Der Kampf ums Kanzleramt schien in den vergangenen Monaten wie ein Duell zwischen den Grünen und der Union: Annalena Baerbock oder Armin Laschet. Die Sozialdemokraten und Olaf Scholz wirkten lange abgeschlagen. Bis jetzt. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zieht der Kanzlerkandidat der SPD sogar an seinen Konkurrenten vorbei.
Das ergibt eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der "Bild am Sonntag". Demnach bewerten die Bürger Scholz' Auftreten in der Flutkatastrophe deutlich positiver als das von Unionskanzlerkandidat Armin Laschet und das der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.
Würden die Deutschen ihren Regierungschef direkt wählen, läge Scholz der Insa-Umfrage zufolge vorn. Er erhielte 21 Prozent und damit drei Punkte mehr als in der Vorwoche. Laschet käme auf 15 Prozent (minus fünf Punkte), Baerbock auf 14 Prozent. 38 Prozent würden keinen der drei Kandidaten wählen.
Scholz' Problem ist: Der Kanzler wird in Deutschland nicht direkt gewählt. Die Bürger entscheiden sich bei der Bundestagswahl für Parteien und Bundestagsabgeordnete. Und die SPD profitiert bisher nicht vom neuerdings großen Zuspruch ihres Kandidaten.
Nicht verwunderlich, findet Kampagnen- und Strategieberater Julius van de Laar. Er arbeitete unter anderem beim Wahlkampf des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama mit. Gegenüber watson erklärt er: "Olaf Scholz ist eine eigene Marke neben der SPD. Die Menschen sehen ihn primär als Finanzminister und Vizekanzler, aber nicht als SPD-Kandidaten."
Dazu geführt habe sowohl Scholz' Inszenierung als Spitzenpolitiker und der Eindruck, dass ebenjener das einzige Aushängeschild der Partei sei. "Scholz kann Kanzler, das ist die Erzählung", sagt van de Laar.
Diese Form des Wahlkampfes sei aber nicht der Grund für den aktuellen Höhenflug des Sozialdemokraten. Aus van de Laars Sicht liegt es vielmehr an der Schwäche von Scholz' Gegnern: Laschet hatte eineinhalb schlechte Wochen, der Abwärtstrend Baerbocks halte an. "Zynisch gesagt ist Scholz der Profiteur", sagt van de Laar.
Zugutegekommen sei Scholz außerdem, dass er während der Flut eine aktive Rolle einnehmen konnte. "Er konnte sich als Finanzminister in der Krise profilieren und ihm sind dabei keine Fehler unterlaufen."
Van de Laar ist sich aber nicht sicher, ob der große Moment des Olaf Scholz überhaupt noch kommen wird. Die Bundestagswahl seil eben keine Personenwahl, sondern eine Parteienwahl, mit Erst- und Zweitstimmen, die die Wähler an Direktkandidaten und Parteien vergeben. "Scholz und die SPD brauchen mindestens 25 Prozent der Stimmen, andernfalls reicht es nicht für eine regierungsfähige Koalition. In Anbetracht der aktuellen Umfragen ist ein solcher Stimmenzuwachs unwahrscheinlich", erklärt er. Da der Trend der SPD in den vergangenen Jahren aber eher um die 15 Prozent pendle, müsste Scholz demnach stark zulegen, um Bundeskanzler werden zu können.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit, so schätzt es van de Laar ein, werde der nächste deutsche Kanzler von der Union gestellt. "Momentan ist es Armin Laschets Wahl, zu verlieren, und nicht die Wahl seiner Konkurrenz, zu gewinnen", fasst es der Strategieberater zusammen.
Aktuelle Umfragen zur Bundestagswahl scheinen van de Laar recht zugeben. Die Union rangiert zwischen 27 Prozent und 31 Prozent der Stimmen, die Grünen zwischen 18 Prozent und 20 Prozent und die SPD zwischen 15 Prozent und 17 Prozent.
