Chantal Bausch ist eine ganz normale junge Frau. Ungewöhnlich – und bewundernswert – ist höchstens, wie viel Sport sie macht: Die 26-Jährige spielt neben dem Studium Hockey im Bremer HC, ist ausgebildete Skilehrerin, spielt Golf und Tennis und geht gerne segeln. Wer Chantal kennenlernt, bemerkt vor allem ihre Energie. Nicht aber die große Narbe, die sich quer über ihre Brust zieht. Denn in Chantals Brust schlägt ein fremdes Herz.
Bereits im Alter von 11 Jahren versagte Chantals Herz aufgrund einer Herzmuskelentzündung. Sie kam auf die Warteliste für ein neues Spenderorgan – und hatte Glück. Nicht so die 901 Menschen, die im Jahr 2018 verstarben, während sie auf ein lebensrettendes Organ warteten. Aktuell stehen etwa 9500 Patienten auf der Warteliste – wie lange, ist ungewiss.
Dass gegen den herrschenden Organmangel in Deutschland etwas unternommen werden muss, hat die Politik erkannt. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte mit einer grundlegenden Reform eine radikale Lösung liefern: Nach der sogenannten Widerspruchslösung wäre jeder deutsche Bundesbürger automatisch Organspender gewesen – außer er hätte der Entnahme von Organen ausdrücklich widersprochen.
Der Bundestag stimmte dagegen. Stattdessen nahmen die Abgeordneten den moderateren Vorschlag einer Abgeordneten-Gruppe um Annalena Baerbock (Die Grünen) an. Nach der erweiterten Zustimmungslösung werden alle Bürger nun mindestens alle zehn Jahre beim Ausweisabholen auf das Thema Organspende angesprochen.
Wer mit Experten spricht, erfährt: Das Problem bei der Organspende ist viel komplexer als nur die Frage, ob Bürger zur Organentnahme zustimmen sollten oder nicht.
Birgit Blome von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) erklärt im Gespräch mit mit watson, warum die Widerspruchslösung nur ein wichtiger Baustein in der Organspende sein gewesen wäre.
In den letzten Jahren sei bis 2018 die Zahl der Organspender kontinuierlich zurückgegangen, berichtet Blome. Erst dann gab es wieder einen signifikanten Zuwachs. Zu den Gründen, warum die Zahl der Spender jahrelang gesunken ist, sagt sie gegenüber watson:
Das bedeute, dass nicht immer in den Krankenhäusern die Möglichkeit einer Organspende in Betracht gezogen wurde, wo das vielleicht möglich gewesen wäre. Dafür gibt es verschiedene Faktoren:
Teilweise kann auch hier ein Personal- und Fachkräftemangel eine Rolle spielen, wie es schon länger in der Politik thematisiert wird. Teilweise könnte das Personal auch nicht ausreichend informiert sein. Auch die hohen Kosten einer Transplantation waren in der Vergangenheit möglicherweise ein Grund, weswegen eine aufwendige Organtransplantation erschwert werden könnte.
Was sich angesichts der jahrelang sinkenden Spenderzahlen in der Öffentlichkeit vielleicht nicht bemerkbar gemacht hat, ist, dass die Politik schnell auf den Organmangel reagiert hat. So sei bereits 2012 ein Gesetz verabschiedet worden, das Krankenhäuser dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu benennen, erklärt Blome.
In Krankenhäusern sind Transplantationsbeauftragte Ansprechpartner für die Koordinatoren der DSO. Sie kümmern sich darum, dass die Entnahmekrankenhäuser mögliche Organspender melden und begleiten Angehörige und Spender bei dem Prozess.
Ihr genauer Tätigkeitsrahmen sollte in den Landesausführungsgesetzen definiert werden, was jedoch nur in einigen Bundesländern geschehen ist. "Häufig blieb es dann bei der Ernennung, ohne dass die Transplantationsbeauftragten dieser verantwortungsvollen Aufgabe auch entsprechend nachgehen konnten", wirft Blome ein.
Zusätzlich wurde zum April 2019 die zweite Änderung des Transplantationsgesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Kliniken sowie Spendenorganisationen und der Strukturen bei der Organspende verabschiedet. Die Maßnahmen und Vorgaben aus dem Gesetz und dem begleitenden Initiativplan würden derzeit in den Klinikalltag übertragen, sagt Blome. "Das geht nicht von heute auf morgen", betont sie. "Von daher wird es noch eine Weile dauern, bis sich das auf die Anzahl der Organspenden spürbar auswirkt."
Die Widerspruchslösung wäre vor dem Hintergrund der von Blome beschriebenen Herausforderungen ein wichtiger Schritt, um die Strukturen in der Organspende zu vereinfachen. In vielen europäischen Ländern, wie zum Beispiel auch im Organspende-Vorzeige-Land Spanien, gibt es diese Lösung bereits. Zugleich gibt es keine konkreten Nachweise, dass die Widerspruchslösung allein für eine erhöhte Anzahl von Spendern gesorgt hat. Auch Blome sagt:
Dennoch könne die Widerspruchslösung im Zusammenhang mit anderen strukturellen und organisatorischen Veränderungen die Organspende sinnvoll unterstützen und fördern. Die Entscheidungslösung habe Blome nach nicht viel Veränderung bewirkt. "Lediglich 15 Prozent der möglichen Organspender hatten im letzten Jahr ihren Willen schriftlich dokumentiert. Häufig müssen immer noch die Angehörigen entscheiden."
Die Organspende ist nicht nur ein hochemotionales Thema, sondern wesentlich komplexer, als es in der Debatte bisher dargestellt wurde. Die Widerspruchslösung allein kann keine Menschenleben retten – sie wäre allerdings ein wichtiger Baustein gewesen, um mehr Organspenden zu ermöglichen.
Betroffene wie Chantal Bausch hatten die Widerspruchslösung befürwortet. Sie pocht aber vor allem auch auf einen Gesinnungswandel in der deutschen Organspendementalität:
Die Entscheidungslösung empfindet Chantal, die übrigens Markenbotschafterin des Vereins Kinderhilfe Organtransplantation (KiO) ist und regelmäßig Vorträge zur Organspende hält, als realitätsfern. Beim Abholen des Personalausweises zum Beispiel mit dem Thema konfrontiert zu werden – dafür herrsche im Amt einfach nicht die richtige Atmosphäre.
Obwohl Chantal für die Widerspruchslösung ist, beruft sie sich auf den Kern der Organspende-Debatte: Nämlich, dass den Vertretern beider Lösungsoptionen, ob Entscheidungs- oder Widerspruchs-basiert, ein gemeinsames Ziel vor Augen schwebte:
Chantal ist der Beweis, dass Organspende etwas bewirken kann. Ihr hat sie das Leben gerettet.