Das Leben in der Innenstadt von Düsseldorf sieht fast schon wieder so aus wie vor der Pandemie – doch die Abstandsregeln gelten weiterhin.Bild: www.imago-images.de / Rupert Oberhäuser
Deutschland
Alarmstimmung wegen Corona: Ist die zweite Welle schon da? Die Aussichten für viele Menschen in Deutschland sind alles andere als gemütlich.
26.07.2020, 18:4027.07.2020, 12:43
Angela Merkel ruft die Bürger in einer
Fernsehansprache zu solidarischem Handeln auf. Das sei so nötig wie
seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, sagt die Kanzlerin ernst. Kurz
darauf beschließen Bund und Länder ein Kontaktverbot für mehr als
zwei Personen. Die drastischen Notmaßnahmen gegen die Ausbreitung des
Corona-Virus versetzen Deutschland im März in eine gespenstische
Stille. Vier Monate später sind mehr als 205 000 Menschen
nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert. Stehen wir gerade am Beginn
der zweiten Infektionswelle? Droht sogar ein neuer Lockdown?
Mehr als 170 positive Tests bei Erntehelfern im niederbayerischen
Mamming und mindestens 44 Infektionen in Tourismusbetrieben im
österreichischen St. Wolfgang zeigen, wie schnell es gehen kann. "Die
zweite Corona-Welle ist schon da", sagt Sachsens Ministerpräsident
Michael Kretschmer (CDU). Der Freiburger Medizinstatistiker Gerd
Antes hält nichts von solchen Warnungen: Mit der "zweiten Welle"
werde ein falsches Bild vermittelt.
Andere sprechen von einer bleibenden Welle, die auf- und abschwillt.
Oder von Glutnestern, die aufflacken, erlöschen oder zu einem
Flächenbrand zusammenwachsen können.
Wie die Pandemie das Leben in Deutschland verändert hat
Fakt ist: Die Behörden sind beunruhigt. Weltweit verzeichnete die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Freitag einen Rekord an
Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. In Deutschland stieg die
Zahl der registrierten neuen Infektionen Ende der Woche an zwei Tagen
hintereinander auf einen hohen dreistelligen Wert. Bis Sonntagmorgen
waren es dann wieder "nur" 305 neue Fälle.
Die Pandemie hat tiefe Spuren im Land hinterlassen. 2,85 Millionen
Menschen sind arbeitslos – rund 640 000 davon als Folge von Corona.
6,8 Millionen Personen waren zuletzt in Kurzarbeit. Für etliche Unternehmen
war das zweite Quartal eine Katastrophe. Die Hälfte erwartet nach
Zahlen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags erst 2021 eine
spürbare Besserung – oder noch später.
Bei Kindern und Jugendlichen nahmen Hyperaktivität, emotionale
Probleme, Kopfschmerzen und Einschlaf-Schwierigkeiten zu, wie eine
Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt. Die
Bundesärztekammer beunruhigen besonders die "Kollateralschäden".
Viele hätten aus Angst vor einer Infektion gar nicht oder zu spät
ärztliche Hilfe gesucht, sagt Präsident Klaus Reinhardt. "Allein in
den Notaufnahmen wurden rund 30 Prozent weniger Patienten mit
Herzproblemen behandelt. Die Komplikationen nach einem Herzinfarkt
haben deutlich zugenommen, weil viele zu spät in eine Klinik gegangen
sind."
Bund und Länder sind alarmiert. "Wir sollten alles tun, um eine
zweite Infektionswelle zu verhindern", mahnt Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil (SPD). "Vor allem für bestimmte Branchen möchte ich mir
einen Rückschlag gar nicht ausmalen – etwa für die Gastronomen."
Sommerurlaub und Großbetriebe als Antreiber einer zweiten Welle?
Auch der Sommerurlaub ist ein Risikofaktor. Virologen warten mit Bangen aufs Ferienende. In
vielen Ländern ist die Corona-Entwicklung dramatisch. Nicht nur wegen
der Feiern am Ballermann in Mallorca, wo die Lokale dann ja wieder
schließen mussten, ist die Sorge groß. Alle Auslandsurlauber können
sich nun nach ihrer Rückkehr kostenlos auf das Virus testen lassen.
Virus im Gepäck? Kostenlose Tests am Flughafen sollen mögliche Infektionen von Reisenden schnell erkennen.Bild: www.imago-images.de / Ralph Peters
Auch Ausbrüche in Großbetrieben treiben Politikern Sorgenfalten ins Gesicht: Ein neues Gesetz mit schärferen Regeln für die
Großschlachtereien ist nach den Infektionen beim Wurst- und
Fleischkonzern Tönnies an diesem Mittwoch im Kabinett. Der
Arbeitsschutz sei nun zentral, sagt Heil. "Nicht nur in der
Fleischindustrie, sondern auch in anderen Bereichen, damit der
Arbeitsplatz nicht zum Infektionsherd wird."
Der Arbeitsminister betont, Deutschland habe sich bisher im
internationalen Vergleich sehr gut geschlagen – sowohl beim Schutz
der Gesundheit als auch bei den staatlichen Reaktionen auf die tiefen
wirtschaftlichen Einschnitte. Doch ist man auch für ein mögliches
Anschwellen bei Corona gewappnet?
Der Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan
Kooths, meint: "Gegenüber einem solchen Szenario sind die
Konjunkturmaßnahmen der Bundesregierung nicht robust." Zu sehr setze
die Regierung auf Anreize für den Massenkonsum, zu wenig auf
Zuschüsse für Firmen in Liquiditätsnot.
"Horrorszenarien eines neuen kompletten Lockdowns sind nicht realistisch."
Ärztepräsident Reinhardt hofft auf ein weiter vergleichsweise
niedriges Niveau der Infektionsrate – erreichbar durch Hygiene und
Abstand. "Dann könnten wir auch verhindern, dass es zu einem neuen
flächendeckenden Lockdown kommt. Denn den würden Gesellschaft und
Wirtschaft wohl kaum mehr in gleichem Umfang aushalten."
Das Gesundheitswesen könne allerdings im Fall eines Wiederaufflammens
der Pandemie schnell wieder voll auf Krisenmodus umschalten, sagt
Reinhardt. "Kliniken und Arztpraxen können die Kapazitäten im Fall
einer neuen Covid-19-Welle schnell hochfahren."
Kooths meint: "Horrorszenarien eines neuen kompletten Lockdowns sind
nicht realistisch." Aber alle Experten rechneten mit einer weiteren
Hängepartie bis Ende des Jahres – mit je nach lokaler und regionaler
Entwicklung mal strengeren, mal lockereren Anti-Infektions-Regeln.
Ungemütlich bleibt es nach Ansicht des Wirtschaftsforschers erstmal
so oder so. "Auf dem Arbeitsmarkt steht uns das Schlimmste noch
bevor." Weil die normale Bewegung auf dem Jobmarkt zum Erliegen
gekommen sei, Neueinstellungen ausblieben und Insolvenzzahlen im
Herbst steigen dürften, werde die Zahl der Arbeitslosen im Winter
ihren Höhepunkt mit rund drei Millionen erreichen. "Auch ohne große
zweite Welle ist die Krise längst nicht ausgestanden."
(lau/dpa)
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