Annalena Baerbock, die Spitzenkandidatin der Grünen, steht erneut in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, plagiiert zu haben. Bild: Getty Images Europe / Sean Gallup
Analyse
03.07.2021, 09:2003.07.2021, 09:27
Die Grünen gelten häufig als Moralapostel: beispielsweise bei Forderungen nach Transparenz in der Parteienfinanzierung und bei Nebeneinkünften. Die Partei und ihr Spitzenpersonal legen den Finger in die Wunden, so zum Beispiel bei der sogenannten Maskenaffäre innerhalb der Union.
Seit der Nominierung ihrer Kanzlerinnenkandidatin Annalena Baerbock im April allerdings sieht sich auch die Klima- und Umweltpartei immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert, nicht ehrlich zu handeln, wie bei den falschen Angaben in Baerbocks Lebenslauf. Jüngst sind die Vorwürfe, Annalena Baerbock habe in ihrem neuen Buch plagiiert, hochgekocht. Ob die Partei deshalb einen Imageverlust zu befürchten hat, darüber hat watson mit Expertinnen und Experten gesprochen.
"Die Grünen hätten sich besser gegen negativ Campaigning wappnen und Strategien entwickeln müssen."
Isabelle Borucki, Politikwissenschaftlerin
Die Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki von der NRW School of Governance findet, dass sich die Partei besser gegen "negativ Campaigning" hätte wappnen sollen. "Ich kann nicht sagen, ob es sich um ein Plagiat handelt oder nicht. Was aber schwer wiegen wird, ist der Imageschaden", sagt Borucki gegenüber watson. Wie und ob sich dieser am Ende auf die Wahl auswirken könnte, sei noch nicht absehbar, da Wahlumfragen immer nur eine Momentaufnahme abbildeten.
Die Partei wirkt aus Sicht der Politikwissenschaftlerin unvorbereitet, nicht nur im Fall der jüngsten Vorwürfe, sondern auch schon bei der Debatte um Baerbocks Lebenslauf. Borucki habe den Eindruck, dass das negative Campaigning – also der Versuch, politische Gegner in ein schlechtes Licht zu rücken – in diesem Wahlkampf eine neue Qualität erreicht habe. "Es kann System haben, Annalena Baerbock auf ganzer Linie anzugehen", sagt die Expertin. Es könne darauf abgezielt werden, zu suggerieren, dass sie als Kanzlerinnenkandidatin ungeeignet sei. "Es kommt jetzt auch darauf an, wie die Partei damit umgeht", sagt Borucki. Bemerkenswert sei aber, dass vor allem Baerbock angegangen werde, obwohl auch ihre beiden Mitbewerber keine unbeschriebenen Blätter seien.
Den Vorwurf, Baerbock habe in ihrem Buch "Jetzt" plagiiert, hat der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber erhoben. Auf seinem Blog lastet er der Grünen-Politikerin mehrere Textstellen an, bei denen sie von anderen Quellen abgeschrieben haben soll, ohne diese zu nennen. Die Partei hat den Medienrechtsanwalt Christian Schertz eingeschaltet. Der Bundesgeschäftsführer Michael Kellner bezeichnet die Vorwürfe laut dpa-Informationen in einer E-Mail an Grünen-Unterstützer als "Rufmord".
"Die Grünen lernen nun schmerzlich, was Martin Schulz, Peer Steinbrück und viele weitere in der Vergangenheit erfahren haben."
Kevin Tiedgen, Kampagnen-Experte
"Die Bundestagswahl ist die höchste Klasse der politischen Kommunikation", sagt Kevin Tiedgen, Kampagnen-Experte vom Blog und Podcast "Campaigning&Strategy". Er war bei der Kampagne der SPD zur Bundestagswahl 2017 beteiligt. Damals kürten die Sozialdemokraten Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten. In den Wochen nach der Nominierung traten nach Recherchen der Zeitung "WAZ" mehr als 10.000 neue Mitglieder in die Partei ein. Auch in den Wahlumfragen legte sie zunächst zu. Bei den folgenden Landtagswahlen allerdings verlor die Partei damals Wähler. Auch bei der Bundestagswahl konnten sich die Sozialdemokraten nicht durchsetzen. Aus dem Schulz-Hype sei die Erzählung eines gescheiterten Hoffnungsträgers geworden, resümierte damals die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
"Die Grünen lernen nun schmerzlich, was Martin Schulz, Peer Steinbrück und viele weitere in der Vergangenheit erfahren haben", erklärt der Kampagnen-Experte. In einer solchen Situation zeige sich der Wert eines etablierten und eingespielten Apparates. Tiedgen verweist in diesem Zusammenhang auf die Union genauso wie auf die Erfahrung des diesjährigen SPD-Kanzlerkandidaten, Olaf Scholz. "Das Lehrgeld, dass die Grünen durch viele aneinander gehäufte Fehler jetzt bezahlen, kann zu einer Verfestigung des Eindrucks führen, dass die Partei und insbesondere ihre Spitzenkandidatin nicht bereit sind, eine Regierung zu führen", sagt der Kampagnen-Experte. Die daraus resultierende Dynamik könne eine große Gefahr für die Partei werden, befürchtet Tiedgen.
"Mit Blick auf die Lösungskonzepte für die drängenden Fragen der Zukunft ist vor allem die CDU verwundbar."
Johannes Hillje, Politik- und Kommunikationsberater
Der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje, der unter anderem als Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei im Jahr 2014 gearbeitet und verschiedene Ministerien, Parteien und Politiker beraten hat, empfiehlt den Grünen, die Wahlkampfdebatte auf die sachliche Ebene zu verschieben. "Ziel der Partei sollte es sein, die Debatte um das Buch zu beenden und den Fokus auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit den anderen Parteien zu lenken", sagte er gegenüber watson. So sei vor allem die CDU verwundbar, gehe es um Lösungskonzepte für die drängenden Fragen der Zukunft. Je öffentlichkeitswirksamer die Gegenreaktion der Partei auf die Vorwürfe, desto länger werde diese Debatte andauern, erklärt Hillje.
"Es geht in einem Wahlkampf nicht nur um die Person, sondern auch um die Inhalte", betont auch Borucki. Gerade mit Blick nach Kanada, wo die Einwohner aktuell mit einer Hitzewelle und Temperaturen bis zu 50 Grad kämpfen, sollten die Grünen ihren Wählern klarmachen, was der Klimawandel bedeutet. "Die Partei hat in diesem Themenfeld die meisten Kompetenzen und gleichzeitig die höchste Kompetenzzuschreibung", sagt die Politikwissenschaftlerin. Darauf müssten sie im Wahlkampf zu sprechen kommen, nicht nur auf Personen.
Für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) muss letzte Woche im Bundestag wohl eine große Enttäuschung gewesen sein. Er hatte sich auf eine Debatte mit seinem Erzfeind und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingestellt. Dieser fehlte aber spontan aufgrund eines Defekts an einem Regierungsflugzeug und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) musste für ihn einspringen.