Es ist das erste Wiedertreffen von Marvin und Christian. Die beiden jungen Männer haben zusammen die Fläming-Grundschule in Berlin besucht, sich danach aber offenbar aus den Augen verloren.
Christian ist gerade dabei umzuziehen, auf den Boden seines WG-Zimmers stehen Kartons und Bücherstapel. Marvin wohnt noch zuhause bei seinen Eltern und träumt von einer eigenen Wohnung.
Es ist die erste Begegnung der beiden seit Jahren. Beide sind mittlerweile erwachsen geworden, beide suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft.
Was ihr Treffen so besonders macht, ist ihre gemeinsame Vergangenheit: Die Fläming-Grundschule war eine der ersten Schulen in der Republik, die die Inklusion von Kindern mit Behinderung umsetzte. Marvin tat sich als Kind schwer mit dem Sprechen und lernte langsam. Aber in der Grundschule war er genauso Teil der Klasse wie Christian.
Dann kam der Bruch: Zunächst wechselte Marvin zusammen mit den anderen Kindern nach der Grundschulzeit an die Sophie-Scholl-Oberschule, ging nach zwei Jahren aber an die Loschmidt-Oberschule, einer Berufsschule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt.
Im Treffen der alten Grundschulkameraden wird deutlich, was dieser Bruch für Marvin bedeutete. Der Dokumentar-Film "Kinder der Utopie" von Regisseur Hubertus Siegert erzählt die Geschichte von Marvin und Christian und vier weiteren "Kindern" der Fläming-Grundschule.
Bereits 2004 hatte Filmemacher Siegert die Kinder während ihrer Schulzeit begleitet. Daraus entstand der Film "KlassenLeben", der 2005 erschienen ist. In einer der Szenen dieses Vorgängers von "Kinder der Utopie" ist zu sehen, wie Christian während der Schulzeit weinte. Nach der Aufforderung der Lehrerin nahm Marvin ihn in den Arm. "Das ist doch mein Kumpel."
Nun, mehr als ein Jahrzehnt später, versuchen Marvin und Christian bei ihrer erneuten Begegnung herauszufinden, was seit der gemeinsamen Schulzeit alles passiert ist. Sie reden über ihre Zukunftsträume, Marvin will noch immer Feuerwehrmann werden, er arbeitet derzeit in einer Behindertenwerkstatt. Er sehnt sich nach einem Job, der es ihm erlauben würde, allein zu wohnen. Christian hat gerade sein Studium abgebrochen und bereitet sich darauf vor, jetzt Wirtschaftspsychologie zu studieren.
Die beiden sprechen aber auch darüber, was Inklusion für sie bedeutet.
Marvin berichtet, dass er in der Oberschule immer mit allen Kindern, die eine Behinderung hatten, draußen zusammen spielen musste. Statt mit den anderen Kindern zu bleiben. "Das war meiner Meinung nach ein Fehler", sagt er.
Es ist eine Szene wie diese, die offenbart, was Inklusion vor allem für diejenigen bedeutet, die davon betroffen sind: die Kinder.
Genau das lobt auch Aktivist Raul Krauthausen, der den Film unterstützt, an "Die Kinder der Utopie" im Gespräch mit watson:
Gegner der Inklusion an Schulen werfen gerne ein: Kinder mit Behinderung würden das Lerntempo bremsen, die anderen Kinder würden nicht genügend gefördert, Kinder mit Behinderung würden an der Schule womöglich ausgegrenzt und verspottet.
"Die Kinder der Utopie" nimmt keins dieser Argumente direkt unter die Lupe, aber es lässt die Kinder von ihren Erfahrungen sprechen. So wie Christian, der schildert, dass Kinder eben unterschiedlich schnell lernen. Oder wie manche Kinder später wegen ihrer Behinderung gehänselt worden seien, während es in ihrer Klasse eine "natürliche Toleranz" gegeben habe.
Krauthausen sagt dazu: "Ich kann mir vorstellen, dass der Film viele Momente enthält, in denen sich Inklusionsskeptiker bestätigt fühlen. Zum Beispiel beim Thema Berufswahl. Allerdings hat der Film auch genau das beabsichtigt: Dass wir uns begegnen und miteinander diskutieren."
Diese Momente über Inklusion aber werden noch hervorgehoben durch jene Szenen in "Kinder der Utopie", die zeigen: Erwachsenwerden ist immer schwierig – und oft genug beschissen. Auch Christian hat einen wichtigen Einschnitt in seiner Biographie hinter sich: Er outete sich. "Aber du wirkst doch gar nicht schwul", habe seine Mutter nach seinem Coming-out gesagt. "Ja, ich habe auch lange versucht, es mir nicht anmerken zu lassen", erklärt Christian.
Oder da wäre Luca. Sie fotografiert gerne, aber glaubt, dass die Konkurrenz um einen Studienplatz für Fotografie zu groß gewesen wäre. Jetzt studiert sie Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität in Lüneburg, aber ist sich nicht sicher, was sie später im Leben machen will.
"Kinder der Utopie" ist genauso ein Coming-of-Age-Film wie ein Film über Inklusion. "Man kann den Eindruck gewinnen: Wir brauchen alle irgendwo Unterstützung", sagt Krauthausen.
Für den Aktivisten sind es viele kleine Momente in dem Film, die die Aufnahmen besonders machen. "Wie sie miteinander umgehen, nachdem sie sich jahrelang nicht gesehen haben. Wie sie sich umarmen. Wie der Lauteste in der Gruppe einen empathischen Moment hat, als er auf dem Friedhof bemerkt, wie sich eine Klassenkameradin unwohl fühlt."
Am Ende des Films besuchen die "Kinder der Utopie" einen Friedhof, hier liegt ihre ehemalige Klassenkameradin Lena begraben. Sie hatte einen seltenen Gendefekt, konnte in der Grundschule nicht mehr laufen oder sprechen und starb noch im Kindesalter. Als Natalie zu weinen beginnt, ist es der selbstbewusst auftretende Dennis, der sie zu trösten versucht.
Raul Krauthausen ist der Meinung: "Wenn Kinder gemeinsam aufwachsen, dann sind sie mit Vielfalt konfrontiert." Und würden alle Menschen automatisch mit gleich viel Respekt und Empathie behandeln.
Deswegen ist er auch überzeugt, dass vor allem Eltern mit Kindern ohne Behinderung den Film sehen sollten: