Russische Interkontinentalraketen des Typs RS-24 Yars während einer Militärparade in Moskau. Die Raketen können nukleare Sprengköpfe tragen.Bild: IMAGO / ITAR-TASS
Analyse
In den vergangenen Tagen hat Russland seine nuklearen Drohungen zurückgefahren. Das könnten die Gründe für die leichte Deeskalation sein.
Corsin Manser / watson.ch
Seit Monaten hält Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine weite Teile der Welt in Atem. Nicht wenige fürchten sich davor, dass die Atommacht von ihrem großen nuklearen Arsenal Gebrauch machen könnte. Ein Atomkrieg zwischen den Großmächten rückte plötzlich wieder in den Bereich des Denkbaren – auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür immer klein war.
Die Angst vor einer nuklearen Gewaltspirale war nicht unbegründet. Im russischen Staatsfernsehen drohten die Propagandisten fast täglich mit der Atombombe und der Vernichtung Europas. Sogar von einer "500 Meter hohen, radioaktiv verseuchten Tsunami-Welle", die auf Großbritannien rollen würde, war einmal die Rede.
Im Fernsehen gehen die atomaren Drohungen momentan noch weiter. Damit soll das heimische Publikum vom mangelnden Fortschritt im Feld abgelenkt werden. Von denjenigen, die wirklich was zu sagen haben und die Zügel der Macht in der Hand halten, waren in den vergangenen Tagen aber deutlich gemäßigtere Worte zu vernehmen. Sie haben ihre Atom-Drohungen zurückgefahren.
Drei Beispiele:
1. Wladimir Putin: Der russische Präsident ließ in der Vergangenheit immer wieder seine atomaren Muskeln spielen. So sagte er am 21. September etwa:
"Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff."
Kürzlich klang Putin aber deutlich zurückhaltender. Ein Atomschlag gegen die Ukraine sei nicht nötig, meinte der russische Präsident am 27. Oktober. Dies würde keinen Sinn ergeben – weder militärisch noch politisch.
Wladimir Putin: Ein Atomschlag auf die Ukraine würde keinen Sinn ergeben.Bild: Pool Sputnik Kremlin/AP / Maksim Blinov
2. Andrey Kelin: Sehr deutlich äußerte sich Andrey Kelin, russischer Botschafter in Großbritannien. "Russland wird keine Atomwaffen verwenden, das steht außer Frage", sagte der Spitzendiplomat gegenüber der CNN-Journalistin Christiane Amanpour.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu habe seinen internationalen Amtskollegen gerade versichert, dass Russland keinerlei entsprechende Absichten habe. Amanpour hakte nach, denn die Atom-Frage ist ihrer Ansicht nach "das Wichtigste, was wir wissen müssen". Kelin blieb dabei: Ein Einsatz nuklearer Waffen sei vom Tisch.
3. Das Außenministerium: Am 2. November veröffentlichte das russische Außenministerium eine Mitteilung mit dem Titel: "Erklärung der Russischen Föderation zur Verhinderung eines Atomkriegs." Darin schreibt die Regierung:
"Russland lässt sich strikt und konsequent von dem Grundsatz leiten, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist und niemals geführt werden darf."
Zudem schrieb Moskau, es gehe davon aus, dass die bestehenden Vereinbarungen zur Reduzierung der Kernwaffen weiterhin von Bedeutung seien.
Warum die Deeskalation?
Die Forschenden des "Institute for The Study of War" (ISW) gehen davon aus, dass die anhaltende Drohung mit Atomwaffen nicht die gewünschte Wirkung hatte. Die ukrainische Regierung habe sich dadurch nicht einschüchtern lassen. Durch Atom-Drohungen könne Moskau Kiew nicht zu Verhandlungen zwingen.
Wichtigen Militärs und Teilen des Kremls sei wahrscheinlich bewusst, welch massive Kosten ein Atomschlag gegen die Ukraine mit sich bringen würde. Der operative Gewinn wäre hingegen sehr gering.
Das in Washington ansässige Institut geht davon aus, dass vor allem diplomatische Gespräche den Ausschlag für den Wandel in der russischen Rhetorik gegeben haben. So soll der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, mit Putins Beratern Juri Ushakow und Nikolai Patruschew gesprochen haben. Dabei sei es darum gegangen, das Risiko eines Atomkrieges zu reduzieren.
Chinas Präsident Xi Jinping spricht sich gegen die Drohungen mit Atomwaffen aus.Bild: IMAGO / Kyodo News
Es könnte aber auch China gewesen sein, das Druck auf Russland ausgeübt hat. Präsident Xi Jinping sagte vergangene Woche:
"Die internationale Gemeinschaft sollte sich [...] gemeinsam gegen den Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen wenden und dafür eintreten, dass Atomwaffen nicht eingesetzt und keine Atomkriege geführt werden dürfen."
Eine "nukleare Krise in Eurasien" müsse vermieden werden, so Xi.
Am Ende muss man die Russen an ihren Taten und nicht an ihren Worten messen – das hat dieser Krieg mehr als nur einmal gezeigt. Es könne sein, dass Russland in Zukunft seine nuklearen Drohungen wieder hochfahre, schreibt das ISW. Für den Moment sei aber eine "Deeskalation" zu erkennen und ein Einsatz nuklearer Waffen in der Ukraine sei "unwahrscheinlich".
Russland und das abgeschottete Nordkorea nähern sich politisch immer weiter an. Im Juni dieses Jahres besuchte der russische Machthaber Wladimir Putin Nordkorea. Es waren 24 Jahre seit seinem ersten Besuch vergangen.