Boris Johnson hat die Revolution ausgerufen. Genauer und in seinen Worten gesagt, die "grüne industrielle Revolution". Ab 2030 darf in Großbritannien kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr neu zugelassen werden, neue Pkws mit Hybridantrieb dürfen ab 2035 nicht mehr auf den Markt. Der britische Premierminister Johnson kündigte das am vergangenen Mittwoch an. Die – zumindest aus deutscher Perspektive – radikale Maßnahme ist Teil eines Zehn-Punkte-Plans für strengeren Klimaschutz.
Dass ausgerechnet Boris Johnson einen so ambitionierten Klimaschutzplan verkündet – dieser konservative Verfechter des britischen EU-Austritts, den in Deutschland manche Politiker und Journalisten schon als "Mini-Trump" bezeichnet haben – mag viele überraschen. Vor allem, weil Johnson selbst noch 2016 in seiner Kolumne für die Zeitung "The Telegraph" die Furcht vor steigenden Temperaturen durch die Erderhitzung als "primitive Angst" bezeichnet hatte.
Aber es liegt längst nicht nur an Johnson. Großbritannien spielt seit Jahren eine internationale Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel.
Das Land, in dem Ende des 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution begann – und damit die Verfeuerung fossiler Brennstoffe, die hauptverantwortlich ist für den menschengemachten Klimawandel – will jetzt auch bei der grünen Revolution ganz vorne dabei sein.
Felix Creutzig, Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport beim Klimaschutz-Thinktank Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC), bescheinigt Großbritannien gegenüber watson, dass es beim Klimaschutz "viel weiter" sei als Deutschland.
Mit Blick auf Premier Johnson, der mit der konservativen Tory-Partei die Regierungsmehrheit im britischen Unterhaus stellt, sagt Creutzig:
Premier Johnson hat am Mittwoch einen Plan aus zehn Punkten vorgestellt – mit Zielen, die Großbritannien bis 2030 beim Klimaschutz erreichen will. Dazu gehören:
Schon im Jahr 2008 ist in Großbritannien der "Climate Change Act" verabschiedet worden: Ein Gesetz, das die Regierung ursprünglich dazu verpflichtete, bis 2050 80 Prozent der Treibhausgasemissionen einzusparen. Später wurde es verschärft: Inzwischen schreibt das Gesetz vor, bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen – also nicht mehr Treibhausgas in die Atmosphäre auszustoßen, als auf und unter der Erde gespeichert wird.
Großbritannien war 2008 laut der britischen Klimaschutz-NGO Energy and Climate Intelligence Unit (ECIU) der erste Staat der Welt, der sich selbst gesetzlich zur Reduktion von Treibhausgasen verpflichtet hat. Eine überwältigende Mehrheit von 463 zu 3 Abgeordneten im Unterhaus verabschiedete den "Climate Change Act". Im Mai 2019 rief das britische Unterhaus den Klimanotstand aus – laut dem Portal "Klimareporter" als erstes nationales Parlament der Welt.
Der "Climate Change Act" unterteilt die 25 Jahre von 2008 bis 2032 in Fünfjahresperioden. In jeder dieser Fünfjahresperioden darf ein jeweils festgelegtes CO2-Budget ausgestoßen werden, Periode für Periode wird dieses Budget kleiner: von 3,018 Megatonnen CO2-Äquivalent (MtCO2e) von 2008 bis 2012 bis zu 1,765 MtCO2e zwischen 2028 und 2032.
Netto-Null, also die Klimaneutralität, will die britische Regierung bis 2050 mit Maßnahmen auf mehreren Feldern erreichen: von deutlich höherer Energieeffizienz bis zu Klimaschutz-Verpflichtungen für Unternehmen. Vor allem aber hat das Land jetzt schon eine bemerkenswerte Energiewende geschafft.
2008 stammten noch fast 34 Prozent des elektrischen Stroms in Großbritannien aus Kohlekraftwerken. 2018 waren es nur noch elf Prozent, 2019 ist der Wert in den einstelligen Bereich gesunken. In Deutschland machte Kohlestrom 2019 noch knapp 20 Prozent des Energiemixes aus. Im Corona-Jahr 2020 ist Großbritannien sogar erstmals ganze zwei Monate lang gänzlich ohne Kohlestrom ausgekommen. Spätestens 2025 soll der Kohleausstieg erreicht sein.
Laut dem Portal "Energiezukunft" (hinter dem der Ökostromanbieter Naturstrom AG steckt) beträgt der CO2-Ausstoß in Großbritannien nur noch 207 Gramm pro Kilowattstunde – in Deutschland sind es noch 474 Gramm.
Ein wichtiges Instrument der britischen Klimapolitik ist die CO2-Bepreisung. Größere Unternehmen sind in Großbritannien verpflichtet, Teil des EU-Emissionszertifikatehandels EU ETS zu sein. Nach dem endgültigen EU-Austritt – also dem Ende der Brexit-Übergangsfrist zum 31. Dezember 2020 – will Großbritannien einen nationalen CO2-Zertifikate-Handel aufbauen. Zusätzlich gilt für alle Energieerzeuger ein CO2-Preis von 18 Pfund pro Tonne – und eine Klimasteuer auf Benzin, die an der Zapfsäule fällig wird.
Damit das Land weiter vorankommt auf dem Weg zur Klimaneutralität, gibt es seit 2008 das Committee on Climate Change (CCC): eine unabhängige Kommission, die Fortschritte beim CO2-Sparen laufend bewertet – und großen Einfluss auf die Politik der Regierung hat.
Die gute Nachricht: Großbritannien hat für die ersten zwei Fünfjahresperioden zwischen 2008 und 2017 schon seine CO2-Reduktionsziele erreicht – und ist auf dem Weg, auch das Ziel von 2018 bis 2022 zu erreichen.
Der deutsche Forscher Felix Creutzig zieht ein durchaus positives Fazit zur britischen Klimaschutzpolitik. Creutzig wörtlich:
Die schlechte Nachricht: Der schwerste Teil des Wegs liegt noch vor Großbritannien. Denn selbst mit den am Mittwoch angekündigten Maßnahmen schafft es das Land voraussichtlich noch nicht, seine CO2-Reduktionsziele für die Zeiträume von 2023 bis 2027 und von 2028 bis 2032 zu erreichen. "Laut den letzten Berechnungen der Regierung, wächst der Unterschied zwischen dem vorhergesagten Ausstoß und dem Zielwert weiter", schreibt der britische Klima-Journalist Simon Evans auf Twitter.
Der deutsche Forscher Creutzig sieht das ähnlich:
Um die britischen Klimaschutzziele zu erreichen, werden Premier Boris Johnson – und seine Nachfolger – also noch einiges mehr ankündigen müssen als den Zulassungsstopp für Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2030.