Der Chef einer Fünf-Prozent-Partei, die bei der jüngsten Wahl noch um den Einzug in den Landtag bangte und mit gerade einmal 73 Stimmen mehr als benötigt einzog, wird Ministerpräsident – mit Wahlhilfe der AfD. Klingt wie ein schlechter Scherz, ist aber Realität in Thüringen 2020.
Die politische Situation im Freistaat ist verfahren, seitdem am Mittwochnachmittag völlig überraschend FDP-Kandidat Thomas Kemmerich den dritten Wahlgang gewann und den bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) ablöste. Ramelow hätte gerne mit Rot-Rot-Grün weiterregiert.
Plötzlich-Regierungschef Kemmerich muss nun ein Kabinett bilden. Doch der Protest gegen dieses Vorhaben ist von allen Seiten riesig.
Wie geht es weiter in Thüringen? Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden sagte im Gespräch mit watson: "Alles ist unsicher, und alles ist möglich." Fest stehe nur, dass eine Regierung mit einer parlamentarischen Mehrheit überhaupt nicht in Sicht sei. Doch es gibt mehrere Szenarien fernab einer Mehrheitsregierung, die möglich sind.
Eine mögliche Simbabwe-Koalition ist benannt nach den Farben der Flagge des afrikanischen Landes: Dieser Versuch war nach der Landtagswahl schon einmal gescheitert. Es wäre ein Bündnis aus CDU, FDP, SPD und Grünen, das jedoch auf keine Mehrheit käme.
Sozialdemokraten und Grüne entschieden sich früh und klar, lieber mit den Linken weiterzumachen. Auch diesmal gilt eine solche Minderheitskoalition als sehr unwahrscheinlich.
Grüne und SPD winkten nach der Wahl Kemmerichs unmissverständlich ab. "Wir werden keinerlei Kabinettsangebote von Herrn Kemmerich annehmen", sagte SPD-Fraktionschef Matthias Hey. Er schloss aus, dass die Thüringer Sozialdemokraten mit einem Ministerpräsidenten, der mit AfD-Stimmen gewählt wurde, zusammenarbeiten werden. Das betonte auch Grünen-Chef Robert Habeck. Seine Partei kündigte an, in die Opposition zu gehen.
Die FDP wäre in dieser Konstellation der Mini-Partner in einer Mini-Koalition. Sie hat nur fünf Abgeordnete im Landtag, die CDU kommt auf 21. Die beiden Parteien sind damit meilenweit von der erforderlichen Mehrheit von 46 Sitzen entfernt.
Dennoch: Eine solche Minderheitsregierung ist zumindest denkbar, weil CDU und FDP gern miteinander zusammenarbeiten würden. Bleiben SPD, Grüne und Linke bei ihrem "Nein" zu einer Zusammenarbeit mit Kemmerich, könnte eine solche Regierung eine Mehrheit nur mit der AfD finden.
Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden sagte nach dem Wahlbeben zu watson: "Kemmerich kann die Gunst der Stunde nutzen und versuchen, ein überparteiliches Kabinett aufzustellen. Das kann zum Beispiel eine Regierung aus Experten sein."
Eine solche Expertenregierung gab es zuletzt übergangsweise in Österreich, nachdem die rechtskonservative Regierung im Zuge der Ibiza-Affäre gescheitert war: Ehemalige Richter und hohe Beamte, die bereits mit dem Management eines Ministeriums vertraut waren, besetzten die Ministerposten – keine Parteipolitiker.
Auch Ex-Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) hatte sich vor der Wahl für eine mögliche Projektregierung aus Experten ausgesprochen. Damals ging es jedoch um die Frage, wie eine mögliche Zusammenarbeit zwischen CDU und Linke aussehen könnte. Althaus sagte dem MDR damals, denkbar wären zehn bis 15 Projekte, die zwischen CDU und Linke definiert und verhandelt würden. Die Vorhaben könnten zahlenmäßig so verteilt werden, dass sich jede Partei gleichberechtigt wiederfinde.
Theoretisch möglich wäre so auch eine Regierung, die aus fast allen Parteien besteht. Aber, dass sich die anderen Parteien auf ein solches parteiübergreifendes Experiment einlassen, scheint mehr als fraglich.
FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff ist nicht der einzige, der einen sofortigen Rücktritt von Parteikollege Kemmerich fordert. Lambsdorff betonte am Mittwoch: "Man kann in einer demokratischen Wahl antreten. Aber man lässt sich nicht von AfD-Faschisten wählen. Wenn es doch passiert, nimmt man die Wahl nicht an. Am besten für Kemmerich, Thüringen und die FDP: Sofortiger Rücktritt, schnelle Neuwahlen."
Kemmerich selbst kündigte an, mit CDU, Grünen und SPD sprechen zu wollen. Wenn die Gespräche jedoch – und das ist zu erwarten – nicht zu einer Einigung führen, wird sein Spielraum eng.
Denkbar ist, dass Neuwahlen dann über eine Vertrauensfrage herbeigeführt werden. Die Vertrauensfrage kann nur der Ministerpräsident selbst stellen. Wenn er nicht die absolute Mehrheit von 46 Stimmen erhält, gilt der Vertrauensantrag als gescheitert. Wenn dann innerhalb von drei Wochen kein neuer Ministerpräsident gewählt ist, kommt es laut Verfassung zu Neuwahlen.
Das CDU-Präsidium um Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer sprach sich am Mittwochabend einstimmig für Neuwahlen aus – ein klares Zeichen in Richtung Thüringer CDU-Fraktion. Die Bundes-CDU wird in den kommenden Tagen mächtig Druck auf Landeschef Mike Mohring ausüben.
Denkbar, dass er früher oder später entweder ganz zurücktritt – oder zumindest noch einen Rückzieher macht und einer möglichen Kemmerich-Regierung die Unterstützung entzieht. Spätestens dann hätte die fünfköpfige FDP-Fraktion gar keine realistische Chance mehr, irgendein Gesetz durchs Parlament zu bekommen. Neuwahlen wären unausweichlich.
Auch das ist ein denkbares Szenario. Die Landesverfassung liefert dazu klare Regeln.