Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Mitte 2021 berichtet das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR in seinem Bericht "Mid-Year-Trends 2021" von weltweit mehr als 84 Millionen Schutzsuchenden. Dabei sind die Anzahl der Menschen in Geflüchtetenlagern und die jener, die aktuell auf der Flucht sind, zusammengerechnet.
Während die Omikron-Welle die Welt überrollt und ein Land nach dem anderem seine Corona-Maßnahmen verschärft, sind Menschen auf Fluchtrouten auf sich allein gestellt.
Aktivistinnen und Aktivisten unterschiedlicher Hilfsorganisationen berichten in Gesprächen mit watson, dass die Pandemie vor allem in der akuten Notsituation – etwa, wenn es darum gehe, Menschen mit Erfrierungen zu behandeln – keine Rolle spiele.
Wie weit fortgeschritten die Verbreitung des Coronavirus bei Menschen auf der Flucht ist, lässt sich laut UNHCR schwer sagen. Lediglich in Lagern oder Camps könne man teilweise Daten sammeln, sagt ein Sprecher auf Anfrage von watson.
Da in den Geflüchtetenlagern die Menschen meist jünger seien – laut UNHCR sind rund 40 Prozent dort minderjährig –, sei die Gefahr schwerer Covid-19-Verläufe nicht sehr hoch, teilt der UNHCR-Sprecher watson mit.
Insgesamt sei die Corona-Versorgung vor allem in Lagern, die von Organisationen betreut werden, relativ stabil. "Nicht perfekt, aber stabil", sagt der Sprecher. Ein Augenmerk sollte laut UNHCR auf Internierungslager – vor allem in Libyen – gelegt werden. Geflüchtete, die diesen entkommen sind, berichteten von Misshandlungen, Vergewaltigungen, Tötungen. Hygienestandards gebe es dort quasi keine, eine medizinische Versorgung sei nicht gegeben.
"Es ist eine Schande, was in libyschen Internierungslagern passiert", erklärt der UNHCR-Sprecher. "Das ist unzumutbar. Wir versuchen natürlich, die Menschen da herauszuholen. Allerdings gelingt uns das nicht im großen Stil." Rund 500 Menschen pro Jahr könne das UNHCR aus diesen Lagern holen, die entweder von libyschen Behörden oder von lokalen Milizenführern betrieben werden. Zehntausende befinden sich aktuell dort.
In Lagern in Europa sei die Lage deutlich besser, heißt es vom UNHCR.
In Griechenland gibt es neben dem Behelfslager, das nach dem verheerenden Brand im Camp Moria auf der Insel Lesbos in Betrieb genommen wurde, noch ein Camp auf der Insel Samos und seit November zwei neue "geschlossene" Anlagen auf den Inseln Leros und Kos. Auch in der Hauptstadt Athen gibt es mehrere Unterkünfte.
Laut UNHCR befinden sich momentan nur noch wenige Tausende Menschen dort in den Lagern. Die Situation sei deshalb entspannter als noch im Januar 2021, als die Camps teilweise drei- bis vierfach überbelegt waren. Auch Test- und Quarantäneeinrichtungen gebe es genügend in den Lagern. Zahlen zu bestätigten Corona-Fällen kann der Sprecher allerdings nicht nennen.
Politiker und Aktivisten zeichnen ein ganz anderes Bild. Der Grünen-Politiker Erik Marquardt und Patrick Münz, der für die Organisation "Leave No One Behind" auf Lesbos arbeitet, berichten von menschenunwürdigen Zuständen, kaum Schutzkleidung wie Masken für Geflüchtete, von Quarantäneeinrichtungen und -bestimmungen, die Migrantinnen und Migranten fast überhaupt nicht vor dem Virus schützen.
Laut Patrick Münz ist die Quarantäne-Situation in dem Behelfslager auf Lesbos besonders tragisch. "Die Quarantäne Area im Camp ist voll, da ist Platz für 100 Menschen und letzte Woche waren 94 Menschen drin. Man steckt Leute, die positiv sind, mit den Kontaktpersonen von positiven Leuten und Neuankömmlinge zusammen in einen Bereich. Sie werden also durchseucht", teilt Münz, der sich seit Oktober 2020 auf Lesbos befindet, watson mit.
Auch die Bedingungen, unter denen Menschen dort in Quarantäne bleiben müssten, seien nicht tragbar: "Es gibt keinen Strom, kein heißes Wasser, keine Heizung. Es gibt zwei Dixi-Toiletten für 100 Leute, egal ob körperlich beeinträchtigt oder nicht", sagt Münz.
Gegenüber watson fasst der Grünen-Politiker Marquardt die Lage so zusammen:
Marquardt ist Vorstand des Vereins "Civil Fleet", zu dem auch "Leave No One Behind" gehört. Noch bevor es Impfungen gab, erzählt er weiter, seien "in den überfüllten Massenlagern" auf den griechischen Inseln Infizierte mit Nicht-Infizierten Kontaktpersonen zusammen isoliert worden. Marquardt kritisiert weiter: "Aktuell haben wir auf Lesbos die Situation, dass der Quarantänebereich der schlimmste im gesamten Lager ist. Dort gibt es keinen Strom und somit keine Heizungen, obwohl die Temperaturen nachts unter den Gefrierpunkt sinken."
