An der Grenze zwischen den zentralasiatischen Staaten Kirgistan und Tadschikistan kam es zu gewaltsamen Gefechten mit zahlreichen Toten.Bild: IMAGO / SNA / Igor Yegorov
Analyse
Wilde Pferde auf endlosen Steppen. Gletscherseen und Berge. Schafe und Hütten. Starbucks und Hochhäuser. Unzählige Sprachen, Kulturen und Menschen.
Zentralasien.
Für viele Deutsche ist es eine unbekannte Region. Postsowjetunion. Alles dasselbe. Diese zentralasiatischen Staaten, die auf "stan" enden: Turkmenistan, Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan. Doch seit dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine bewegt sich etwas in Zentralasien.
Etwas, das Europa nicht übersehen sollte.
Ein neuer bewaffneter Grenzkonflikt. Zwischen Tadschikistan und dem Nachbarland Kirgistan. Der Zentralasien-Experte Temur Umarov meint gegenüber watson, die Kämpfe seien diesmal mehr als "nur" ein Grenzkonflikt – aber von vorn.
Ein neuer Wind in Putins Hinterhof Zentralasien
Nach dem Zerfall der Sowjetunion galten zentralasiatische Staaten als Verbündete Russlands. Die Länder teilten das sowjetische Erbe, die Sicherheitskooperation, den autoritären Regierungsstil und die Furcht vor "Aufständen der Bevölkerung gegen die Regime". Der russische Präsident Wladimir Putin hegt enge Beziehungen zu den Staaten Zentralasiens.
Russland sieht sich als Schirmherr der Region – noch immer als der "große Bruder". Doch Putins völkerrechtswidriger Krieg gegen die Ukraine hat die Dynamik in der Region verändert.
Kasachstan bewegt sich hin zu China und weg von Russland
Die ressourcenreichen Staaten wie Kasachstan testen aus, wie weit sie sich jetzt von dem geschwächten und isolierten Russland entfernen können. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew handelt offen gegen Putins Interessen und nähert sich dem chinesischen Staatschef Xi Jinping an, um sich von Putins Abhängigkeit zu lösen – wirtschaftlich sowie militärisch. China nutzt die Gunst der Stunde und festigt seine Beziehung zu Kasachstan. Schließlich ist Zentralasien für die aufstrebende Wirtschaftsmacht China ein wichtiges Transitgebiet für die globalen Warenströme nach Europa.
Die ärmeren Staaten wie Tadschikistan unterliegen weiterhin dem russischen Druck, weil sie unter anderem von Energielieferungen abhängig sind. Der tadschikische Präsident Emomalij Rahmon führt sein Land mit eiserner Hand und gilt als enger Verbündeter Putins.
Kirgisische Soldaten tragen einen Sarg mit einem verstorbenen Kameraden. Bild: AP / Danil Usmanov
Tote und Flüchtende an der Grenze
Bereits im April 2021 brachen Kämpfe um Gebiete an der Grenze zwischen den postsowjetischen Ländern aus. Nun flammten sie erneut am 14. September auf. Nach offiziellen Angaben sind auf kirgisischer Seite mindestens 59 Menschen getötet und 164 verletzt worden. Aus dem Krisengebiet in der Provinz Batken sind demnach 136.000 Menschen geflüchtet. Tadschikistan meldete 41 Tote, darunter wohl auch Kinder und Frauen.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren streiten die beiden Hochgebirgsländer an zahlreichen Stellen über den Verlauf ihrer rund 1000 Kilometer langen Grenze.
Nach sechs Tagen heftiger Gefechte haben die zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken am Montag eine Waffenruhe vereinbart.
Kirgisische Flüchtlinge verlassen die kirgisisch-tadschikische Grenze nach schweren Gefechten.Bild: AP / Danil Usmanov
Und diesmal, sagt Experte Umarov gegenüber watson, ist etwas anders als früher: "Damals gingen diese Konflikte direkt von den Bewohnern an den Grenzen aus. Das Militär griff ein, um die Lage zu stabilisieren. Doch diesmal gingen die Kämpfe direkt vom Militär aus und eskalierte sehr schnell."
Schwere Waffen wie Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Mörser. Raketenwerfer auf tadschikischer Seite – "das ist kein üblicher Grenzkonflikt mehr", meint der Experte, der bei der "Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden" forscht.
Doch wer hat den ersten Schuss auf das Nachbarland abgefeuert?
Tadschikistan und Kirgistan geben sich gegenseitig die Schuld
Die Frage, wer diese Kämpfe begonnen hat, ist laut Umarov schwer zu beantworten. "Tadschikistan wirkt selbstbewusster und vorbereitet. In nur wenigen Tagen hat das Land schwere Geschütze an der Grenze mobilisiert." Kirgistan habe überrascht reagiert. Das könnte darauf hinweisen, dass der Konflikt von Tadschikistan ausgegangen ist. Aber das seien nur Vermutungen.
Dazu kommt, dass Kirgistan dem Experten zufolge keine Gründe habe, einen Konflikt mit Tadschikistan zu beginnen. So liegen die Gebiete, die Tadschikistan für sich beansprucht, auf kirgisischer Seite. Interessant ist auch, dass Kirgistan das einzige halbwegs demokratische Land in Zentralasien ist.
Wladimir Putin und der Präsident von Tadschikistan Emomalij Rahmon sind enge Verbündete.Bild: AP / Sergei Bobylev
Mehrere Nichtregierungsorganisationen agieren dort – auch entgegen Putins Interessen. Allerdings schwimmt das Land in einer uferlosen Korruption, die keine Regierung seit der Unabhängigkeit 1991 in den Griff bekommen hat. Der Machtmissbrauch und eine weit verbreitete Armut lösen immer wieder Unruhen im Land aus.
Emomalij Rahmon herrscht seit nun zwei Jahrzehnten über die Republik Tadschikistan im Stile seines autokratischen Freundes Putins. Von Demokratie ist keine Spur – im Gegenteil, es entwickelt sich mehr zu einem diktatorischen Überwachungsstaat – ohne jegliche Pressefreiheit.
"Im Falle eines Krieges zwischen diesen beiden zentralasiatischen Länder würde Russland Tadschikistan beistehen", erklärt Umarov. Kasachstan würde wohl Kirgistan unterstützen. Dabei gehören all diese Länder einem gemeinsamen Militärbündnis an.
Schwaches Bündnis mit Putin
Beide Länder sind Teil der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Das ist ein Militärbündnis, das seit 1992 von Russland angeführt wird. Die Situation zeigt laut Umarov erneut, dass dieses Bündnis ein zahnloser Tiger ist. Die Mitglieder nehmen die Aufgaben und Verantwortungen der OVKS nicht ernst, um etwa Konflikte zu lösen.
"Die OVKS ist ein schwaches Bündnis", meint Umarov. Nur Kasachstan sei nicht in einen Konflikt mit einem anderen OVKS-Mitglied verwickelt. Das sage alles über diese Organisation aus. "Es ist eine rein politische Allianz", meint Umarov. Dennoch geht er nicht davon aus, dass sich der Konflikt zu einem Krieg entwickelt.
Russland führt das Militärbündnis "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) an.Bild: IMAGO/ITAR-TASS / Gavriil Grigorov
Friedensabkommen zwischen Kirgistan und Tadschikistan?
Nun ist der bewaffnete Konflikt erst einmal beigelegt. Truppen und schwere Waffen sollten von der Grenze abgezogen werden, hieß es. Die Lage in der kirgisischen Grenzregion Batken stabilisiere sich allmählich, sagte der Leiter des Staatskomitees für nationale Sicherheit, Kamytschbek Taschijew.
Sein Gegenüber aus Tadschikistan, Sajmumin Jatimow, sagte: "Wir sind überzeugt, dass jetzt echter Frieden einkehrt an unseren Staatsgrenzen." Ihr Treffen fand an der Grenzübergangsstelle Guliston statt.
Umarov steht diesem Friedensabkommen skeptisch gegenüber. Die Chancen, dass der Konflikt erneut entfacht, sieht er als hoch an.
(mit Material der dpa)