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Deutschland
Fast jeder vierte Wähler in Thüringen hat sein Kreuz am Sonntag bei der AfD gemacht. Hinter den Linken landete die Partei auf Platz 2, noch vor der CDU. Das ist vor allem außergewöhnlich, weil in Thüringen nicht irgendein AfD-Landesverband zur Wahl stand – sondern der extremste rechte, den die AfD zu bieten hat. Und das ist auch bekannt, denn mit Björn Höcke führte der umstrittenste AfD-Politiker überhaupt und Kopf des rechtsradikalen "Flügels" innerhalb der Partei die Landesliste an.
Wie kann es sein, dass angesichts der rechten Eskapaden Höckes so viele Menschen sich dazu entscheiden, das Kreuz bei seiner Partei zu machen?
Ein Blick in die Wählerbefragungen und Gespräche mit Experten geben zumindest teilweise Antworten darauf. Die wichtigsten Erkenntnisse:
Es gibt zwei sehr unterschiedliche Arten von AfD-Wählern
Das erklärt Parteienforscher Oskar Niedermayer im Gespräch mit watson. "Die einen sind Überzeugungstäter – davon gibt es in Ostdeutschland deutlich mehr als im Westen. Die anderen sind laut eigener Angabe Denkzettel-Wähler, die auch in Thüringen noch immer die Mehrheit der AfD-Stimmen ausmachen."
Am besten ablesen lässt sich das aus dieser Wählerbefragung von Infratest dimap für die ARD.
Die Zahlen:
Die Kernerkenntnis: Während die Gesamtheit der Wähler in Thüringen ihre Wahlentscheidung aus Überzeugung traf, machen AfD-Wähler ihr Kreuz mehrheitlich als Zeichen des Protests bei der Partei.
Auch Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden sieht diese zwei Lager von AfD-Wählern. Zu watson sagt er:
"Wir beobachten seit geraumer Zeit, dass die AfD ein Sammelbecken für Unzufriedene ist, aber auch für Nationalkonservative, völkisch Denkende und Rechtsextreme, die sich vom System entfremdet haben oder es zu Fall bringen möchten."
Immer mehr AfD-Wähler sind Überzeugungstäter
Zwar sind die meisten AfD-Wähler nach wie vor Denkzettel-Wähler. Aber: "Früher war der Anteil der Protestwähler unter den AfD-Wählern sehr viel höher als heute", sagt Oskar Niedermayer. "Gerade in den Landesverbänden, die vom Flügel beherrscht werden, sind die Überzeugungstäter unter den Wählern mehr geworden."
Heißt: Zunehmend mehr Menschen, vor allem in Ostdeutschland, wählen die AfD, weil sie ihr Programm gut finden oder rechte Positionen teilen.
Protestwähler wählten nicht wegen Höcke die AfD – sondern eher trotz Höcke
"Wenn man sich ansieht, wie die AfD von den Leuten bewertet und wie Höcke als Spitzenkandidat bewertet wird, muss man sagen: Die AfD wurde trotz und nicht wegen Höcke gewählt", sagt Parteienforscher Niedermayer. Zumindest treffe das auf viele Protestwähler zu – bei den Überzeugungstätern sei das nochmal etwas anderes.
Höcke werde jedenfalls schlechter als die Partei bewertet. Das sei in Brandenburg und Sachsen noch anders herum, so der Parteienforscher. Er stellt fest:
"Höcke ist also auf keinen Fall ein Zugpferd gewesen für die AfD in Thüringen."
Das sieht man auch an dieser Statistik. Höcke spielte bei der Entscheidung für die AfD kaum eine Rolle. Die Zahlen:
Bild: ard
Viele finden Höcke zu rechtsextrem – warum sie dennoch AfD wählten
Zwar finden es AfD-Wähler größtenteils gut, dass Höcke grundsätzlich "kein Blatt vor den Mund nimmt". Trotzdem sagt fast jeder zweite AfD-Wähler, dass Höcke zu nah an rechtsextremen Positionen sei – und stimmte dann trotzdem für dessen Partei.
Die Zahlen:
Bild: ard
Wie passt das zusammen? Diejenigen, die Höcke zu rechtsextrem finden, sind eher nicht die Überzeugungstäter, sondern die Protestwähler.
Parteienforscher Niedermayer erklärt:
"Dass Höcke und sein Flügel als rechtsextremistisch einzuordnen sind, tritt bei der Wahlentscheidung der Protestwähler in den Hintergrund. Sie wollen den anderen Parteien einen Denkzettel verpassen – und wissen, dass das am einfachsten funktioniert, wenn sie AfD wählen."
Viele AfD-Wähler hätten Höcke billigend in Kauf genommen, sagt auch Politikwissenschafter Vorländer gegenüber watson. Dass Höcke rechtsextreme Positionen einnehme, "spielt bei den Wählern offenbar keine so entscheidende Rolle, weil sie aus Protest und Entfremdung gegenüber dem politischen System die AfD wählen wollen".
Wenn die Einwohnerzahl schrumpft, wachsen die AfD-Prozente
"Die AfD punktet vor allem in strukturschwachen Regionen, die gerade in den letzten Jahren eine hohe Abwanderung hatten", sagt Politikwissenschaftler Vorländer. Die Region im Osten Thüringens um Gera gelte als strukturschwach. "Hier kann die AfD punkten, so etwa auch im Kyffhäuserkreis."
Die Zahlen zeigen den Zusammenhang zwischen Schrumpfen und AfD-Zuwächsen:
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Dabei kommt der AfD zu Gute, dass in Thüringen einzig in der Landeshauptstadt Erfurt die Bevölkerungszahl wächst – überall sonst im Land schrumpft sie. Perfekte Voraussetzungen für die AfD, schlechte hingegen für die Grünen, wie sich schließlich auch im Wahlergebnis zeigte. Denn die Grünen punkten ansonsten vor allem in wachsenden Städten – welche es in Thüringen außerhalb Erfurts nicht gibt.
Bild: ARD
Das Gefühl, in einer sterbenden Region zu leben, treibt Wähler tendenziell eher zur AfD. Es seien "auch soziale und demographische Faktoren, die zu Verlusterfahrungen oder zumindest Verlustängsten führen, die dann ein solches Wahlverhalten bestimmen", sagt Vorländer. "Ganz abgesehen von denen, die sowieso völkische oder nationalkonservativ bis rechtsextreme Einstellungen teilen."
Zuwanderung bleibt das Top-Thema bei AfD-Wählern
"Bei den Stimmen für die AfD kommen unterschiedliche Motive zusammen. Die Flüchtlingspolitik, die Klimapolitik, allgemeine Unzufriedenheit", erklärt Vorländer weiter.
Trotz Flüchtlingszahlen, die seit langem auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als 2015 sind, bleibt der Schwerpunkt Zuwanderung das Haupt-Thema, weswegen Menschen ihr Kreuz bei der AfD machen.
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Auf Platz 2 steht paradoxerweise das Thema Rente – obwohl die AfD nach wie vor kein Rentenkonzept vorgelegt hat.
Am Ende haben nicht Abtreibungen, der Klimawandel oder die Außenpolitik die US-Präsidentschaftswahl entschieden. Wichtigstes Thema waren die Inflation und die Preise. Für 34 Prozent der republikanischen Wähler:innen war es laut einer Umfrage von YouGov ausschlaggebend für die Wahlentscheidung.