"Wir sind die Töchter": Warum Merz jetzt (mal wieder) Frauen gegen sich aufbringt
Wir wollten eigentlich schweigen. Wollten wir wirklich. Als Bundeskanzler Friedrich Merz in der vergangenen Woche eine Debatte über das deutsche Stadtbild angestoßen hat, welches angeblich "immer noch dieses Problem" (gemeint ist Migration) habe, versuchten wir mit aller Kraft, uns nicht von der populistischen Debatte der Union vereinnahmen zu lassen.
Aber wenn ein Mann, der kein Gesetz gegen Vergewaltigung in der Ehe wollte, ein Abtreibungsverbot gutheißt und der davon spricht, dass homosexuelle Personen sich ihm bloß nicht "nähern" sollen, vorgibt, ein Frauenversteher zu sein, kann einem wirklich nur – um es mit den Worten eines alten weißen Mannes zu sagen – die Hutschnur platzen.
Nicht zum ersten Mal nutzt Friedrich Merz Flinta-Personen (wobei er natürlich den Ausdruck Frauen bevorzugt) aktiv für seine populistische Agenda. "Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort", erklärte der Kanzler am Montag vor Journalist:innen, erneut angesprochen auf seine umstrittene Stadtbild-Aussage.
Friedrich Merz spricht "Töchter" an: Die wehren sich
Dass Merz sich dabei einmal mehr vor einer faktenbasierten Begründung für seine steile These wegduckt, ist die eine Sache. Die andere ist, dass er für eine Personengruppe spricht, die ihn zu großen Teilen nicht gewählt hat – und zu noch größeren Teilen nicht hinter seiner Argumentation stehen dürfte.
Nur wenige Stunden nach der besagten Pressekonferenz fanden sich die ersten Reaktionen auf die Kanzler-Aussagen bei Social Media. "Ich bin eine Tochter" verbreitete sich am Montag geradezu als Catchphrase des Tages. Dutzende Nutzerinnen erklärten unter diesem Satz, warum das von Merz verbreitete Narrativ nicht ihrer Realität entspricht.
"Wie können Sie es wagen, für die Töchter dieses Landes zu sprechen?", sagt die Sängerin Boviy in einem Video. "Wenn Sie mich und meine Schwestern fragen, wer nicht in unser Stadtbild passt, dann sind das sexistische und chauvinistische Männer wie Sie."
"Vielleicht haben 'die Töchter' auch keinen Bock mehr darauf, dass ihre Rechte und ihre Sicherheit für Friedrich Merz immer genau dann von Bedeutung sind, wenn er sie nutzen kann, um seine vollkommen rückwärtsgewandte Politik zu rechtfertigen?", legt Grünen-Politikerin Ricarda Lang nach.
Aktionsbündnis ruft zu Demonstration vor CDU-Parteizentrale auf
Für Dienstag haben mehrere Aktivist:innen gemeinsam mit dem Bündnis "Zusammen gegen Rechts" dazu aufgerufen, vor der CDU-Parteizentrale in Berlin gegen die Aussagen von Merz zu demonstrieren. Der entsprechende Post hat bereits knapp 24.000 Likes.
"Wenn uns Friedrich Merz so kommt, dann kommen wir zurück", verkündete Klimaaktivistin Luisa Neubauer dazu am Montagabend auf Instagram. Auf einigen Kacheln finden sich sogar schon Ausdrücke wie "Nicht mein Kanzler".
Mittlerweile bekommt Merz sogar aus der eigenen Partei Gegenwind – oder sagen wir, eine leichte Brise von Kritik. Im ZDF-"heute-journal" etwa riet Manuel Hagel, CDU-Landeschef in Baden-Württemberg, dazu, die Schuld eher bei strukturellen Problemen und nicht bei einzelnen Personengruppen zu suchen. "Und deshalb rate ich da sehr, verbal etwas abzurüsten und sehr differenziert in dieser Debatte auch vorzugehen", erklärte er.
Sicherheit von Frauen: Merz lenkt vom eigentlichen Problem ab
Auch wenn die Ausführungen des Unionspolitikers ansonsten argumentativ ebenso blass sind wie die des Kanzlers, trifft er damit den Nagel auf den Kopf. Denn indem der Kanzler die Debatte am Montag noch einmal befeuert, lenkt er weiter vom eigentlichen Thema ab.
Wenn Deutschland sich tatsächlich konstruktive Gedanken über die Fehler im Stadtbild machen würde, wäre das grandios. Stattdessen aber müssen sich Flinta-Personen gerade wirklich hinstellen und noch einmal erklären, dass eben nicht Migrant:innen das Problem sind, sondern, na ja, Männer.
Diese Erkenntnis ist bei Weitem nichts Neues. Am häufigsten erleben weibliche Personen Gewalt noch immer zu Hause. Das Bundeskriminalamt registrierte im Jahr 2023 insgesamt 180.715 weibliche Opfer im Deliktsfeld "häusliche Gewalt". Zum Vergleich: Im Rahmen von Sexualstraftaten wurden 52.330 weibliche Opfer erfasst.
"Als Töchter wissen wir: Der gefährlichste Ort für eine Frau in Deutschland ist das eigene Zuhause, Herr Bundeskanzler", schreibt entsprechend auch der Deutsche Frauenrat und verweist auch nochmal auf die Zahlen zu Femiziden in Deutschland: Jeden zweiten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner getötet.
Auch dass weibliche Personen offensichtliche Gründe haben, vor männlichen Migranten Angst zu haben, ist faktisch einfach falsch. Das BKA zeigt in einer Sonderauswertung "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung", dass jeder achte Tatverdächtige bei Sexualdelikten eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit hat. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet, hat sich diese Zahl zuletzt nicht erhöht.
Dass wir jetzt wirklich wieder bei dieser Debatte angekommen sind, ist ermüdend und traurig. Dass Merz mit einer einzigen Debatte nicht nur eine, sondern gleich zwei marginalisierte Gruppen übergeht, ist geradezu rekordverdächtig.
Merz und Femonationalismus: ein feiger Weg des Populismus
"Wer rechte Narrative selbst verbreitet, ist nicht besser als die AfD und stärkt sie weiter", schreibt die Autorin Terese Bücker am Montag auf Instagram. "Merz ist als Kanzler nicht geeignet, um rechtsextreme Einstellungen zu bekämpfen. Er fördert sie."
In diesem Zusammenhang verweist sie auch auf den Begriff des Femonationalismus, begründet durch die Soziologin Sara R. Farris. Darunter versteht sie den Versuch, "feministische Ideale für Kampagnen gegen Migranten und Migrantinnen und gegen den Islam zu vereinnahmen". Diese Strategie wird demnach vor allem von rechten Parteien angewandt (surprise).
Das Problem daran: Klammheimlich versucht Merz, sich und seiner Union mit diesem Narrativ die Deutungshoheit zu sichern. In etlichen Familien wird nun wohl wieder die Diskussion geführt, dass es "schon ein bisschen problematisch ist", dass Gruppen vermeintlich migrantischer Männer in unseren Innenstädten abhängen.
Dass die Union nichts für die knappen Kassen der Kommunen und noch weniger für Flinta-Personen macht, gerät dabei schnell aus dem Blickfeld. Und solange das so ist, sorry Herr Bundeskanzler, können und wollen wir nicht schweigen. Egal wie oft Sie versuchen, unsere Sicherheit für Ihre Politik zu instrumentalisieren.