Es war für Milliarden Menschen das Jahr der Selbstisolation, das Jahr des erzwungenen Zuhause-Bleibens, das Jahr ohne Auslandsreisen und fast ohne Nachtleben. Für Millionen war es das Jahr, in dem sie einen Menschen an die Krankheit Covid-19 verloren haben. So schlimm wie 2020, da sind sich Menschen von New York bis Neu-Ulm einig, war es seit Jahrzehnten nicht mehr. In Argentinien hat das Weingut Bodega Dante Robino dem Jahr einen Sekt gewidmet, der unter dem Namen "2020 LPQTP" auf den Markt kommt – das Buchstabenkürzel steht für "La Puta Que Te Parió", zu Deutsch "Die Hure, die Dich auf die Welt gebracht hat".
In Wahrheit war 2020 besser als sein Ruf.
Das macht die Tragödien dieses Jahres nicht wett: nicht die über 30.000 Corona-Toten allein in Deutschland, nicht die Überlastung von Ärztinnen und Krankenpflegern, nicht das rassistische Attentat von Hanau, die Ermordung von George Floyd und anderen Afroamerikanern.
Aber 2020 war eben nicht nur schrecklich. Es war auch ein Jahr, in dem einiges passiert ist, das Hoffnung für die Zukunft macht: in der europäischen Politik, beim friedlichen Kampf von Demokratinnen und Demokraten gegen die Feinde der offenen Gesellschaft, bei den Anstrengungen gegen den Klimawandel. Und ja, auch im Umgang mit dem Coronavirus gibt es Erfolge, die fast schon atemberaubend sind.
Es dauert üblicherweise Jahre, bis Forscher einen Impfstoff gegen ein neues Virus entwickelt haben, manchmal sogar Jahrzehnte. Beim Coronavirus Sars-Cov-2 waren es nur wenige Monate. Am 9. Januar 2020 bestätigte die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass hinter dutzenden mysteriösen Lungenerkrankungen in der chinesischen Stadt Wuhan ein neues Coronavirus steckt. Gut 10 Monate später, am 18. November, kündigten die Unternehmen Pfizer und Biontech an, dass sie die klinischen Studien zu ihrem Impfstoff abgeschlossen hatten. Weitere Hersteller haben seither ihre Stoffe angekündigt. Es ist atemberaubend schnell gegangen – und nach bisherigen Erkenntnissen ohne bei den üblichen Qualitätsstandards Abstriche zu machen.
Der britische Medizinprofessor Adam Finn hat in einem Artikel für den "Guardian" erklärt, warum das geklappt hat. Er nennt unter anderem, dass die genetische Sequenz des Coronavirus schnell isoliert veröffentlicht wurde, dass außergewöhnliche viele Freiwillige sich an Impfstoff-Tests beteiligt haben – und dass die Zulassungsbehörden anders als bei früheren Impfstoffen das schneller "Rolling Review"-Verfahren genutzt haben. Kurz gesagt: Dass die Impfstoffe in Rekordgeschwindigkeit entwickelt wurden, ist ein Erfolg der internationalen Zusammenarbeit, des Gemeinschaftssinns und des wissenschaftlichen Fortschritts.
Klar, auch die Wissenschaftsfeinde und Verschwörungsschwurbler hatten ihre großen Auftritte in diesem Jahr: die Großdemo am 29. August in Berlin etwa, bei der hunderte Menschen auf die Treppe des Reichstagsgebäudes stürmten. Aber Schwurbler-Bewegungen, die hinter allem Übel der Welt eine riesige Verschwörung vermuten, gibt es seit Jahrhunderten. Und wer glaubt, dass Menschen vor 40 oder 20 Jahren allgemein aufgeklärter mit wissenschaftlichen Fakten umgegangen sind, der kann ja mal nachschauen, wie sich viele Deutsche in der angeblich achsoguten alten Zeit gegen die Anschnallpflicht in Autos gewehrt haben – oder gegen ein Rauchverbot in Lokalen.
Die Auftritte der Corona-Schwurbler waren laut und schrill, über Social Media und Messenger konnten sie zehntausende für Demos mobilisieren – aber sie waren immer in der Minderheit.
Die Bewegung hinter den Corona-Demos zerfällt gerade – Teile von ihr werden wohl trotzdem (oder gerade deshalb) gefährlich bleiben. Ihr Einfluss auf die breite Masse der Bevölkerung ist aber in Deutschland, im Gegensatz etwa zu den USA und Brasilien, erfreulich gering geblieben. Die Zustimmung zu Einschränkungen gegen die Pandemie lag in Deutschland immer weit über 50 Prozent, im Dezember forderten laut der repräsentativen Umfrage für das ZDF-"Politbarometer" sogar 49 Prozent härtere Maßnahmen.
Wie die Verhältnisse aussahen, konnte man übrigens auch Ende August, bei der Großdemo in Berlin, bildhaft sehen. Auf der Friedrichstraße tummelten sich tausende Verschwörungsgläubige aus ganz Europa. Ein paar Meter weiter, in der S-Bahn, saßen die Menschen wie immer ruhig auf ihren Plätzen, fast alle bedeckten Mund und Nase.
2020, das war für die Historikerin Hedwig Richter ein Jahr, in dem die allermeisten Menschen in Deutschland der Vernunft gefolgt sind. Richter forscht und lehrt an der Universität der Bundeswehr in München unter anderem zur Geschichte der Demokratie. Ihr Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre." war eines der am lautesten gelobten Sachbücher des Jahres. Richter sagt gegenüber watson über das vermeintliche Horror-Jahr 2020:
20 Tage lang wird Donald Trump im neuen Jahr noch Präsident der USA sein. Dann legt Joe Biden seinen Amtseid ab. Trump hat die US-Präsidentschaftswahl 2020 dann doch ziemlich deutlich verloren: mit 232 zu 306 Wahlleute-Stimmen. Für Biden haben sich sieben Millionen US-Amerikaner mehr entschieden als für Trump. Die Versuche Trumps und seiner Verbündeten, nach dem Wahltag das Wahlergebnis noch zu kippen, sind bisher peinlich gescheitert. Seine Macht schmilzt, Tag für Tag.
