In ostdeutschen Braunkohlerevieren haben es die Grünen besonders schwer.Bild: imago/watson-montage
Deutschland
30 Jahre nach der friedlichen Revolution, die auch Umweltschützer anstießen, stehen die Grünen vor einer Zäsur: Umfragen sagen ihnen zweistellige Wahlergebnisse auch im Osten voraus – auf bisher schwierigem Terrain. Aber noch ist nicht gewählt
Alle in den Osten! Die Grünen klotzen beim Wahlkampf – nicht nur ihre Spitzenleute sind seit Wochen auf Tour. Das
Nordlicht Robert Habeck hat in Dresden schon eine
Stamm-Joggingstrecke, so oft war der Parteichef zuletzt hier. Kein
Wunder: Noch nie war die Chance auf ein zweistelliges Ergebnis in
Ostdeutschland so groß wie bei den Landtagswahlen in Brandenburg und
Sachsen am kommenden Sonntag – und knapp zwei Monate später dann in
Thüringen. Zum Endspurt vor dem Wahlsonntag tagt der Bundesvorstand
nochmal in Dresden. Mit Blick auf den barocken Zwinger beschwört die
Parteispitze Wechselstimmung.
Die Botschaften werden aggressiver auf diesen letzten Metern. Habeck
und Co-Parteichefin Annalena Baerbock teilen ungewohnt heftig aus
gegen CDU und SPD, werfen ihnen unseriöse Politik, gar Panik vor.
Eigentlich geben die beiden sich konstruktiv, haben sich vorgenommen,
über sich zu reden statt über die anderen. Aber nervös sind sie eben
auch, die Grünen – und das hat Gründe:
Das Umfragehoch ist vorbei
In den Umfragen ging es zuletzt nicht mehr bergauf, sondern
geradeaus oder bergab. Die Parteien der Ministerpräsidenten – SPD in
Brandenburg, CDU in Sachsen – legten zu, auch auf Kosten der Grünen.
"Daraus spricht sicherlich ein Stück weit die Sorge, dass die AfD die
stärkste Kraft in den jeweiligen Ländern werden kann", sagt Habeck.
Noch ist nicht gewählt
Umfragen zwischen 10 und 14 Prozent sind für die Öko-Partei
mit dem Wessi-Image immer noch viel mehr als bisher - aber noch ist
nicht gewählt. 2014 ging nur die Hälfte der Sachsen zur Wahl. Wer
bringt seine potenziellen Unterstützer dazu, auch wirklich ihre
Stimme abzugeben?
Die Koalitionsfrage
Nach den Wahlen könnte es kompliziert werden. In
Brandenburg regiert bisher Dietmar Woidke (SPD) mit den Linken, in
Sachsen Michael Kretschmer (CDU) mit der SPD. Beide bräuchten den Umfragen zufolge die Grünen als dritte im Bunde, um weitermachen zu
können. Hier Rot-Rot-Grün, da Schwarz-Rot-Grün mit einer CDU, in der
manche – nicht Kretschmer – sich durchaus auch eine Zusammenarbeit
mit der AfD vorstellen können. Ein Spagat – und wenn die Ergebnisse
mäßig werden, schwindet automatisch auch der grüne Einfluss in den
Koalitionen.
Die Grünen wollen den Osten erobern
Aber der Preis ist verlockend: Statt in neun Ländern könnten die
Grünen in elf mitregieren – und in der ostdeutschen Fläche richtig
Fuß fassen. Denn obwohl sie neben Berlin auch in Sachsen-Anhalt und
Thüringen als Juniorpartner an der Macht sind, gilt Ostdeutschland
nach wie vor als schwieriges Terrain für die Partei.
"Wir wurden früher vor allem als Stadtpartei wahrgenommen. Aber wir
haben uns entwickelt. Wir haben gezeigt, dass wir regieren können",
sagt Thüringens Spitzenkandidatin und Umweltministerin Anja
Siegesmund. Die 42-Jährige ist seit 2014 das Aushängeschild der
Grünen in der rot-rot-grünen Koalition von Ministerpräsident Bodo
Ramelow (Linke) – und eine harte Verhandlerin bei grünen Projekten.
Raus aus der urbanen Komfortzone
Hochburgen hat die Klimaschutzpartei bisher vor allem in den wenigen
ostdeutschen Ballungsgebieten und in den Uni-Städten. Nun will sie
auch in den Kleinstädten in ländlichen Regionen punkten – sie fehlen
auf keiner Rundreise der Wahlkämpfer. "Mit Bienen und Bauern das Land
erneuern" – das ist einer der Slogans für Thüringen, wo die Grünen
das Agrarministerium im Auge haben.
Von dort stammt Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen im
Bundestag. Sie erzählt von Passanten in ostdeutschen Städten, die ihr
früher zuraunten, sie hätten ihr Kreuz heimlich bei den Grünen
gemacht. Inzwischen gingen die Menschen selbstbewusster mit ihren
politischen Entscheidungen um. "Und es sind die gleichen Themen, egal
ob in München, Potsdam oder Erfurt, die die Menschen interessieren."
Klimathema verfängt im Osten nicht
Ist das so? Der Kohleausstieg jedenfalls treibt die Wähler in den
Braunkohle-Regionen viel mehr um als in Bayern. Ihren
Beschluss von Dresden überschreiben die Grünen denn auch mit
"Klimaschutz und Strukturentwicklung als Chance". Darin stehen Sätze
wie: "Bündnispartei zu sein, heißt für uns, den Wandel so zu
gestalten, dass eine Mehrheit der Menschen ihn bejahen kann und keine
Angst vor ihm hat."
Die Spitzengrünen müssen in Dresden noch weiter denken als bis zu den
Landtagswahlen. Im Herbst könnte die große Koalition im Bund wackeln,
im Winter zerbrechen. In Sachen Programm und Personal könnten die
Grünen schnell in einen deutschlandweiten Wahlkampf einsteigen. In
Umfragen bleiben sie nah an der Union. Was sich organisatorisch
ändern muss in einer Partei, die so schnell wächst und dauerhaft bei
20 Prozent liegt – oder liegen will, das ist in Dresden auch Thema.
(ts/dpa)
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