Anti-Asyl Demo in Cottbus, Brandenburg 2018.Bild: imago
Analyse
Da waren sich dann fast alle einig. Der Klimaschutz war das Thema dieses Europawahlkampfes. Und davon profitierten vor allem die, die eine Art Copyright auf das Thema haben: Die Grünen. Zeitgeist getroffen. SPD verdrängt. Und sogar Markus Söder dazu gebracht, dass der jetzt auch mehr auf die Umwelt schauen möchte.
Erfolgreich waren sie damit vor allem im Westen. Im Osten war Klima auch irgendwie Thema, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Denn dort war es nicht die Angst vor dem Klimakollaps, die die Wähler an die Urnen lockte. Klimaschutz verfing dort nicht. Zwar gibt es grüne Inseln in Rostock, Leipzig, Jena, Potsdam oder Berlin. In der Peripherie aber war mit CO2-und Kerosinsteuer wenig zu holen. Die Grünen blieben in den ostdeutschen Ländern deutlich unterm Bundesschnitt.
Im Osten erlangte vor allem die AfD auffallend hohe Ergebnisse. Während sie bis auf Baden-Württemberg (zehn Prozent) in den "alten" Bundesländern einstellig blieb, holte sie in den östlichen Bundesländern am Sonntag Ergebnisse zwischen 17,7 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern) und 25,3 Prozent (Sachsen).
Ganz besonders blau sind Sachsen und Brandenburg. Die AfD wurde dort stärkste Kraft – noch vor der CDU.
Dass die AfD besonders im Osten stark ist, hat Gründe:
Von der Anti-Migrations- zur Anti-Klima-Partei
Spätestens 2038 soll das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet werden. Besonders Brandenburg und Sachsen sind davon betroffen. Als Ausgleich werden zwar Milliarden-Hilfen in die Kohle-Regionen fließen. Doch: Die, die dort noch beschäftigt sind, fürchten um ihre Arbeitsplätze und die, die es mal waren, um ihre Tradition. Nachvollziehbar, dass das Thema Klimaschutz rund um das Lausitzer Braunkohlerevier in Brandenburg und Sachsen nicht die allergrößte Rolle spielte.
Wer aber nicht für den Kohleausstieg ist, der hatte bei der Wahl tatsächlich ein Problem. Und die AfD als die neue selbsternannte Anti-Klimahysterie-Partei leichtes Spiel. Waren es zuvor vor allem Migrationsmythen, die die AfD in die Welt sendete, hat sie mittlerweile längst die Klimafrage entdeckt. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg hat in AfD-Kreisen Angela Merkel als Sündenbock Nummer 1 abgelöst. Und AfD-Cheffunktionär Alexander Gauland machte dann auch gleich nach der Wahl den neuen "Hauptgegner" der AfD aus: Die Grünen.
"Die AfD hat sich sehr stark auf die Fridays-for-Future-Bewegung eingeschossen und auch den Klimawandel in Frage gestellt", sagt der Politikwissenschaftler Kai Arzheimer von der Uni Mainz zu watson. Das treffe dann auf eine grundsätzliche Unzufriedenheit, auf ein gerade im Osten Deutschlands stark verankertes Gefühl des Abgehängtseins.
Fehlende Parteienbindung
Zwar nimmt die Wählerbindung an Parteien auch im Westen Deutschlands ab, in Ostdeutschland aber konnte sich eine solche nach dem Fall der Mauer im Grunde nie wirklich verankern. Man müsse verstehen, dass die neuen Länder politisch anders funktionieren, sagt der Politologe Arzheimer. "Dort ist die Parteienbindung weitaus geringer als im Westen, so dass generell auch neue Parteien wie die AfD schneller aufsteigen können."
Hinzu kommt: Die Demokratie in ostdeutschen Bundesländern ist vergleichsweise jung, die SED-Diktatur ist noch keine 30 Jahre überwunden. Durch die fehlende flächendeckende Verankerung von Vereinen, von Initiativen oder auch Kirchen – einer aktiven Bürgerbeteiligung – wird der Ruf nach dem Staat zum Reflex und das Ausbleiben von Hilfe zur Enttäuschung.
Kaum Migrationserfahrung
Auch wenn es neue Parteien strukturell leichter haben, in Osten Fuß zu fassen, erklärt das nicht, warum es mit der AfD dann eine in Teilen rechtsextreme Partei ist, die dann auch tatsächlich Fuß fasst.
Dass die AfD gerade im Osten starken Zulauf hat, erklärt Kai Arzheimer auch damit, "dass dort das Niveau für Fremdenfeindlichkeit messbar höher ist. Womöglich auch, weil zu Zeiten der DDR die Bürger wenig Kontakterfahrung mit Menschen aus anderen Ländern gemacht haben. Daran hat sich im Grunde bis heute wenig geändert."
