Laut Forschern sind Maßnahmen wie die Maskenpflicht beim Joggen an der Alster in Hamburg eher symbolischer Natur. Bild: iStockphoto / torwai
Deutschland
Führende Aerosol-Forscher aus Deutschland
fordern von der Politik einen Kurswechsel bei den Maßnahmen zur
Eindämmung der Corona-Pandemie. "Wenn wir die Pandemie in den Griff
bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass drinnen die Gefahr lauert", heißt es in einem Brief an die
Bundesregierung und an die Landesregierungen, der der Deutschen
Presse-Agentur vorliegt. Sars-CoV-2 werde fast ausnahmslos in
Innenräumen übertragen.
"Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer
Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt", kritisieren
die Verfasser. In Wohnungen, Büros, Klassenräumen, Wohnanlagen und
Betreuungseinrichtungen müssten Maßnahmen ergriffen werden. In
Innenräumen finde auch dann eine Ansteckung statt, wenn man sich
nicht direkt mit jemandem treffe, sich aber ein Infektiöser vorher in
einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten habe, warnen sie.
Ansteckungen im Freien sehr selten
Es gilt als sicher, dass sich das Coronavirus vor allem über die
Luft verbreitet. Das kann über die Tröpfchen geschehen, die beim
Husten und Niesen entstehen und beim Gegenüber über die Schleimhäute
aufgenommen werden. Oder über Aerosole, Gemische aus festen oder
flüssigen Schwebeteilchen in der Luft, die Sars-CoV-2-Partikel
enthalten. Sie sind definiert als Tröpfchenkerne kleiner als fünf
Mikrometer und bleiben meist länger in der Luft als größere Tropfen,
die rasch zu Boden sinken. Aerosol-Teilchen können Stunden bis Tage
in der Luft schweben. Andere Infektionswege – etwa über Oberflächen – spielen eine wesentlich geringere Rolle für das Infektionsgeschehen.
Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt
in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien kontraproduktiv, heißt
es in dem Brief der Aerosol-Forscher weiter. Maßnahmen wie die
Maskenpflicht beim Joggen an der Alster in Hamburg etwa seien eher
symbolischer Natur und ließen "keinen nennenswerten Einfluss auf das
Infektionsgeschehen erwarten". Im Freien seien Ansteckungen äußerst
selten, im Promille-Bereich. Hierauf sollten die begrenzten
Ressourcen nicht verschwendet werden. Auch würden im Freien keine
größeren Gruppen – sogenannte Cluster – infiziert, wie das in
Innenräumen etwa in Heimen, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder
Busfahrten zu beobachten sei.
Treffen in Innenräumen sollten so kurz wie möglich sein
Auch Ausgangssperren, wie sie der Bund befürwortet, versprechen
aus Sicht der Wissenschaftler mehr, als sie halten können. "Die
heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert,
sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen
Anordnungen noch mehr zu entziehen", schreiben sie. "In der
Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen
Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht
das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen."
Die Bundesregierung dringt darauf, bei der Regelung bundesweiter
Corona-Schutzmaßnahmen auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen von
21.00 bis 5.00 Uhr vorzuschreiben, wenn in Landkreisen binnen sieben
Tagen mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern registriert
werden.
Stattdessen empfehlen die Autoren, Treffen in Innenräumen so kurz
wie möglich zu gestalten, mit häufigem Stoß- oder Querlüften
Bedingungen wie im Freien zu schaffen, effektive Masken in
Innenräumen zu tragen sowie Raumluftreiniger und Filter überall dort
zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen
aufhalten müssen – etwa in Pflegeheimen, Büros und Schulen.
Saisonale Effekte in kommenden Monaten
"Die Kombination dieser Maßnahmen führt zum Erfolg", heißt es
weiter. "Wird das entsprechend kommuniziert, gewinnen damit die
Menschen in dieser schweren Zeit zugleich ein Stück ihrer
Bewegungsfreiheit zurück." Zu den Unterzeichnern zählen der Präsident
der Gesellschaft für Aerosolforschung, Christof Asbach,
Generalsekretärin Birgit Wehner und der frühere Präsident der
Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard
Scheuch.
Forscher der Technischen Universität Berlin hatten im Februar
Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für verschiedene
Innenraum-Szenarien veröffentlicht. Unter den dabei gesetzten
Voraussetzungen ist das Risiko beim Friseur, in wenig ausgelasteten
Museen, Theatern und Kinos, aber auch in Supermärkten demnach
vergleichsweise gering. Deutlich höher sei es in Fitnessstudios und
vor allem in Oberschulen und Mehrpersonenbüros, errechnete das Team
um Studienleiter Martin Kriegel.
Solche Berechnungen seien unheimlich komplex, hatte
Aerosol-Experte Scheuch zu den Daten zu bedenken gegeben. Die
Resultate, die das Risiko sehr exakt angeben, erweckten den Eindruck
einer Präzision, die es so nicht gebe.
In den kommenden warmen Monaten dürften Forschern zufolge draußen
zusätzliche saisonale Effekte greifen: So nimmt bei höheren
Temperaturen die Stabilität der Virushülle ab. Sonnenstrahlen,
insbesondere UV-Strahlung, schädigen die genetische Information des
Virus - der Erreger wird inaktiviert. Hinzu kommt ein im Sommer
anders arbeitendes menschliche Abwehrsystem und möglicherweise auch
ein Effekt durch die wieder anspringende Bildung von Vitamin D mithilfe des Sonnenlichts. Wie stark saisonale Effekte das
Infektionsgeschehen zu bremsen vermögen, ist allerdings
unklar.
(pas/dpa)
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