Im Talk bei Anne Will geht es um den Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny und die scharfen Töne, die die Bundesregierung deshalb aktuell in Richtung Russland anstimmt. Unter den Gästen sorgte vor allem die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, für Zunder.
Zu Gast an diesem Abend waren neben ihr:
Anne Will fragt Jürgen Trittin (Bündnis90/Die Grünen), ob nach dem Giftanschlag auf Nawalny vorschnell gehandelt, geurteilt und gedroht worden sei. Zuletzt hatte Außenminister Heiko Maas (SPD) in der "Bild am Sonntag“ gesagt: "Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern. (…) Wenn wir über Sanktionen nachdenken, sollten diese möglichst zielgenau wirken.“
Trittin geht zunächst einen Schritt zurück. Dass die medizinische Versorgung von Nawalny in Berlin erfolgt, sei auf Bitten der Angehörigen geschehen. Und nun sei es selbstverständlich, dass Russland den Fall aufklären müsse. Denn chemische Kampfstoffe sind seit 1997 international geächtet: In diesem Jahr trat die Chemiewaffenkonvention in Kraft, der auch Russland beigetreten ist. Das Verbrechen gegen Nawalny sei nun einmal auf russischem Gebiet geschehen, Russland müsse also unabhängig von einer Täterschaft ermitteln.
Auch Kanzlerkandidat Norbert Röttgen sieht die "Erklärungslast bei Russland. Er sagt zu den Folgen der Tat:
Zweifel an der Verantwortung der russischen Regierung hat er nicht. Die "menschenverachtende Tat" sei offen geschehen, der Fall sei "eindeutig und klar" und ein Signal an jeden, der, wie Nawalny, das Regime in Russland kritisiere. Jeder solle sehen, wie mit Kritikern umgegangen wird. Die Botschaft sei: "Wir kriegen Euch." Vor allem zu Zeiten der Demonstrationen nach der Wahl in Belarus sei das eine Botschaft an das eigene Volk.
Nach so viel Einigkeit mischt Sevim Dağdelen (Die Linke) die Runde kräftig auf. Sie sei bei dem Anschlag nicht dabei gewesen – wohl im Gegensatz zu Röttgen – und kenne den Täter noch nicht, stichelt sie ironisch. Sie wehrt sich daher gegen eine Vorverurteilung oder gar den Ruf nach Sanktionen vor einer Aufklärung der Vorgänge. Eine Probe des Nervenkampfstoffs Nowitschok sei über den BND schon vor Jahren nach Europa gelangt und stehe seitdem also auch anderen Geheimdiensten zur Verfügung.
Für ihre Ausführungen erntet Sevim Dağdelen viel Gegenwind bei den anwesenden Herren. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, findet ihre Aussagen "empörend" und unterstellt ihr, "Verschwörungstheorien“ nachzuhängen. Und Jürgen Trittin poltert, man solle sich doch bitte "nicht dümmer stellen, als man ist".
Aber Dağdelen sagt dazu, man müsse "rechtsstaatliche Prinzipien" anwenden und erst aufzuklären und dann verurteilen. Erfahrung damit kann sie aus den Ermittlungen zum Mord an einem Georgier im Berliner Tiergarten 2019 jedenfalls aufweisen. Sie betont, sie sei doch diejenige gewesen, die in diesem Fall "am meisten für die Aufklärung getan" habe. Und auch nun sei sie einfach "auf der Suche nach der Wahrheit".
Anne Will weist darauf hin, dass ja auch ihr Parteikollege Gregor Gysi bereits Zweifel an einer eindeutigen russischen Täterschaft geäußert hat. Die nun laut werdenden Forderungen, das umstrittenen Gas-Pipeline-Projekt "Nord Stream 2" zu stoppen, nutzten doch vor allem den USA, denen diese Kooperation mit den Russen ohnehin ein Dorn im Auge ist.
Solchen Gedankengänge widerspricht Trittin vehement. Denn Russland hätte sich ja auch bei den bisherigen nachgewiesenen Fällen, politische Gegner auszuschalten, offenbar nicht darum geschert, wie das in der westlichen Welt so ankommt. Und als Nutzen wird wieder einmal ausgemacht, dass es zumindest jeweils eine einschüchternde Wirkung aufs das eigene Volk hat.
Das "Kappen“ der Nord-Stream-2-Pipeline wäre zumindest eine Botschaft, die Putin verstünde, analysiert Sarah Pagung, Politikwissenschaftlerin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Röttgen hat ein Ende des Projekts bereits öffentlich gefordert und Trittin spielt in diesem Zusammenhang die Umweltkarte. Er befindet, dass diese und andere Pipelines ohnehin "überflüssig“ seien und man den Verbrauch fossiler Brennstoffe sowieso besser reduzieren sollte. Zukunftsweisend, aber an dieser Stelle für die Diskussion nicht so hilfreich.
Einig ist man sich in der Runde, dass es eine gemeinsame europäische Linie geben sollte und es nicht ein bilaterales Problem von Deutschland und Russland ist. Es sei also nicht an Deutschland, hier im Alleingang Forderungen nach Aufklärung zu stellen und mit Sanktionen zu drohen. Auf ein Problem bei der europäischen Lösung weist Röttgen allerdings hin. "Ein europäisches Nord Stream 2 wird es nicht geben", auf den Segen aller europäischer Partner sollte man im Konfliktfall also eher nicht zählen.