Denn: Vorurteile verfestigen sich vor allem dort, wo das vermeintlich Andere fehlt. Auch Konfliktforscher Andreas Zick führt die hohen Zustimmungswerte im Osten für die AfD auf fehlende Erfahrungen mit positiven Auswirkungen von Vielfalt und Migration zurück. "Die AfD schafft es, die ostdeutsche Identität über Ressentiments gegen Fremde und Linke oder irgendwelche vermeintlichen Eliten anzusprechen."
Rechtsextreme Hochburgen und bürgerliche Bündnisse
Schon bei der Bundestagswahl 2017 war die AfD in Sachen stärkste Kraft. "In Sachsen beobachten wir seit den 90er Jahren eine problematische Entwicklung“, sagt Politologe Arzheimer. Dort seien rechte Hochburgen entstanden, Kameradschaften und rechte Netzwerke bis hinein in die bürgerliche Gesellschaft, erklärt Arzheimer. Als im Herbst 2018 in Chemnitz AfDler, Pegida-Anhänger und Rechtsextremisten den Schulterschluss suchten und gemeinsam auf die Straße gingen, machte sich der sächsische Ministerpräsident vor allem Sorgen um das Image des Freistaates. "Gerade in Sachsen haben die Regierungen diese Entwicklungen nicht entschlossen genug bekämpft. In anderen ostdeutschen Bundesländern hat man das – wenn auch spät – besser gemacht.“
Der Protest wandert
Die Sonderstellung, die die AfD im Vergleich zum Bund im Osten einnimmt, war bisher der Linkspartei vorbehalten. Sie wollte nach der Wiedervereinigung vor allem der Anwalt des Ostens sein. Die PDS und spätere Linkspartei konnte den Protest lange kanalisieren. Das "Wir gegen die da"-Spiel hat auch die Linkspartei über Jahrzehnte kultiviert. Viele Protestwähler aber haben in der AfD offenbar eine neue Heimat gefunden. Fast eine halbe Million Wähler hatte die Linke bei der Bundestagswahl 2017 an die AfD verloren. Allerdings hat auch die Linkspartei mit zunehmender Regierungsbeteiligung in ostdeutschen Bundesländern Protestpotential eingebüßt. Sie ist mittlerweile im Establishment angekommen.
Kulturelle Überforderung
Eine Studie des Soziologen Holger Lengfeld hat 2017 die These widerlegt, dass es sich bei AfD-Wählern vor allem um wirtschaftlich Abgehängte und Menschen aus prekären Verhältnissen handeln würde. AfD-Anhänger kommen aus allen Schichten und gerade auch aus der bürgerlichen Mitte. Die Spaltung verläuft nicht zwischen Privilegierten und Abgehängten, sondern ist eher kultureller Natur. Die Trennlinie verläuft zwischen jenen, die für eine offene, liberale, heterogene Gesellschaft eintreten und den "kulturellen Moderniserungsverlierern". Also jenen, die sich im Zuge der Liberalisierung nahezu aller Lebensbereiche abgehängt fühlen, die sich mehr Staat, Ordnung und eine kulturell homogene Bevölkerung wünschen. Gleichzeitig gibt es gerade in den neuen Bundesländern ein besonderes Misstrauen gegen staatliche Bevormundung.
Das kulturelle Unbehagen, eine Distanz zur Demokratie, thematisiert auch die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration Petra Köpping (SPD) in ihrem Buch "Integriert doch erst mal uns". Gerade in den neuen Bundesländern seien Kränkungen in Folge der Nachwendejahre auch bei denen geblieben, denen es eigentlich wirtschaftlich gut gehe.
Was also tun? Welche Fehler die anderen Parteien jetzt auf keinen Fall tun sollten:
"Es wäre ein Fehler, sich jetzt voll auf Migrations- und Integrationspolitik zu konzentrieren. Dabei gewinnen immer die anderen“, sagt der Politikwissenschaftler Arzheimer. Das zeige gerade der Blick auf Länder, die genau das versucht hätten. Er empfiehlt:
"Nicht in Panik ausbrechen und nur noch auf die AfD schauen."
Denn: Man dürfe diese Entwicklung auch nicht überschätzen. "Was man machen kann, klingt völlig banal, ist gute Politik", sagt der Politikwissenschaftler. Außerdem müsse man herausstellen, dass beispielsweise Sachsen in vielerlei Hinsicht auch eine Erfolgsgeschichte sei. "Es steht wirtschaftlich gut da und hat eine interessante Hochschul- und Forschungslandschaft."
Und: Sollte die Europawahl ein Stimmungstest für die anstehenden Landtagswahlen gewesen sein, dann drohen im September in Sachsen und Brandenburg blaue Verhältnisse.