Angela Merkel ruft die Bürger in einer Fernsehansprache zu solidarischem Handeln auf. Das sei so nötig wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, sagt die Kanzlerin ernst. Kurz darauf beschließen Bund und Länder ein Kontaktverbot für mehr als zwei Personen. Die drastischen Notmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus versetzen Deutschland im März in eine gespenstische Stille. Vier Monate später sind mehr als 205 000 Menschen nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert. Stehen wir gerade am Beginn der zweiten Infektionswelle? Droht sogar ein neuer Lockdown?
Mehr als 170 positive Tests bei Erntehelfern im niederbayerischen Mamming und mindestens 44 Infektionen in Tourismusbetrieben im österreichischen St. Wolfgang zeigen, wie schnell es gehen kann. "Die zweite Corona-Welle ist schon da", sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Der Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes hält nichts von solchen Warnungen: Mit der "zweiten Welle" werde ein falsches Bild vermittelt.
Andere sprechen von einer bleibenden Welle, die auf- und abschwillt. Oder von Glutnestern, die aufflacken, erlöschen oder zu einem Flächenbrand zusammenwachsen können.
Fakt ist: Die Behörden sind beunruhigt. Weltweit verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Freitag einen Rekord an Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. In Deutschland stieg die Zahl der registrierten neuen Infektionen Ende der Woche an zwei Tagen hintereinander auf einen hohen dreistelligen Wert. Bis Sonntagmorgen waren es dann wieder "nur" 305 neue Fälle.
Die Pandemie hat tiefe Spuren im Land hinterlassen. 2,85 Millionen Menschen sind arbeitslos – rund 640 000 davon als Folge von Corona. 6,8 Millionen Personen waren zuletzt in Kurzarbeit. Für etliche Unternehmen war das zweite Quartal eine Katastrophe. Die Hälfte erwartet nach Zahlen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags erst 2021 eine spürbare Besserung – oder noch später.
Bei Kindern und Jugendlichen nahmen Hyperaktivität, emotionale Probleme, Kopfschmerzen und Einschlaf-Schwierigkeiten zu, wie eine Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt. Die Bundesärztekammer beunruhigen besonders die "Kollateralschäden". Viele hätten aus Angst vor einer Infektion gar nicht oder zu spät ärztliche Hilfe gesucht, sagt Präsident Klaus Reinhardt. "Allein in den Notaufnahmen wurden rund 30 Prozent weniger Patienten mit Herzproblemen behandelt. Die Komplikationen nach einem Herzinfarkt haben deutlich zugenommen, weil viele zu spät in eine Klinik gegangen sind."
Bund und Länder sind alarmiert. "Wir sollten alles tun, um eine zweite Infektionswelle zu verhindern", mahnt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). "Vor allem für bestimmte Branchen möchte ich mir einen Rückschlag gar nicht ausmalen – etwa für die Gastronomen."
Auch der Sommerurlaub ist ein Risikofaktor. Virologen warten mit Bangen aufs Ferienende. In vielen Ländern ist die Corona-Entwicklung dramatisch. Nicht nur wegen der Feiern am Ballermann in Mallorca, wo die Lokale dann ja wieder schließen mussten, ist die Sorge groß. Alle Auslandsurlauber können sich nun nach ihrer Rückkehr kostenlos auf das Virus testen lassen.
Auch Ausbrüche in Großbetrieben treiben Politikern Sorgenfalten ins Gesicht: Ein neues Gesetz mit schärferen Regeln für die Großschlachtereien ist nach den Infektionen beim Wurst- und Fleischkonzern Tönnies an diesem Mittwoch im Kabinett. Der Arbeitsschutz sei nun zentral, sagt Heil. "Nicht nur in der Fleischindustrie, sondern auch in anderen Bereichen, damit der Arbeitsplatz nicht zum Infektionsherd wird."
Der Arbeitsminister betont, Deutschland habe sich bisher im internationalen Vergleich sehr gut geschlagen – sowohl beim Schutz der Gesundheit als auch bei den staatlichen Reaktionen auf die tiefen wirtschaftlichen Einschnitte. Doch ist man auch für ein mögliches Anschwellen bei Corona gewappnet?
Der Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, meint: "Gegenüber einem solchen Szenario sind die Konjunkturmaßnahmen der Bundesregierung nicht robust." Zu sehr setze die Regierung auf Anreize für den Massenkonsum, zu wenig auf Zuschüsse für Firmen in Liquiditätsnot.
Ärztepräsident Reinhardt hofft auf ein weiter vergleichsweise niedriges Niveau der Infektionsrate – erreichbar durch Hygiene und Abstand. "Dann könnten wir auch verhindern, dass es zu einem neuen flächendeckenden Lockdown kommt. Denn den würden Gesellschaft und Wirtschaft wohl kaum mehr in gleichem Umfang aushalten."
Das Gesundheitswesen könne allerdings im Fall eines Wiederaufflammens der Pandemie schnell wieder voll auf Krisenmodus umschalten, sagt Reinhardt. "Kliniken und Arztpraxen können die Kapazitäten im Fall einer neuen Covid-19-Welle schnell hochfahren."
Kooths meint: "Horrorszenarien eines neuen kompletten Lockdowns sind nicht realistisch." Aber alle Experten rechneten mit einer weiteren Hängepartie bis Ende des Jahres – mit je nach lokaler und regionaler Entwicklung mal strengeren, mal lockereren Anti-Infektions-Regeln.
Ungemütlich bleibt es nach Ansicht des Wirtschaftsforschers erstmal so oder so. "Auf dem Arbeitsmarkt steht uns das Schlimmste noch bevor." Weil die normale Bewegung auf dem Jobmarkt zum Erliegen gekommen sei, Neueinstellungen ausblieben und Insolvenzzahlen im Herbst steigen dürften, werde die Zahl der Arbeitslosen im Winter ihren Höhepunkt mit rund drei Millionen erreichen. "Auch ohne große zweite Welle ist die Krise längst nicht ausgestanden."
(lau/dpa)