Vielleicht war das der letzte Tropfen. Die rassistische Beleidigung, die Boris Palmer Ende vergangener Woche in einer Facebook-Diskussion verwendet hat, könnte am Ende zur Folge haben, dass Palmer irgendwann kein Grüner mehr ist. In einem Streit um Äußerungen der früheren deutschen Nationalspieler Jens Lehmann und Dennis Aogo hatte Palmer den rassistischen Begriff in einem Facebook-Kommentar verwendet.
Wie auch immer die Sache ausgeht: Boris Palmer, Oberbürgermeister im schwäbischen Tübingen, hat wieder einmal ein Wochenende lang Politiker, Journalisten und viele andere Politikinteressierte beschäftigt. Und die Grünen in Baden-Württemberg haben auf einem Landesparteitag getan, was vor allem linke Vertreter der Partei seit Jahren fordern: Sie haben ein Ausschlussverfahren gegen Palmer auf den Weg gebracht.
Warum ist es so weit gekommen?
An Boris Palmer sind zwei Dinge eindeutig: Seit 2007 ist er Oberbürgermeister von Tübingen. Seit 1996 ist er Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Was Palmer sonst noch ist, darüber wird in ganz Deutschland gestritten – regelmäßig und heftig. Man kann es so beschreiben: Palmer, im Hauptberuf Oberbürgermeister einer der hübschesten Kleinstädte Deutschlands, ist im Nebenjob Reizfigur.
Der Punkt ist: Außerhalb Baden-Württembergs kennen die meisten ihn nur für diesen Nebenjob. Palmer erledigt ihn, indem er immer wieder Wörter und Sätze sagt, die in der politischen Diskussion so zuverlässig für Feuer sorgen wie ein angezündetes Streichholz in einem Haufen staubtrockener Papierschnitzel. Wörter und Sätze, für die Linke und Grüne ihn attackieren, für die er von Konservativen bis hin zu Rechtsradikalen Applaus bekommt.
Palmer provoziert, auf seiner persönlichen Facebook-Seite mit über 74.000 Abonnenten und in Interviews und Auftritten in redaktionellen Medien.
Drei Beispiele aus einer langen Liste von Palmereien:
Nach solchen Aussagen betont Palmer selbst immer wieder, dass er ja kein Rassist sei, sondern eher ein Linker. Dass er aber dafür kämpfe, Missstände nicht totzuschweigen, sondern sie offen anzusprechen. Politische Korrektheit, das ist eine von Palmers zentralen Ansichten, schade am Ende der Sache. Weil, meint er, Verfechter rassismus- und gendersensibler Sprache Menschen als Rassisten bezeichneten, die das nicht verdient hätten – und sie so vor den Kopf stießen.
Anfang 2020 habe ich, damals als Politikredakteur der "Schwäbischen Zeitung", Boris Palmer für ein längeres Gespräch getroffen. Wir haben uns über Politische Korrektheit gestritten, für die Episode eines Debatten-Podcasts.
Palmer sagte damals:
Er ergänzte, später im Gespräch:
Es ist das Argument, mit dem Boris Palmer auch sich selbst immer wieder verteidigt. Weil er sich dagegen sträubt, etwa zu akzeptieren, dass Schwarze und People of Color das N-Wort als so verletzend empfinden, dass weiße Menschen schon aus bloßem Anstand darauf verzichten sollten.
Er hat das auch nach der Äußerung um Dennis Aogo getan. "Natürlich wäre es wohl gescheiter gewesen, es gar nicht zu posten", meinte er gegenüber der "Bild". Er wehre sich "gegen Ausgrenzung und Denunziation". Und Palmer verwendete das Reizwort "Cancel Culture": ein Kampfbegriff, den heute Politiker von Sahra Wagenknecht bis zur AfD-Bundestagsfraktion, wenn ihnen Rassismus vorgeworfen wird. Die Erzählung dahinter: Wer Unliebsames sagt, werde "gecancelt", also entfernt, müsse um seine Reputation und seinen Job fürchten. Palmer meint, er sei ein Opfer dieser "Cancel Culture", gar ein "Paradebeispiel".
