Führende Aerosol-Forscher aus Deutschland fordern von der Politik einen Kurswechsel bei den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. "Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass drinnen die Gefahr lauert", heißt es in einem Brief an die Bundesregierung und an die Landesregierungen, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Sars-CoV-2 werde fast ausnahmslos in Innenräumen übertragen.
"Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt", kritisieren die Verfasser. In Wohnungen, Büros, Klassenräumen, Wohnanlagen und Betreuungseinrichtungen müssten Maßnahmen ergriffen werden. In Innenräumen finde auch dann eine Ansteckung statt, wenn man sich nicht direkt mit jemandem treffe, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten habe, warnen sie.
Es gilt als sicher, dass sich das Coronavirus vor allem über die Luft verbreitet. Das kann über die Tröpfchen geschehen, die beim Husten und Niesen entstehen und beim Gegenüber über die Schleimhäute aufgenommen werden. Oder über Aerosole, Gemische aus festen oder flüssigen Schwebeteilchen in der Luft, die Sars-CoV-2-Partikel enthalten. Sie sind definiert als Tröpfchenkerne kleiner als fünf Mikrometer und bleiben meist länger in der Luft als größere Tropfen, die rasch zu Boden sinken. Aerosol-Teilchen können Stunden bis Tage in der Luft schweben. Andere Infektionswege – etwa über Oberflächen – spielen eine wesentlich geringere Rolle für das Infektionsgeschehen.
Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien kontraproduktiv, heißt es in dem Brief der Aerosol-Forscher weiter. Maßnahmen wie die Maskenpflicht beim Joggen an der Alster in Hamburg etwa seien eher symbolischer Natur und ließen "keinen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen erwarten". Im Freien seien Ansteckungen äußerst selten, im Promille-Bereich. Hierauf sollten die begrenzten Ressourcen nicht verschwendet werden. Auch würden im Freien keine größeren Gruppen – sogenannte Cluster – infiziert, wie das in Innenräumen etwa in Heimen, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten zu beobachten sei.
Auch Ausgangssperren, wie sie der Bund befürwortet, versprechen aus Sicht der Wissenschaftler mehr, als sie halten können. "Die heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen", schreiben sie. "In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen."
Die Bundesregierung dringt darauf, bei der Regelung bundesweiter Corona-Schutzmaßnahmen auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen von 21.00 bis 5.00 Uhr vorzuschreiben, wenn in Landkreisen binnen sieben Tagen mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern registriert werden.
Stattdessen empfehlen die Autoren, Treffen in Innenräumen so kurz wie möglich zu gestalten, mit häufigem Stoß- oder Querlüften Bedingungen wie im Freien zu schaffen, effektive Masken in Innenräumen zu tragen sowie Raumluftreiniger und Filter überall dort zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen aufhalten müssen – etwa in Pflegeheimen, Büros und Schulen.
"Die Kombination dieser Maßnahmen führt zum Erfolg", heißt es weiter. "Wird das entsprechend kommuniziert, gewinnen damit die Menschen in dieser schweren Zeit zugleich ein Stück ihrer Bewegungsfreiheit zurück." Zu den Unterzeichnern zählen der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, Christof Asbach, Generalsekretärin Birgit Wehner und der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch.
Forscher der Technischen Universität Berlin hatten im Februar Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für verschiedene Innenraum-Szenarien veröffentlicht. Unter den dabei gesetzten Voraussetzungen ist das Risiko beim Friseur, in wenig ausgelasteten Museen, Theatern und Kinos, aber auch in Supermärkten demnach vergleichsweise gering. Deutlich höher sei es in Fitnessstudios und vor allem in Oberschulen und Mehrpersonenbüros, errechnete das Team um Studienleiter Martin Kriegel.
Solche Berechnungen seien unheimlich komplex, hatte Aerosol-Experte Scheuch zu den Daten zu bedenken gegeben. Die Resultate, die das Risiko sehr exakt angeben, erweckten den Eindruck einer Präzision, die es so nicht gebe.
In den kommenden warmen Monaten dürften Forschern zufolge draußen zusätzliche saisonale Effekte greifen: So nimmt bei höheren Temperaturen die Stabilität der Virushülle ab. Sonnenstrahlen, insbesondere UV-Strahlung, schädigen die genetische Information des Virus - der Erreger wird inaktiviert. Hinzu kommt ein im Sommer anders arbeitendes menschliche Abwehrsystem und möglicherweise auch ein Effekt durch die wieder anspringende Bildung von Vitamin D mithilfe des Sonnenlichts. Wie stark saisonale Effekte das Infektionsgeschehen zu bremsen vermögen, ist allerdings unklar.
(pas/dpa)