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Organspende: Arzt erschüttert über Bundestagsbeschluss: "Kann man nur noch auswandern"

Nach Organspende-Gesetz Abstimmung im Bundestag
Kontakt zu Organspendern. Kann trotz abgelehnter Widerspruchslösung eine Zunahme von Organspenden 2020 erreicht werden?
FDP-Vize Wolfgang Kubicki ist überrascht über die Entscheidung des Bundestages zur Organspende.Bild: Getty Images / imago images / Christian Spicker / watson Montage
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Ärzte erschüttert nach Organspende-Beschluss: "Rabenschwarzer Tag für unsere Patienten"

17.01.2020, 16:19
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Heiß diskutiert, lauwarm entschieden: Am Donnerstag hat der Bundestag über Gesundheitsminister Jens Spahns kontroversen Vorschlag zur Neuregelung der Organspende abgestimmt. Die sogenannte doppelte Widerspruchslösung wurde mit knapper Mehrheit, 56 Prozent der Stimmen, abgelehnt.

Angenommen wurde dafür Annalena Baerbocks moderater Vorschlag zur informierten Entscheidungslösung. Auf bürokratischer Ebene bedeutet das: mehr Briefe sowie der Hinweis auf eine mögliche Organspende beim Abholen des Personalausweises. Aus medizinischer Sicht heißt das: erst einmal nicht viel. Schließlich gilt in Deutschland schon seit Jahren die Entscheidungslösung, bei der man einer Organspende aktiv zustimmen muss.

Wolfgang Kubicki, der die Abstimmung zur Neuregelung der Organspende durchgeführt hat, zeigt sich überrascht über das Ergebnis. Gegenüber watson sagt er:

"Der Bundestag hat erstaunlich deutlich gegen die Spahn-Regelung bei der Organspende votiert. Ich halte auch die Entscheidungslösung für die bessere, wenngleich ich nicht alle Elemente der jetzt verabschiedeten Vorlage richtig finde.

Ich hoffe, dass es uns jetzt gelingt, mehr Menschen zu bewegen, sich mit der wirklich schwierigen Frage der Organspende zu befassen."

Dass aktuell verstärkt über das Thema Organspende diskutiert wird, erfreut sicherlich viele Patienten und Mediziner.

Angesichts der über 9500 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, zeigen sich dennoch viele Ärzte enttäuscht. Watson hat mit fünf von ihnen gesprochen. Das sind ihre Reaktionen auf die Ablehnung der Widerspruchslösung.

"Meine Enttäuschung ist grenzenlos"

Dr. Helmut Arbogast ist Leiter der Chirurgische Poliklinik A der Uni-Klinik München. Er ist nach der Ablehnung der Widerspruchslösung erschüttert. Per E-Mail schreibt er watson am Donnerstag:

"Heute ist ein rabenschwarzer Tag für unsere Patienten. (...) Es wird im Prinzip an der bisherigen mangelhaften Regelung festgehalten. Deutschland wird im Jammertal des Spendermangels verweilen und seinen Platz als Schlusslicht im internationalen Vergleich behalten.

Als Betroffener kann man in der Tat nur noch auswandern; hierfür stehen nahezu alle Himmelsrichtungen zur Verfügung, da wir in Deutschland nahezu eine 'Insel' im Meer von Widerspruchslösungen sind.

Wieder einmal hat sich das über 90 Jahre alte Zitat von Kurt Tucholsky bewahrheitet: 'Wenn der Deutsche nichts hat, Bedenken hat er immer.'

Meine Enttäuschung ist grenzenlos."

"Für schwerst herzkranke Menschen stellt die aktuelle Entscheidung keine Verbesserung dar"

Professor Dr. Jan Gummert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie, schreibt in seinem Statement an watson:

"Als Herzchirurgen sind wir bitter enttäuscht. Mehr als dreimal soviel Menschen warten aktuell auf ein Spenderherz, wie geeignete Organe zur Verfügung stehen. Für diese schwerst herzkranken Menschen stellt die aktuelle Entscheidung keine nennenswerte Verbesserung dar. Wir werden auch künftig auf Spenderorgane außerhalb Deutschlands angewiesen sein.

Die Widerspruchslösung ist erfolgreich, das zeigen die europäischen Nachbarländer. Ebenso gab es eine große Zustimmung in der deutschen Bevölkerung. Wir setzen uns weiterhin mit allen Kräften für unsere Patienten ein.“

"Die Widerspruchslösung wurde von vielen Menschen als Zwang wahrgenommen"

Auch Joachim Hoyer, Direktor des Transplantationszentrums Marburg, hat sich am Tag des Beschlusses per E-Mail an watson gewandt. Er zeigt sich von der Ablehnung der Widerspruchslösung nicht schockiert, betont aber, wie wichtig es ist, weiterhin über die Organspende zu debattieren:

"Es ist schön, dass das Thema Organspende heute so gut im Bundestag diskutiert wurde. Wenn sich die Zustimmungslösung in der Bevölkerung umsetzen lässt und sich die Menschen mehr mit dem Thema beschäftigen, ist das ein großer Fortschritt.

