Bild: dpa
Deutschland
Ein Schüler zeigt den Hitlergruß, ein Mädchen hetzt gegen Ausländer. Immer wieder äußern Jugendliche sich im Unterricht rechtsextrem. Dann sind die Lehrer gefordert – und wissen manchmal auch nicht weiter.
Die Antwort im Geschichtsunterricht kam ganz leise.
Die Stunde in der neunten Klasse hatte das Thema "Jugend im
Nationalsozialismus", so erinnert sich Hendrik Neumeyer. Der Lehrer
aus Sachsen, der in Wirklichkeit anders heißt, ist groß und
sportlich. Er beschreibt sich als jemanden, der von seinen Schülern
respektiert wird. "Jemand stellte die Frage: 'Könnte es so etwas wie
die Hitlerjugend heute wieder geben?'", erinnert er sich. Einer seiner
Schüler antwortete mit leiser Stimme: "Na hoffentlich!"
Für den Pädagogen waren rechtsextreme Äußerungen von Schülern lange
etwas, das vor allem andere Schulen betraf. Nicht seine. "Es gehört
nicht zu meinem Tagesgeschäft, gegen Rechts vorzugehen", sagt der
33-Jährige auch heute noch. Also nach dem Vorfall vor einige Wochen.
Neumeyer, der seinen richtigen Namen zum Schutz des Schülers nicht in
den Medien lesen möchte, unterrichtet Geschichte und
Gemeinschaftskunde an einer Oberschule im Landkreis Sächsische
Schweiz-Osterzgebirge. Der Kreis war durch fremdenfeindliche
Ausschreitungen in Freital und Heidenau 2015 in die Schlagzeilen
geraten.
Ein solcher Zwischenfall an einer Schule ist etwas, so sagen es
Experten, was in ähnlicher Weise an vielen Orten geschieht – nicht
nur in Sachsen. Es ist zugleich etwas, über das außerhalb der
Klassenzimmer eher wenig gesprochen wird.
Dabei ergeben sich aus dem von Neumeyer geschilderten Fall schwierige
Fragen:
Was ist eine politische Meinungsäußerung, die in der Klasse diskutiert werden kann – und was rechtsextrem und nicht hinnehmbar?
Dürfen oder müssen sich Lehrer positionieren?
Sichere Zahlen? Oft Fehlanzeige
Wie viele strafbare rechtsextreme Fälle es in Klassenzimmern und auf
Pausenhöfen zwischen Flensburg und Sonthofen zuletzt gab, ist schwer
zu sagen. Eine bundesweite Statistik wird offiziell nicht geführt.
Bei einer Einzelabfrage der 16 Bundesländer durch die Deutsche
Presse-Agentur zeigte sich, dass längst nicht alle Länder
rechtsextreme Vorfälle an Schulen ausweisen. Und wenn sie es tun,
sind die Daten oft nicht miteinander vergleichbar.
Gut verständlich sind die Statistiken, die Sachsen und Niedersachsen
führen: Dort werden "politisch rechts motivierte Straftaten im
Zusammenhang mit Schulen" registriert. 2018 gab es nach
Ministeriumszahlen in Sachsen 91 Vorfälle. Darunter ein Klassenchat
mit rechtsextremistischen Inhalten, Hakenkreuze in der Schulbank und
im Schnee. Niedersachsen kommt nach aktuellen Zahlen von 2017 auf 100
solche Taten. Ein deutlicher Anstieg gegenüber 2015. Da waren es 60.
Mecklenburg-Vorpommern zählte 13 Verstöße für das Schuljahr 2017/18 gegen den Paragrafen 86a des Strafgesetzbuchs, also das Verwenden von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen. Außerdem drei Vorfälle mit Gewalt, Sachbeschädigung oder Brandstiftung mit rechtsextremem Hintergrund.
Zwei Beispiele:
Publik wurde ein Fall aus Waren in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wurden im November 2018 zwei 12 und 14 Jahre alte Schüler vom Unterricht ausgeschlossen, weil sie den Hitlergruß gezeigt haben sollen.
Und ein Fall aus Halle in Sachsen-Anhalt vom Oktober 2018. Dort wurde gegen einen 18 Jahre alten Berufsschüler ermittelt, weil er ebenfalls in der Schule den Arm zum Hitlergruß gehoben haben soll. Die Staatsanwaltschaft Halle hat die Ermittlungen inzwischen eingestellt mit der Begründung, dass ein Klassenzimmer kein öffentlicher Raum sei. Die Generalstaatsanwaltschaft überprüft die Entscheidung.
Wie viele Jugendliche rechtsextremistisch eingestellt sind, erforscht
das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, kurz KFN. Die
Fachleute haben 2017 Neuntklässler aus Niedersachsen repräsentativ
befragt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass 3,7 Prozent ein
geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben.
Auch wenn unter 4 Prozent nach wenig klingt: Einzelne rechtsextreme
Aussagen werden deutlich häufiger unterstützt. So stimmten gut 19
Prozent 2017 der Aussage zu, dass in Deutschland lebende Ausländer in
die Heimat zurückgeschickt werden sollten, wenn Arbeitsplätze knapp
würden, wie Yvonne Krieg vom KFN berichtet. Insgesamt nehme die
Zustimmung bei ausländerfeindlichen Aussagen aber leicht ab.
Das Zahlenbild ist also differenziert, es weist aber darauf hin: Was
Hendrik Neumeyer im Unterricht erlebt hat, passiert sicher auch
anderen Lehrern. Er habe sich in der Situation "sehr unsicher"
gefühlt, sagt er. Neumeyers Ziel ist es, dass die Schüler im
Klassenraum offen sprechen können. Die Grenze werde bestimmt durch
das Grundgesetz und das Strafgesetz.
Gleich nach dem Unterricht holte er den Schüler zu sich. Er fragte:
"Habe ich das richtig verstanden?" Als der bejahte, ging Neumeyer zur
Schulleitung. "Für mich war klar, dass ich ein Stoppsignal, auch für
die Klasse, setzen muss", erinnert er sich. "Hätte ich nicht
reagiert, hätten die Schüler gesagt: Krass, guck mal, was der gesagt
hat, und der Lehrer hat nicht reagiert."
Lehrer können Hilfe bekommen
In der Folge musste der Schüler zum Gespräch zur Schulleitung. Für
die Klasse wurde ein Projekttag vereinbart. Speziell ausgebildete
Kräfte von einem Netzwerk für Demokratie und Courage, kurz NDC,
sollten einen Tag in die Schule kommen.
Durch die Rückmeldungen ihrer Trainer hat NDC-Mitarbeiterin Anne Gersch einen tiefen
Einblick in die Stimmung an Schulen. "Wir wissen, dass die
Problematiken mit rechtem Gedankengut groß sind", sagt sie. Das Thema
nehme an Bedeutung zu: "Die Stimmung, und das, was gesagt wird,
ändert sich." Den Coaches schlage bei Projekttagen beim Thema
Rassismus und Diskriminierung zum Teil "massiver Gegenwind" entgegen.
"Die Stimmung ändert sich."
Gleichzeitig fühlten sich viele Lehrer mit dem Thema allein gelassen,
sagt sie. Auf die Schulen "prassele" sehr viel ein. Rechtsextremismus
sei neben der Droge Crystal, neben Mobbing und sexualisierter Gewalt
nur eines der Themen, um die sich Schulen kümmern sollten.
Inwiefern Lehrer politisch Position beziehen dürfen oder teils sogar
sollen, ist nicht so leicht zu sagen. Die Grundlinien geben die
Schulgesetze vor. Sie verpflichten dazu, Schüler und Schülerinnen zu
Demokratie und Toleranz zu erziehen. Was das allerdings konkret
heißt, ist ein weites Feld. Orientierung bietet hier der sogenannte
Beutelsbacher Konsens.
Er geht zurück auf eine Tagung der baden-württembergischen
Landeszentrale für politische Bildung 1976 im schwäbischen
Beutelsbach. Er legt Grundlagen der politischen Bildung fest. Danach
gelten drei Prinzipien: Das Überwältigungsverbot untersagt Pädagogen,
die jungen Leute im Sinne einer Meinung zu überrumpeln. Was
kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Heißt:
Die Lehrer dürfen unterschiedliche Standpunkte nicht unter den Tisch
fallen lassen. Schließlich müssen Schüler und Schülerinnen in die
Lage versetzt werden, eine politische Situation und die eigenen
Interessen zu analysieren.
Rico Behrens ist Professor für politische Bildung an der Katholischen
Universität Eichstätt/Ingolstadt in Bayern. Behrens hat bis 2018 das sächsische Modellprojekt "Starke Lehrer – Starke Schüler" geleitet. Lehrer von Berufsschulen erhalten dabei
über einen Zeitraum von drei Jahren Seminare und Coachings zu
Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit. Im ersten Jahrgang hat
Rico Behrens 26 Lehrer ausgebildet. Nach einer Pilotphase startet das
Projekt ab dem kommenden Schuljahr auch in Niedersachsen.
Aus dieser Arbeit nahm er vor allem zwei Dinge mit: "Die Lehrer sind
kaum vorbereitet." Für sie sei es oft schwierig, rechtsextreme
Symbole als solche zu erkennen. Neonazis würden heute nicht mehr
Glatze und Springerstiefel tragen, wie Behrens sagt. Bands, Codes und
Kleidung zu erkennen, setze Wissen voraus, was oft fehle.
Zum zweiten bestehe in den Lehrerkollegien zum Teil kein Konsens. Die
Teilnahme von Pädagogen am Projekt sei längst nicht nur begrüßt
worden.
"Desinteresse war noch das freundlichste."
Die Rolle der AfD-Meldeportale
Mit den AfD-Meldeportalen würden einige Lehrer nun zusätzlich
verunsichert, sagt Behrens. Die AfD hat in mehreren Bundesländern
Internetportale freigeschaltet, auf denen Schüler politische Äußerungen von Lehrern melden können. Die AfD will damit
nach eigener Darstellung zur Durchsetzung des Neutralitätsgebots an
Schulen beitragen. Lehrerverbände und Vertreter anderer Parteien
rügten die Portale als Plattformen zur Denunziation.
Wie könnten Schulen bei dem Thema unterstützt werden?
Ilka Hoffmann
von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hält es für sinnvoll,
künftig verpflichtende Fortbildungen für Lehrer zum Umgang mit jeder
Form von Extremismus anzubieten. Im Studium sei die
Auseinandersetzung damit häufig optional.
Professor Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund forscht zur
Demokratieerziehung. Er glaubt, eine Schule allein könne gegen
Rechtsextremismus nicht viel ausrichten. Es brauche ein starkes
Zusammenwirken von Sportvereinen, Nachbarschaften und eben Schulen.
In einem sind sich fast alle einig: Es erfordere Zeit, damit Lehrer
reflektieren könnten, was der Beutelsbacher Konsens für sie bedeute.
Eine offene Debatte ist auch für Schulleiter Andreas Steiner wichtig.
Andreas Steiner, Schulleiter der Fichtenberg-Oberschule im Berliner Steglitz, im InterviewBild: dpa
Seine Oberschule liegt im Berliner Stadtteil Steglitz. Als das
AfD-Beschwerdeportal mit dem Namen "Neutrale Schule" in Berlin
begann, gab es eine intensive Diskussion unter den Lehrern.
Schließlich unterschrieben große Teile des Kollegiums eine
Selbstanzeige. Darin steht: "Wir gestehen, dass wir in unserem
Unterricht für Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit geworben haben."
Die Antwort kam umgehend. "Es hat mich sehr überrascht, wie
persönlich wir angegriffen worden sind", sagt Steiner rund vier
Monate nach der kollektiven Selbstanzeige. Wenige Tage danach wurden
von Schülern gemalte Plakate für Toleranz zerstört. In der Schule
tauchte ein Flyer auf, der mit "Heil dem Schulführer Andreas S."
unterschrieben war, wie Steiner berichtet.
Bereut er es, klar Position bezogen zu haben? Natürlich sorge man
sich, welche Folgen das für die Schule habe, sagt Steiner. Doch der
Zuspruch von Eltern, Schülern, Ehemaligen, Nachbarn und aus der
Politik für die Aktion sei überwältigend gewesen. Er ist der Ansicht,
dass politisch neutral zu sein nicht bedeutet, keine Meinung zu
haben. "Ich glaube, dass die Gesellschaft sich zu lange ausgeruht hat
und man gedacht hat, dass das mit der Demokratie schon läuft", sagt
er. "Jede Generation will aber von Neuem von der Demokratie überzeugt
werden."
(pb/dpa)