Weil die Menschen unter keinen Umständen in eine solche Quarantäneeinrichtung wollten, versuchten sie, die Testungen zu umgehen. Das teilt Aktivist Patrick Münz am Telefon mit. Der Abgeordnete Marquardt sagt dazu, es würden damit "gefährliche Anreize geschaffen, sich nicht testen zu lassen, weil niemand in diesen Bereich des Camps gesteckt werden möchte".
Laut Münz, dem Aktivisten vor Ort, habe sich auch die Quarantäne-Dauer verkürzt, was er als "äußerst fragwürdig" bezeichnet. Er sagt: "Früher gab es 14 Tage Quarantäne-Zeit und jetzt sind es nur noch fünf Tage. Die Leute dürfen nach fünf Tagen den Quarantänebereich verlassen, ohne getestet worden zu sein." Zudem gebe es keine geeignete Lichtquelle. "Die Menschen bekommen Tag und Nacht das grelle Licht von Strahlern ins Gesicht – das ist Psychoterror", sagt Münz.
Für die Einwohner der Insel und die Menschen im Camp gebe es außerdem unterschiedliche Regularien. Die Menschen dürften das Camp nur ein- bis zweimal pro Woche verlassen. Münz sagt: "Das wundert mich sehr, normalerweise sollten Menschen, die geboostert sind, das Camp jeden Tag verlassen dürfen."
Der Grünen-Politiker Marquardt geht so weit zu sagen, man habe Corona als Vorwand genutzt.
Gegenüber watson sagt er:
Ähnliches berichtet auch Hans-Peter Buschheuer von der humanitären Organisation "Space Eye", die mit Projekten in Griechenland (Athen, Lesbos, Samos) und Bosnien (im Flüchtlingslager Bihać) tätig ist und das Housing-Projekt "Second Life" in Regensburg betreibt. Gegenüber watson sagt er:
Längere Wartezeiten bei Asylanträgen sind laut EU-Politiker Marquardt zudem ein Nebeneffekt der Pandemie. Der schlimmste Nebeneffekt sei aber, so Marquardt, dass "im Windschatten der Pandemie EU-Länder systematische Menschenrechtsverbrechen begehen, wie man an den inzwischen sehr gut nachgewiesenen illegalen Pushbacks in Kroatien und Griechenland sehen kann". Gerade in der Krise sollte Menschen in Not geholfen werden, meint er. "Aber stattdessen werden Menschen, die nach Europa fliehen müssen, vielfach entrechtet und misshandelt."
Dabei hätten sich allein in Deutschland mehr als 280 Kommunen bereit erklärt, weitere Geflüchtete aus Lagern aufzunehmen, in der EU insgesamt seien es mehr als 600. Marquardt meint dazu: "In der EU gibt es viel Aufnahmebereitschaft, wir sollten sie endlich nutzen und wertschätzen."
Die migrationspolitische Sprecherin der CDU/CSU im EU-Parlament Lena Düpont sieht für die Corona-Vorsorge die EU-Mitgliedstaaten in der Hauptverantwortung. "Überall dort, wo die Europäische Union insgesamt unterstützt, kann sie natürlich auch die Mittel und Möglichkeiten der Prävention unterstützen", schreibt sie auf watson-Anfrage. Wichtig sei, insbesondere in Anbetracht der Omikron-Variante, dass alle die jeweiligen Corona-Vorgaben der Mitgliedsstaaten einhielten.
Viele Geflüchtetenlager und -camps werden von offiziellen Organisationen wie dem UNHCR betrieben oder organisiert. Auf seiner Website teilt das Flüchtlingskommissariat mit, man habe lebensrettende Maßnahmen zum Schutz von Geflüchteten und Binnenvertriebenen ausgeweitet. Dabei gehe es etwa um die Wasserversorgung, medizinische Hilfe und die Ausstattung mit Hygienematerial.
"Wir haben Systeme zur Beobachtung möglicher Ausbrüche aufgesetzt und Maßnahmen zur Eindämmung von Infektionen ergriffen", heißt es auf der Website. Im Bereich der humanitären Logistik führe UNHCR Lufttransporte durch und richte Isolationseinheiten ein.
Im Lager im bosnischen Bihać, das teilt Hans-Peter Buschheuer von der Organisation "Space eye" mit, herrsche allerdings ein allgemeiner Mangel an allem – auch an Impfstoffen. Nur mit Masken seien die Menschen inzwischen ausreichend versorgt.
Eine Aktivistin der Hilfsorganisation "Projekt 009" berichtet von weiteren Lagern in Österreich, Serbien, Bosnien und Griechenland. Sie spricht von schlechten Hygienestandards und fehlender beziehungsweise falscher Information.
Als sie in den Camps unterwegs war, sei Omikron zwar noch kein Thema gewesen, teilt sie watson mit. Trotzdem habe es in den Lagern ausgesehen, als gebe es kein Corona.
Sie berichtet, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner nicht an Corona glaubten, dächten, das sei eine Masche der Regierungen, um Geld zu machen. "Die Menschen tragen dann zwar in Situationen, in denen sie müssen, eine Maske – aber ernst genommen wird es meist eher nicht."
Über die Zustände im Lager im serbischen Sombor sagt die Aktivistin:
Jedes Lager, das die Aktivistin besucht habe, sei anders, in jedem Lager herrschten andere Bedingungen. Jedoch seien immer recht viele Menschen auf engem Raum untergebracht.