Die SPD rückt nach links und riskiert eine Zerreißrobe in der großen Koalition. Auf ihrem Parteitag forderten die Sozialdemokraten in Berlin die perspektivische Überwindung der Schuldenbremse und die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Außerdem beschlossen sie eine Abkehr von der Sozialagenda 2010 ihres früheren Kanzlers Gerhard Schröder und von Hartz IV.
"Wir sind Aufbruch, wir gehen in Richtung der neuen Zeit", sagte die neue Parteichefin Saskia Esken am Sonntag vor den Delegierten. Die Union lehnte zentrale Forderungen der SPD unmittelbar ab.
In den kommenden Tagen wollen Esken und Norbert Walter-Borjans, die frisch gewählte SPD-Spitze, den Koalitionspartner zum Kennenlernen treffen. Auch die Verhandlungen über Nachbesserungen am Kurs der großen Koalition sollen rasch beginnen.
"Bei der SPD ist neu, dass wir uns klar zu den Positionen der Sozialdemokratie bekannt haben, über eine Denkweise aus einer Koalition hinaus", sagte Walter-Borjans. Notfalls wollen die neuen SPD-Chefs die Koalition mittelfristig verlassen.
Arbeitsminister Hubertus Heil kündigte für Anfang 2020 ein Gesetz zur Abmilderung der Hartz-Sanktionen an. Er erinnerte daran, dass die SPD unter ihrer früheren Chefin Andrea Nahles die Arbeit am neuen Sozialkurs begonnen habe: "Das ist ihr Vermächtnis."
Die SPD fordert zudem eine Kindergrundsicherung von mindestens 250 Euro für jedes Kind pro Monat, eine Bürgerversicherung in der Pflege und die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro.
Heftige Auseinandersetzungen in der Koalition sind programmiert. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer lehnte mehrere Forderungen der SPD sogleich ab. An der Schuldenbremse im Grundgesetz solle nicht gerüttelt werden, sagte sie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ("F.A.S."). "Es hat keinen Sinn, neue Schulden zu machen." Vorhandene Gelder flössen zu langsam ab. Der SPD-Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro setzte sie entgegen, dass weiter eine unabhängige Expertenkommission zuständig sein solle.
Zu geforderten Nachbesserungen am Klimapaket verwies die CDU-Chefin in der "Bild am Sonntag" auf die Einigung in der Koalition. "Jetzt läuft das Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat. Wir können nicht wieder bei Null anfangen." Kramp-Karrenbauer betonte: "Ich hätte mir ein wirklich klares Signal des SPD-Parteitags zur Fortsetzung der großen Koalition gewünscht."
Esken rechnet mit ersten Gesprächen mit der Union noch vor Weihnachten. Der neue SPD-Vize und Juso-Bundeschef Kevin Kühnert forderte einen klar definierten Anfang und ein Ende der Verhandlungen – sie dürften nicht länger dauern als die ursprünglichen Koalitionsgespräche. Die eigentlichen Verhandlungsgespräche von Union und SPD Anfang 2018 hatten nicht einmal zwei Wochen gedauert. Walter-Borjans sagte:
Der CDU-Vizevorsitzende Armin Laschet sagte der "Welt am Sonntag" dennoch: "Nach dem Parteitag der SPD bin ich zuversichtlicher als zuvor, dass die Koalition hält." Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident zeigte sich bereit, über einen höheren CO2-Preis zu sprechen. "Darüber reden wir sowieso mit den Grünen", sagte er.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt betonte in der "F.A.S.": "Dass die SPD sich für ein Signal der Vernunft entschieden hat und damit für den Verbleib in der Regierungsverantwortung, halte ich für eine kluge Entscheidung." Die Linksbewegungen könnten aber zu Belastungen in der Koalition führen. Der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz attestierte der SPD, "in der letzten suizidalen Phase ihrer Existenz als Volkspartei" zu sein.
Die Grünen zeigten sich enttäuscht. Er sehe bei der SPD nur ein "Weiter so", sagte der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck der "F.A.S". "Ich hätte mir gewünscht, dass vom SPD-Parteitag eine klare Entscheidung ausgeht: Regieren mit voller Energie oder eben nicht. Diese Klarheit braucht das Land."
Der Linken-Vorsitzende Bernd Riexinger lobte die SPD auf Twitter für ihren Linksschwenk: "Besser spät als nie! (...) Wir sind gespannt, wie sie das jetzt umsetzen wollen!"
(pcl/dpa)