In einer Grundsatzrede in Prag legt Kanzler Scholz seine Vision von Europa dar. Er tritt für eine starke, eigenständige EU ein und wirbt für Reformen. Er wird aber auch konkret – zum Beispiel mit der Ankündigung einer europäischen Luftverteidigung.
Mit weitreichenden Reformen will Bundeskanzler Olaf Scholz die Europäische Union stärken und sie für Erweiterungen fit machen. In seiner Grundsatzrede an der Karls-Universität in Prag setzte sich der SPD-Politiker am Montag für einfachere Entscheidungsprozesse, ein krisenfestes Asylsystem und eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Rüstung und Verteidigung ein. Konkret kündigte der SPD-Politiker an, gemeinsam mit europäischen Nachbarn ein neues Luftverteidigungssystem aufbauen zu wollen.
"Wir müssen das Gewicht des geeinten Europas noch viel stärker zur Geltung bringen", sagte Scholz bei seinem eintägigen Besuch in Tschechien, das derzeit in der EU die Ratspräsidentschaft führt. "Zusammen haben wir allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und zu gestalten."
Mit der Rede im Karolinum, dem historischen Hauptgebäude der 1348 gegründeten Karls-Universität, positionierte sich Scholz erstmals umfassend in der Europapolitik. Am selben Ort hatte 2008 auch schon seine CDU-Vorgängerin Angela Merkel gesprochen.
Der Kanzler betonte, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die EU zusammengeschweißt habe. "Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich behaupten kann in einer multipolaren Welt? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten?"
Scholz unterstützte die französische Idee für eine neue europäische politische Gemeinschaft, die einen engeren Austausch mit Partnern von außen ermöglichen soll. Derzeit fehle ein Forum, bei dem die Staats- und Regierungschefs der EU mit Partnerstaaten ein- oder zweimal jährlich zentrale Themen besprechen könnten – zum Beispiel in Fragen wie Sicherheit, Energie oder Klimaschutz.
"Solch ein Zusammenschluss – das ist mir ganz wichtig – ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung", betonte der Kanzler. "Denn wir stehen bei unseren Beitrittskandidaten im Wort – bei den Ländern des westlichen Balkans sogar schon seit fast 20 Jahren."
Scholz warb für eine engere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Ein gemeinsames Luftverteidigungssystem wäre kostengünstiger und leistungsfähiger als nationale Lösungen. Als mögliche Partner nannte er die Niederlande, Polen, Tschechien, die Slowakei sowie die Länder im Baltikum und in Skandinavien. Scholz forderte zudem einen eigenständigen Rat der EU-Verteidigungsminister.
Zudem forderte Scholz, etwas gegen die Blockademöglichkeiten im Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages zu tun. Dieses sieht die Möglichkeit der Suspendierung der Stimmrechte von Staaten vor, die schwerwiegend und anhaltend gegen EU-Werte verstoßen.
Das entsprechende Verfahren gegen Ungarn und Polen läuft schon seit längerer Zeit – kommt aber nicht voran, weil etliche Mitgliedstaaten keine Eskalation des Konflikts mit beiden Ländern riskieren wollen. Zudem können sich Ungarn und Polen gegenseitig mit einem Veto schützen.
Scholz plädierte für eine EU-Erweiterung um die Staaten des Westbalkans, die Ukraine, Moldau und perspektivisch auch Georgien. "Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn." Um die EU fit zu machen, will er die Zusammensetzung des EU-Parlaments ändern. Wenn man das Parlament nicht aufblähen wolle, dann brauche es "eine neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht". "Und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte."
Auch die EU-Kommission solle ihre Arbeitsweise anpassen. Scholz sagte, er wolle nicht am Grundsatz "Eine Kommissarin oder ein Kommissar pro Land" rütteln. "Aber was spricht dagegen, dass zwei Kommissionsmitglieder gemeinsam für eine Generaldirektion zuständig sind?" Zudem bekräftigte er die Forderung nach mehr Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat.
Der Ukraine versicherte Scholz: "Wir werden diese Unterstützung aufrechterhalten, verlässlich und vor allem: so lange wie nötig." Der Wiederaufbau sei eine "Kraftanstrengung für Generationen". Für den 25. Oktober kündigte er eine Wiederaufbau-Konferenz in Berlin an. Er forderte auch eine bessere Koordinierung der Rüstungshilfe für Kiew.
"Gemeinsam mit den Niederlanden haben wir deshalb eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt", sagte der SPD-Politiker. "Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt."
(ast/mit Material der dpa)