Bei einer im Rahmen des ZDF-Politbarometers durchgeführten Umfrage zur Kanzlerfrage gaben Ende Juni 34 Prozent der Befragten an, für Armin Laschet zu sein. 26 Prozent sprachen sich für Olaf Scholz und 24 Prozent für Annalena Baerbock aus. Auffällig: Bei den unter 30-Jährigen sprachen sich 56 Prozent für die Kandidatin der Grünen aus, bei den über 60-Jährigen waren es dagegen nur 11 Prozent.
Doch erfahrungsgemäß geht nur ein vergleichsweise kleiner Teil der jungen Menschen wählen. Wie das Bund-Länder-Demografieoportal veranschaulicht, sind es vor allem die Älteren, die wählen. Das liege daran, dass es mehr ältere Menschen gebe, aber nicht nur. "Mit Ausnahme der jüngsten und ältesten Altersgruppe nimmt die Wahlbeteiligung grundsätzlich mit steigendem Alter zu", heißt es auf der Seite des Portals.
"Junge Leute gehen nicht gerne zur Wahl, wenn sie das Gefühl haben, dass alles schon entschieden ist", erklärt Klaus Hurrelmann. Er ist Jugendforscher und Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Er hält es aber für möglich, dass es bei der Bundestagswahl eine Überraschung geben könnte. Und zwar dann, wenn die Union atmosphärisch schwächer und die SPD im Gegenzug stärker würde. "Denn die gut gebildeten jungen Leute sehen natürlich, dass die SPD in ihren Positionen der von Ihnen geliebten Partei die Grünen durchaus nahe steht", sagt der Jugendforscher gegenüber watson.
Dass die Grünen bei den unter 30-Jährigen besonders gut ankommen, das ist laut Hurrelmann seit 15 Jahren in allen Studien abzulesen. Grund dafür sei, dass die Partei die meisten Interessen junger Menschen mit ihren Themen bündele. Außerdem habe ihre Personalstruktur eine positive Ausstrahlung. "Das liegt daran, dass die Partei Männer und Frauen gleichberechtigt als Kandidaten aufstellt und auch ein gemischtes Führungsduo hat", sagt der Jugendforscher.
Trotzdem könnte es auch sein, dass junge Menschen strategisch für einen Kanzler Olaf Scholz stimmten. Nämlich dann, wenn "sie den Eindruck haben sollten, dass Baerbock nicht zugkräftig genug bei den älteren Wählern ist und deswegen insgesamt nicht siegen könnte."
Einen solchen Pragmatismus hätten viele junge Menschen bereits bei der Umweltbewegung Fridays for Future bewiesen, die sich für ein gemeinsames Vorgehen älterer und jüngerer Generationen eingesetzt haben, um die Umweltpolitik zu verändern. "Insgesamt denke ich, dass die Wahl noch nicht gelaufen ist, sondern offen bleibt – wobei die jungen Leute durchaus einen Einfluss haben werden", fasst der Jugendforscher zusammen.
Auffällig sei, dass bei der jungen Generation neben den Grünen auch eine zweite Partei vergleichsweise gut abschneide: die AfD. Die Wählergruppen, die die Rechtspopulisten ansprächen, seien die "weniger gut gebildeten, sich sozial benachteiligt fühlenden und hierbei besonders die jungen Männer", sagt Hurrelmann. Prinzipiell sei es so, dass junge Menschen nach Themen wählten. In den Vordergrund werde das Thema gestellt, das persönlich als besonders relevant erachtet wird.
Oft entsteht in der Öffentlichkeit das Bild einer Umweltgeneration. Das liegt nach Einschätzung des Wissenschaftlers daran, dass die Sympathisanten der AfD in den meisten Statistiken nicht besonders beachtet würden. Hurrelmann fasst zusammen:
Weniger gut schnitten die traditionellen Volksparteien CDU/CSU und SPD bei jungen Menschen ab. Und zwar, weil viele Menschen die beiden Parteien der aktuellen großen Koalition nicht auseinander halten könnten. Außerdem wirken sie "im Vergleich zu den Grünen und der AfD bürokratisch und in ihren Kommunikationsstrukturen veraltet. Deswegen schneiden auch ihre Kandidaten im Vergleich deutlich schlechter ab", erklärt der Jugendforscher.
(Mit Material von dpa)