Für alle, denen die Demokratie am Herzen liegt, sind das gute Nachrichten. Trump, das Idol der rechten Populisten von Brasilia bis Berlin, verliert seine Macht. Und bei allen Problemen, die die USA haben – von Waffengewalt über soziale Ungerechtigkeit bis zu strukturellem Rassismus: die Rädchen, die die Demokratie am Laufen halten, haben funktioniert. Wahlhelfer haben ihre Stimmen ausgezählt, Bundesstaaten, demokratisch wie republikanisch regierte, haben die Ergebnisse anerkannt – trotz Morddrohungen durch Verschwörungsgläubige und Druck vom Oberschwurbler-in-Chief aus dem Weißen Haus.
In Deutschland liegt die rechtspopulistische AfD in den wichtigsten Umfragen drei bis fünf Prozent unter den Werten von Ende 2019 – und das trotz des heftigsten Wirtschaftseinbruchs seit Jahrzehnten.
Trump und sein rechtspopulistischer Kumpel im brasilianischen Präsidentenamt Jair Bolsonaro haben im Umgang mit der Corona-Pandemie versagt – obwohl starke und selbstbewusste Regierungen in Krisensituationen doch eigentlich auftrumpfen könnten. Viel besser haben es demokratische Regierungen hinbekommen, die ihre Bürger ernst genommen und Fehler korrigiert haben: Neuseeland, Südkorea, Taiwan etwa – und, zumindest bis in den Spätherbst, Deutschland.
Im Schatten von Corona sind andere wichtige gesellschaftliche Debatten in Gang gekommen, die Demokratiefeinde am liebsten totschweigen würden: Bücher über Rassismus haben es nach dem Mord am Afroamerikaner George Floyd durch einen Polizisten in die Bestseller-Listen geschafft, in den USA und Europa haben sich viele Menschen mit den Verbrechen der Kolonialzeit auseinandergesetzt. In Belarus gehen seit Monaten hunderttausende gegen Diktator Alexander Lukaschenko auf die Straße, in Polen gibt es Massenproteste gegen das frauenfeindliche Abtreibungsverbot.
Vorbei ist es mit der Gefahr für die Demokratie noch lange nicht: In den USA bleiben die Republikaner fürs Erste eine in weiten Teilen rechtsnationale, autoritäre Partei. In Polen und Ungarn sägen autoritäre Regierungen an Pressefreiheit und persönlichen Freiheiten. In Deutschland, Frankreich und Italien lauern Rechtsradikale auf ihre Chance auf die Macht. Autokratische Regime in Russland und der Türkei wollen ihren Einfluss in der Welt weiter ausbauen. Und die Diktatur in China wird nach der Corona-Krise wohl so mächtig sein wie nie zuvor. Wirklich ungefährdet sind demokratische Systeme sowieso nie, sie müssen sich immer wieder verteidigen gegen ihre Feinde.
Trotzdem: Historikerin Hedwig Richter meint, dass die Demokratie sich in diesem Krisenjahr bewährt hat. Gegenüber watson erklärt sie:
Einen Vorteil sieht Richter auch im digitalen Fortschritt, der einen Lockdown demokratieverträglicher mache. Richter wörtlich:
Die Erde hat sich 2020 weiter erhitzt. In Australien haben monatelange Waldbrände mehr als zwölf Millionen Hektar Land verwüstet, in Kalifornien verwandelten Feuer den Himmel über der Metropole San Francisco tagelang in ein dunkelrotes Weltuntergangsschimmern. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre hat einen neuen Rekordwert erreicht, das arktische Meereis ist auf die zweitkleinste Fläche seit Beginn der Messungen geschrumpft. Und die USA haben unter Präsident Trump offiziell das Pariser Klimaschutzabkommen verlassen.
Trotzdem: 2020 war auch ein Jahr der Hoffnung im Kampf gegen die Klimakatastrophe.
Das liegt zum einen am Wahlsieg Joe Bidens in den USA. Biden hat in der Klimapolitik eine Agenda vorgelegt, die nach Ansicht mehrerer Experten und NGOs besonders ambitioniert ist, die Fachzeitschrift "Nature" nennt sie sogar "revolutionär".
Zum anderen sind 2020 Entscheidungen gefallen und haben sich Entwicklungen verstärkt, die dazu führen werden, dass strenger Klimaschutz nicht nur den Planeten rettet – sondern, dass er sich auch wirtschaftlich immer mehr lohnt. Und das ist in einer Marktwirtschaft der stärkste Antrieb von allen.
Die Europäische Union hat ihr CO2-Reduktionsziel bis 2030 von 40 auf 55 Prozent erhöht, Großbritannien hat seine ambitionierten Klimaziele nochmals verschärft und will unter anderem ab 2030 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor mehr auf die Straße lassen (watson hat hier erklärt, warum der britische Klimaplan tatsächlich ziemlich ehrgeizig ist). China hat sich dazu verpflichtet, bis 2060 CO2-neutral zu werden. Und auch 2020 hat sich der Trend fortgesetzt, dass Strom aus erneuerbaren Energien immer günstiger wird im Vergleich zu dem aus Kohle, Öl und Gas.
Historikerin Hedwig Richter sieht außerdem im Umgang mit der Corona-Pandemie eine "große Lehre", die auch für die Klimapolitik lehrreich sein könne: