Ein 28-jähriger Mann ersticht seinen Mitbewohner in Stuttgart auf offener Straße mit einem Schwert. Stell dir vor, du wärst Chefredakteur einer überregionalen Zeitung. Würdest du die Meldung drucken? Um die Tat, die sich Ende Juli ereignete, entbrannte eine hitzige Debatte – auch, weil der Tatverdächtige wohl Jordanier ist.
Die einen empörten sich darüber, dass etwa der Deutschlandfunk die Tat nicht erwähnte. Die anderen kritisierten, einzelne Delikte würden deutlich mehr Raum bekommen, wenn es um mutmaßliche migrantische Täter gehe. Doch wie ausgewogen ist die Berichterstattung überhaupt? Berichten Medien tatsächlich anders, wenn ein Tatverdächtiger keinen deutschen Pass hat – und wenn ja, welche gesellschaftlichen Folgen hat das?
Zunächst einmal: Die meisten Kriminalfälle, selbst die schweren, tauchen in den überregionalen Zeitungen und Sendern überhaupt nicht auf. Wäre dem so, müssten wir uns hierzulande täglich mit rund sieben Tötungsdelikten und 25 Sexualverbrechen beschäftigen. Die schiere Masse zwingt Redakteure also, nur die gesellschaftlich relevanten Fälle herauszupicken. Und selbst dann stehen sie vor kniffligen Entscheidungen: Sollen wir eine Agenturmeldung bringen – oder ein Reporterteam losschicken? Sollen wir die Herkunft des Täters nennen oder nicht? Zu welcher gesellschaftlichen Debatte passt der Vorfall: psychische Gesundheit, Machokultur, Flucht, Fundamentalismus?
Die journalistische Selektionslogik ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ändert sich stetig und folgt dabei Schlüsselereignissen. "Das sind spektakuläre Vorfälle, über die besonders viel berichtet wird. Die führen dazu, dass in der Folge etliche andere Ereignisse für Journalisten interessanter werden", erklärt Prof. Dr. Marcus Maurer, Kommunikationswissenschaftler an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Einige Forscher vermuten, dass diese Ereignisse die klassischen journalistischen Auswahlkriterien vorübergehend außer Kraft setzen.
Die sexuellen Übergriffe zur Silvesternacht 2015/16 in Köln waren so ein Moment. Maurer und seine Kollegen analysierten sechs große deutsche Zeitungen und Fernsehsender systematisch auf Meldungen zum Thema Flucht. Für das Jahr 2015 zählten sie 92 Beiträge über Flüchtlingskriminalität. Nach der Silvesternacht explodierte das Thema regelrecht. Allein im Januar 2016 berichteten diese Medien 196 Mal darüber. Zieht man die Artikel über die Kölner Silvesternacht ab, verbleiben immer noch 86 Beiträge – fast so viele wie im gesamten Vorjahr also.
Eine Inhaltsanalyse des österreichischen Kommunikationsforschers Ass.-Prof. Dr. Florian Arendt kommt zu einem ähnlichen Schluss. Anfang 2016 tauchten Begriffe wie "Nordafrikaner" oder "Asylbewerber" in Verbrechensmeldungen drei bis neun Mal so häufig auf wie vor dem Jahreswechsel – Beiträge zur Kölner Silvesternacht nicht mitgezählt. An der Kriminalstatistik hatte sich in diesem kurzen Zeitraum natürlich wenig getan. Doch die Medien rückten die Themen Verbrechen und Migration plötzlich näher zusammen: eine künstlich erschaffene "Verbrechenswelle" also.
Im Zuge der Flüchtlingsdebatte 2015 trauten viele Menschen den klassischen Medien nicht über den Weg. Nur rund ein Drittel hielt die Berichterstattung für ausgewogen, ergab eine Befragung aus demselben Jahr. Ging es speziell um Flüchtlingskriminalität, misstrauten knapp drei Viertel der Befragten den Medien. Doch stimmt dieser Eindruck denn?
2015 ging die mediale Verzerrung zugunsten der Geflüchteten. Mit dem Jahreswechsel wendete sich das Blatt aber. Die Medien änderten ihre Relevanzkriterien. Die Silvesternacht hallte nach.