Das Gecancelt werden hat für Palmer bisher auch ähnliche Folgen wie für andere vermeintliche Opfer: Nach jedem Eklat um ihn führen "Welt" oder "Bild" Interviews mit ihm oder lassen ihn Gastbeiträge schreiben, manchmal tun es auch "Welt" und "Bild". Kein zweiter Lokalpolitiker ist so oft in großen Fernsehtalkshows wie Palmer. Seine Sachbücher schaffen es in die Bestseller-Listen, zuletzt 2019 sein "Erst die Fakten, dann die Moral".
Palmers Nebenjob als Reizfigur funktioniert – wenn man davon ausgeht, dass es ihm vor allem um Aufmerksamkeit geht.
Wahr ist an Palmer aber auch: Er ist ein beliebter und ziemlich erfolgreicher Kommunalpolitiker. Und noch dazu einer, der seine Stadt so regiert, wie es sich Grüne in Berlin-Friedrichshain kaum grüner wünschen können.
Palmer krempelt den Stadtverkehr in Tübingen um, weg vom Auto, hin zu Elektrobussen und großzügigen Radwegen. Er droht Grundstückseigentümern mit Enteignung, wenn sie keinen Wohnraum schaffen. Er hat als Oberbürgermeister auf einen Dienstwagen verzichtet – und reist stattdessen mit Bahncard 100 zu Terminen.
Palmer teilt auf seiner Facebook-Seite nicht nur Plädoyers gegen das, was er "linke Identitätspolitik" nennt – sondern streitet dort auch für mehr erneuerbare Energien und Elektromobilität.
Und, auch das sollte jeder über Boris Palmer wissen, der ihn als "Nazi" verunglimpft: Sein Vater, der 2004 verstorbene und im Südwesten Deutschlands bis heute berühmt-berüchtigte Helmut Palmer, litt als Sohn eines jüdischen Vaters massiv unter der NS-Diktatur und kämpfte zeitlebens mit verzweifelter Wut gegen Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland.
Die Sache mit Boris Palmer und den Grünen ist kompliziert. Komplizierter, als das seine Fans auf der Rechten und seine erbitterten Gegner auf der Linken wahrhaben wollen. Die wichtigste Frage für seine Partei ist gerade, wie sich die Aufregung um den bekanntesten grünen Kommunalpolitiker Deutschlands auf den Bundestagswahlkampf auswirken wird. Denn bisher inszenieren sich die Grünen ja als seriöse, harmonische neue Volkspartei, der die Deutschen vertrauen können.
Am Montag will sich keine und keiner aus der ersten Riege der Partei mehr zu Palmer äußern. "Es ist alles dazu gesagt", so oder so ähnlich klingen die Antworten gegenüber watson auf entsprechende Anfragen. Annalena Baerbock, die Ko-Parteichefin und Kanzlerkandidatin hat sich schon am Wochenende geäußert, unmissverständlich, auf Twitter. Palmer habe "unsere politische Unterstützung verloren", seine Äußerung zu Aogo sei "rassistisch und abstoßend", meinte Baerbock.
Die Botschaft dahinter: Die Chefin sagt etwas dazu. Damit ist das Wesentliche gesagt.
Die Grünen werden hoffen, dass das reicht. Denn Palmer mag zwar einerseits ein Provokateur sein, der aus dem regelmäßigen Streit mit seiner eigenen Partei eine Art politisches Geschäftsmodell gemacht hat, ein bisschen wie Sahra Wagenknecht mit der Linkspartei. Andererseits ist Palmer ein Politiker, der es in seiner Heimatregion so gut wie nur ein anderer geschafft hat, konservative Wähler für die Grünen zu erwärmen. Der andere, das ist Winfried Kretschmann, der baden-württembergische Ministerpräsident.
Und der Streit um Palmer könnte, wenn er weiter schwelt, doch wieder verdeutlichen, dass durch die Grünen Risse gehen. Risse zwischen den Palmer-und-Kretschmann-Grünen und den linken Grünen wie Claudia Roth und Anton Hofreiter, die in Berlin-Prenzlauer Berg und München-Haidhausen den lautesten Applaus bekommen. Risse, die das Umfragehoch und der Hype um die Kanzlerkandidatin Baerbock momentan zukitten. Die aber irgendwann wieder aufbrechen werden.
Ein Partei-Ausschlussverfahren kann dauern. Die SPD hat sich jahrelang durch mehrere Gerichtsverfahren kämpfen müssen, bis Thilo Sarrazin wegen seiner islamfeindlichen und rassistischen Bücher sein Parteibuch abgeben musste.
Boris Palmer hat schon angekündigt, dass er sich verteidigen wird.