Hunderte Plakate hatte der rechtsextreme Verein "Ein Prozent" laut eigenen Angaben vor den Wahlen in den beiden ostdeutschen Bundesländern tapeziert. Darauf steht in fetten schwarzen Lettern auf orangem Grund: "Damit deine Stimme nicht für die Tonne ist: Wahlbeobachter werden." Daneben ist ein Mülleimer mit der Aufschrift "Wahlurne" zu sehen. Der Verein gibt außerdem an, auch Radiospots und Zeitungsanzeigen geschaltet zu haben. Bis zur Sperrung der Accounts wenige Tage vor den Wahlen machte "Ein Prozent" auf Facebook und Instagram Werbung.
"Ein Prozent" ist ein rechtsextremes Kampagnen-Netzwerk und eng verbandelt mit der "Identitären Bewegung". In Halle an der Saale nutzt der Verein etwa Räume im Hausprojekt der Identitären. Der Verein stellt ein Bindeglied zwischen der AfD, den Identitären (die eigentlich auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD stehen) und rechtsextremen Straßenprotesten dar.
Die Wahlbeobachtungs-Kampagne ist das bislang größte Projekt des Vereins. Das große Narrativ der Kampagne: Der Wahlerfolg der AfD ist durch Wahlbetrug gefährdet. Wer also wirklich eine "patriotische Wende" wolle, der müsse nicht nur die richtige Partei wählen, sondern auch als Wahlbeobachter dafür sorgen, dass es bei der Auszählung der Stimmen mit rechten Dingen zugeht.
Das ist am Tag nach der Wahl wohl die wichtigste Frage zur Kampagne von "Ein Prozent". Und sie lässt sich anhand der bisherigen Informationen schnell beantworten.
Robert Kluger, stellvertretender Landeswahlleiter in Sachsen, sagt auf watson-Anfrage:
Ähnliches teilt uns die Pressesprecherin des Landeswahlleiters in Brandenburg, Frederike Alm, mit:
Auch "Ein Prozent" hat auf seiner Website bislang nicht von tatsächlichen Wahlbetrugs-Versuchen berichtet. Auf eine watson-Anfrage hat der Verein bisher nicht geantwortet.
Aus der AfD selbst wurden in den vergangenen Wochen Ängste vor einer möglichen Manipulation der Landtagswahlen geschürt. Der Berliner AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio sprach noch am Wahlsonntag über die angebliche Gefahr eines Wahlbetrugs. In einem auf seinem Youtube-Kanal veröffentlichten Grußwort thematisierte Curio die letzten Umfragen vor den Wahlen. In denen hatten die SPD in Brandenburg und die CDU in Sachsen zugelegt. Curio deutete an, das könnte die Vorbereitung eines Wahlbetrugs sein: Er habe auf Wahlkampfveranstaltungen in beiden Bundesländern immer wieder gehört, "dass die kürzlichen Umfrageänderungen, wo also die GroKo-Parteien nach oben gehen, dass es dafür eigentlich keine Gründe vor Ort gibt. Also die Kollegen aus den Landesverbänden sind der Meinung, das wird eine Frage der Wahlbeobachtung, um es mal sehr vornehm auszudrücken."
Auch der brandenburgische AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz sprach eine Woche vor den Wahlen von Wahlbetrug als "realer Gefahr". "Wir klären da breitflächig auf, zusammen mit Ein Prozent", sagte er in einem Interview mit dem AfD-Youtubekanal "AfD Kompakt".
Als Grund für seine Sorgen nannte Kalbitz Berichte über einen angeblichen Wahlbetrugs-Fall bei den vergangenen Kommunalwahlen in Brandenburg im Mai 2019. Der Berliner "Tagesspiegel" hatte zuvor berichtet, ein Wahlhelfer habe in einem Wahllokal im Landkreis Oder-Spree das Wahlergebnis manipuliert. Der Mann sagte der Zeitung, er habe mindestens 50 Stimmen der AfD heimlich den Grünen zugeschlagen. Mehrere Medien hatten den Bericht anschließend aufgegriffen. Mittlerweile gibt es jedoch große Zweifel, ob es den Wahlbetrug überhaupt gegeben hat.
Die Faktenchecker des Recherchenetzwerks "Correctiv" sind dem Fall nachgegangen. Sie kommen zu dem Schluss, es gebe keine Belege für den angeblichen Wahlbetrug. Der Kreiswahlleiter habe das betroffene Wahllokal offenbar identifizieren können und habe alle Stimmzettel nachzählen lassen. Dabei habe es beim Ergebnis der AfD lediglich eine Abweichung von fünf Stimmen gegeben. Das sei jedoch normal und durch Unaufmerksamkeit und Erschöpfung erklärbar.
Ebenfalls sei es falsch, dass die Staatsanwaltschaft in dem Fall ermittle, wie der "Tagesspiegel" es zunächst gemeldet hatte. Es sei lediglich geprüft worden, ob der Anfangsverdacht einer Straftat bestehe, zitiert "Correctiv" einen Sprecher der Staatsanwaltschaft Potsdam.
