit Mützen oder Bändern in den Farben der Verbindung auf. Viele Verbindungen bekennen sich explizit zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zu Weltoffenheit und Toleranz. Nur circa 300 der Verbindungen nennen sich überhaupt "Burschenschaft". Mitglieder von Burschenschaften und anderen Studentenverbindungen gibt es in mehreren demokratischen Parteien. Unter anderem hat die SPD mit dem "Lassalle-Kreis" ein "Netzwerk korporierter Genossinnen und Genossen", also von Parteimitgliedern, die einer Studentenverbindung angehören.
Als problematisch gilt vor allem der Verband "Deutsche Burschenschaft" (DB). Die DB hat in den vergangenen Jahren deutlich an Einfluss unter den Burschenschaften verloren. 2008 gehörten der DB noch 123 Burschenschaften an, derzeit sind es laut der DB-Website nur noch 66, eine davon ist die Normannia Heidelberg. Der Abstieg der DB hat viel mit politischen Richtungskämpfen zu tun – und vor allem mit dem Verhältnis zu radikal rechten bis rechtsextremen Positionen. Aufsehen erregte unter anderem 2011 der Fall eines chinesischstämmigen Burschenschafters, der von einem Burschentreffen ausgeschlossen werden sollte. Ein Alter Herr einer Münchner DB-Burschenschaft hetzte gegen ihn, weil er "kein Arier" sei – ein klarer Bezug auf das wahnhaft-rassistische Weltbild der Nazis. Allerdings haben Bundesregierung und Bundesamt für Verfassungsschutz bisher mehrfach erklärt, ihre Erkenntnisse reichten noch nicht aus, um die DB beobachten zu lassen.
Für den baden-württembergischen Antisemitismus-Beauftragten Michael Blume hingegen ist die DB ein "rechtsextremer Dachverband", der klar in einer "rassistischen und antisemitischen Tradition" stehe.
Wer Mitglieder in einer DB-Burschenschaft sei, habe im Staatsdienst "nichts verloren", sagt Blume in der aktuellen Folge seines Podcasts "Verschwörungsfragen".
Das langjährige Verbindungsmitglied Kimmerle will auch zur DB kein pauschales Urteil fällen. Er sagt aber auch: "Rechtslastigkeit lässt sich aber nicht abstreiten. Ich persönlich würde mich da nicht wiederfinden."
Wie viel Einfluss haben rechte Burschenschaften heute?
Politisch rechtsaußen sind DB-Burschenschaften heute einflussreich. Neben dem Normannia-Heidelberg-Mitglied und AfD-Bundestagsabgeordneten Christian Wirth sind mehrere wichtige AfD-Politiker und -Mitarbeiter Mitglieder einer DB-Burschenschaft, unter anderem der baden-württembergische AfD-Rechtsaußen Dubravko Mandic und Torben Braga, Pressesprecher des Thüringer AfD-Landesverbands um Björn Höcke.
Die Politologin Alexandra Kurth sagte 2017 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: "Die AfD ist ein großer Arbeitsmarkt für Burschenschaftler."
In Österreich sind die Verbindungen zwischen rechten Burschenschaften und der rechtspopulistischen FPÖ noch enger: Während der Regierungsbeteiligung der FPÖ zwischen 2018 und 2019 kamen mehrere ehemalige Burschenschafter durch Regierungsentscheidungen an wichtige öffentliche Posten.
In einem sind sich die meisten Beobachter von Studentenverbindungen und Burschenschaften einig: Die Deutsche Burschenschaft ist längst nicht mehr repräsentativ, nicht für die meisten Burschenschaften und erst recht nicht für die noch buntere Szene der Studentenverbindungen. Gerade Burschenschaften, zu deren Mitglieder hochrangige Politiker gehören, hätten die DB verlassen, steht in einer Analyse der FAZ von 2014.
Kimmerle sagt zur Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus bei Burschenschaften: "Meiner eigenen Wahrnehmung nach sind Burschenschaften nicht rassistischer oder antisemitischer als der Rest der Gesellschaft."
Auch der Antisemitismus-Beauftragte Blume spricht sich gegen Verallgemeinerungen aus. Er sei selbst dankbar, "dass nicht-extremistische Burschenschaften und Verbindungen" ihn schon oft eingeladen hätten. Für Studentenverbindungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung müsse in einer Demokratie Platz sein.
Blume sieht die Grenze aber dann überschritten, wenn Mitglieder aufgrund ihrer Abstammung ausgeschlossen würden. Und, wenn es zu "Ritualen gegenseitiger Demütigung und Gewalt" komme.
Robert Habeck (Grüne) im Porträt: Ehefrau, Kinder, Gehalt und Kanzler-Ambitionen
Robert Habeck ist wohl eine der einprägsamsten Figuren der Politiklandschaft Deutschlands. Seit Dezember 2021 ist er Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz sowie Vizekanzler der Bundesrepublik. Als Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen hat er sich einen Namen als pragmatischer und kommunikationsstarker Politiker gemacht.