Wir sollten nicht unnötig dramatisieren, dass der Bundestag gegen die Widerspruchslösung entschieden hat. Das bringt uns nicht weiter. Außerdem ist das nicht schlimm. Alles, was die Leute anhält, sich zu entscheiden, ist wichtig – und das deckt die Zustimmungslösung ab.

Zudem wurde die Widerspruchslösung von vielen Menschen als Zwang wahrgenommen. Für die Transplantationsmedizin und die gesamte Thematik ist das nicht förderlich. Ich würde mir wünschen, dass es zu dem Thema mehr Diskussionen von der Qualität im Bundestag gibt, wie es heute der Fall war."

"Für Leber und Lunge gibt es keine Alternative zur Transplantation außer dem Tod"

Die meisten Ärzte, die watson kontaktiert hat, sehen die Entscheidung jedoch sehr negativ. So auch Hans-Joachim Schäfers. In seiner Nachricht schreibt Professor Schäfers, Direktor der Klinik für Thorax- und Herz-Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums des Saarlandes, vor allem über die Situation der Lungen- und Leberpatienten:

"Ich bedauere die heutige Entscheidung sehr, auch wenn sie mich nicht überrascht hat.

Gesundheitsminister Spahn hat einige der wichtigen Aspekte in seiner Rede vorgetragen, die ich auszugsweise verfolgt habe. Seinem Wortlaut kann ich mich nur anschließen. Was er (vielleicht mangels Sachkenntnis) nicht so deutlich vorgetragen hat, ist die Situation derer, die auf ein Organ warten. Für Herz und Niere gibt es ja funktionierende 'Maschinen', die ein Leben ermöglichen. Dass dies weit entfernt von einem normalen Leben ist, könnte man im Detail erläutern.

Anders ist es für Leber und Lunge, für die es keine Alternative zur Transplantation gibt, außer dem Tod.

Wahrscheinlich am größten ist das Leiden der schwerst lungenkranken Menschen, die über einen Zeitraum von ein bis drei Jahren einen langsamen Erstickungstod sterben beziehungsweise vor Augen haben. Diese Menschen sterben in Deutschland mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 30 Prozent, da einfach nicht genügend Organe zur Verfügung stehen.

Das Leiden und die Perspektive dieser Menschen zu ignorieren, ist aus meiner Sicht bedauerlich und wirft ein bedenkenswertes Licht auf unsere Gesellschaft. Wo wollen wir denn hin, wenn alle erwarten, aber die Bereitschaft, zu geben, fehlt?"

"Das beschlossene Gesetz ist ein Fortschritt gegenüber der bisherigen Regelung"

Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, erklärt gegenüber watson:

"Die Entscheidung des Bundestages ist sicher nicht das, was sich die schwerkranken Menschen auf der Warteliste erhofft haben. Auch die Ärzteschaft hatte sich für die Widerspruchslösung ausgesprochen. Die Widerspruchslösung hätte die Bürger in die Pflicht genommen, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden und so zu einer deutlichen Steigerung der Spenderzahlen führen können.

Trotzdem ist das beschlossene Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft ein Fortschritt gegenüber der bisherigen Regelung. Sinnvoll ist insbesondere das vorgesehene Online-Register zur schnellen Feststellung der Spendebereitschaft.

Die regelmäßige Abfrage der Organspendebereitschaft kann dazu beitragen, die Menschen stärker als heute für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren. Auch wenn wir uns eine andere Entscheidung gewünscht hätten, werden wir alles daran setzen, dieses Gesetz zu einem Erfolg zu machen."

Wie geht es nun weiter beim Thema Organspende?

Die Organspende bleibt weiterhin eine freie Entscheidung. Zusätzlich soll allerdings mehr über das Thema informiert werden – mindestens jedes Mal, wenn man seinen Personal- oder Reiseausweis verlängert. Bereits getroffene Entscheidungen können nach wie vor geändert werden. Auch werden weiterhin Angehörige nach dem Willen des Verstorbenen zur Organspende befragt, sollte dieser zum Zeitpunkts des Ablebens nicht verschriftlicht worden sein.

Außerdem soll ein Online-System geschaffen werden, in das Mitbürger ihre Entscheidung selbst eintragen können. Ein wenig modernisiert wird die Organspende also zumindest in dieser Hinsicht. Ob sie die Spendenzahlen so in die Höhe treibt, wird sich zeigen.

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