Watson sprach schon vor den Kommunal- und Europawahlen im Mai mit dem Politikwissenschaftler Kai Arzheimer von der Universität Mainz über die Wahlbeobachtungs-Kampagnen von "Ein Prozent" und AfD. Die Vorstellung, dass es in Deutschland Wahlmanipulationen gebe, hält Arzheimer für unsinnig. Er erklärte: "Das an den Universitäten Harvard und Sydney angesiedelte internationale Election Integrity Project hat die Bundestagswahl 2017 mit einem Score von 81 (auf einer Skala von 0-100) bewertet", erklärt er. Das sei der fünfthöchste Wert weltweit.
Bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen werden verschiedene Vorkehrungen getroffen, um Wahlmanipulationen zu verhindern. Bei der Stimmauszählung gilt etwa das Vieraugenprinzip, keine wichtigen Entscheidungen werden von einzelnen Personen alleine getroffen. Außerdem erfolgt die Stimmauszählung dezentral in den einzelnen Wahllokalen. Eine Manipulation der Auszählung durch eine zentrale Stelle ist dadurch unmöglich. Und: Die Stimmzettel werden auch nach der Auszählung aufbewahrt und können erneut ausgezählt werden, wenn es einen Verdacht auf Unregelmäßigkeiten gibt.
Schon vor den Europa- und Kommunalwahlen hatte "Ein Prozent" Werbung für seine Wahlbeobachtung gemacht – damals noch mit geringerem Aufwand. Dabei arbeitete der Verein auch mit AfD-Politikern wie Maximilian Krah und Andreas Kalbitz zusammen, die die Kampagne in Videostatements bewarben.
Die Landtagswahlen zeigen erneut, wie nah sich die Partei und der rechtsextreme Verein sind: Schon kurze Zeit, nachdem die ersten Hochrechnungen den Wahlerfolg der AfD in beiden Bundesländern zeigten, veröffentlichte "Ein Prozent" in seinem Kanal in der Messenger-App Telegram eine Grußbotschaft des brandenburgischen AfD-Spitzenkandidaten Kalbitz. Darin bedankt er sich "bei allen, die dieses Wahlergebnis möglich gemacht haben": "Bei allen Mitstreitern auch ihren Angehörigen, die viel zu erdulden hatten, und Ein Prozent. Zusammen sind wir stark, gemeinsam haben wir das erreicht, und noch viel mehr."
Auch ein Werbevideo des Vereins zeigt, worum es den vermeintlichen "Wahlbeobachtern" eigentlich geht: Um Werbung für rechtsextremes Gedankengut und eine "patriotische Wende". Das Video hat den Titel "#Wende2019: Taten statt Worte!" Unter dem Motto "Wende 2019" stand auch die Wahlkampagne der AfD in Brandenburg. Auch wenn "Ein Prozent" nicht direkt zur Wahl der AfD aufruft, wirkt die Wahlbeobachtungs-Kampagne in erster Linie wie eine Wahlkampf-Aktion für die AfD. "Ein Prozent"-Chef Philip Stein erklärt in dem Video: "Als Bürgerinitiative sind wir dabei nicht an die Spielregeln der Parteien gebunden."
Die Aktivitäten von "Ein Prozent" erinnern dabei an die des AfD-Unterstützervereins "Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten". Dieser – offiziell nicht mit der Partei verbundene – Verein hatte vor der Bundestagswahl 2017 ebenfalls eine groß angelegte Wahlkampf-Kampagne gestartet und dabei offen zur Wahl der AfD aufgerufen. Es wurde der Verdacht der illegalen verdeckten Parteienfinanzierung durch den Verein laut.
Beobachter sehen hinter den Wahlbeobachtungs-Kampagnen von "Ein Prozent" und AfD noch ein weiteres Motiv. Politikwissenschaftler Kai Arzheimer sagte zu watson:
Wie anschlussfähig das in der rechtsextremen Szene ist, zeigt ein Blick auf den Wahlsonntag. Auch der Rechtsextremist Sven Liebich nahm als Wahlbeobachter in einem Wahllokal im sächsischen Delitzsch an der "Ein Prozent"-Kampagne Teil. Liebich organisiert regelmäßig Kundgebungen in Halle an der Saale, vertreibt in seinem Onlineshop rassistische T-Shirts und Aufkleber und betreibt einen rechtsextremen Blog, der sich vor allem auf das Verbreiten von Falschmeldungen spezialisiert hat.
Dadurch ist Liebich in den vergangenen Jahren zu einer Art "Influencer" in einem Teil der rechtsextremen Szene geworden. Seinen Telegram-Kanal haben rund 6.500 Menschen abonniert, seine Telegram-Gruppe hat fast 1.500 Mitglieder, die dort auch miteinander diskutieren können. Die Gespräche und Diskussionen sind dort zumeist durch eine heftige Menschenverachtung geprägt.
Am Sonntag waren die Wahlen dort das Thema Nummer eins. Neben Liebig kündigten auch mehrere andere Gruppenmitglieder an, sich an der Wahlbeobachtung zu beteiligen. Man diskutierte die Wahrscheinlichkeit eines Wahlbetrugs.
Dabei zeichneten sich zwei Lager ab: Manche betonten, wie wichtig Wahlbeobachtung sei, um Manipulationen zu verhindern. Andere erklärten, dass Wahlen eh nichts bewirkten und das Ergebnis bereits im Voraus feststehe.
Einig waren sich alle Mitglieder von Liebichs Telegram-Gruppe, die am Sonntag etwas dazu gepostet haben, in einem Punkt: Bei den Wahlen wurde betrogen. Belege dafür lieferte jedoch niemand.