Änderte sich die Berichterstattung auch deswegen, weil die öffentliche Stimmung kippte – im vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem Druck von rechts? Beim Thema Herkunftsnennung wird das mediale Dilemma offensichtlich. "Oft gibt es kein begründetes Interesse, die Nationalität von Tatverdächtigen zu erwähnen. Doch in den sozialen Netzwerken verbreitet sich dann Täterprofil oder Spekulationen darüber dann trotzdem", erklärt Medienwissenschaftler Ole Kelm von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Es ist eine Zwickmühle: Nennen sie die Herkunft nicht, wird ihnen Zensur unterstellt. Betonen sie aber bei ausländischen Tatverdächtigen gezielt deren Herkunft, gehen sie rechten Diskursen auf den Leim – schließlich ist Ausländersein keine seriöse Erklärung für irgendein Verbrechen.
Die Debatte spaltet die Medienwelt: Es sei wichtig, die Wahrheit stets vollständig darzustellen, meint die Deutsche-Welle-Chefredakteurin Ines Pohl. Die Journalistin Ferda Ataman findet diese Argumentation hingegen willkürlich. Die Herkunftsnennung könne für einen fatalen "Aha"-Moment sorgen, argumentiert sie in einer Kolumne für "Spiegel Online". "Bei Familienvater denkt niemand 'aha'. Aber das Wort 'Syrer' oder 'Asylbewerber' tritt bei manchen eine unsachliche Assoziationskette los", schreibt sie.
"Der Erfolg von Parteien wie der AfD kann zu einem Teil auch mit diesen Tendenzen in der Berichterstattung erklärt werden", meint Ole Kelm.
Ein Längsschnittstudie aus Österreich konnte beispielsweise zeigen, dass die dortige "Kronen Zeitung" tatverdächtige Personen besonders häufig als Ausländer etikettierte. Die Konsequenz: Wer das Boulevardblatt häufig las, schätzte den prozentualen Ausländeranteil unter Tatverdächtigen deutlich höher ein. Forscher sprechen hier von Meta-Narrativen: Erzählmuster also, die durch derartige Berichte in kleinen Schritten immer weiter "gefüttert" werden. "Ausländer sind kriminell", das ist so ein Meta-Narrativ. Dabei handelt es sich um keine gezielte Manipulation, sondern um ein unwillkürliches Geschehen: Niemand will dem anderen etwas Böses. Dennoch zementieren sich stereotype Bilder: So ist er eben, der Ausländer.
Hinzu kommt: Einzelne Gruppen instrumentalisieren die Vorfälle für ihre Zwecke. Der Medienforscher Thomas Hestermann und die Strafrechtlerin Elisa Hoven analysierten für eine aktuelle Studie sämtliche 242 Pressemitteilungen der AfD aus dem Jahr 2018 zum Thema Kriminalität. Das Ergebnis: In 95 Prozent dieser Texte ging es um nichtdeutsche Tatverdächtige, die in der polizeilichen Kriminalstatistik aber weniger als 35 Prozent der Fälle ausmachen.
Nun ist ein perfekt neutraler Journalismus nicht erreichbar. Selbst, wenn sich Medienschaffende um Ausgewogenheit bemühen, wird sich der herrschende Zeitgeist immer auf Auswahl und Art der Beiträge auswirken. Auch lassen sich politische Vereinnahmungen, wie etwa im Falle der AfD-Pressemitteilungen, kaum verhindern. Doch was können Medien tun, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren?
Ole Kelm hält es für wichtig, dass die Medien transparent mit ihren eigenen Richtlinien umgehen. "Sie sollten beispielsweise immer wieder erklären: Warum nennen wir die Herkunft des Täters an dieser Stelle nicht?" Doch selbst dieses Vorgehen löst nicht alle Probleme. "Wer eine starke vorgefertigte Meinung hat, bewertet auch einen völlig objektiven Beitrag als verzerrt gegen die eigene Position", sagt Kelm. Dieser sogenannte "Hostile Media Effect" ist inzwischen gut belegt: Was nicht ins eigene Weltbild passt, werden einige Menschen also stets als manipulativ ansehen. "Hier wird den Medien eine zu große Verantwortung zugeschrieben", meint Kelm. "Manche wird man selbst mit dem besten Journalismus nicht mehr überzeugen können."