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Virologe Streeck bei "Lanz": "Habe erst vor der Sendung von der Anzeige erfahren"

Hendrik Streeck: Der Virologe stellte sich den neuen Vorwürfen.
Hendrik Streeck: Der Virologe stellte sich den neuen Vorwürfen.Bild: screenshot zdf
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Virologe Streeck offenbart: "Ich habe erst kurz vor der Sendung von der Anzeige erfahren"

02.07.2020, 11:35
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Aufgrund von lokalen Ausbrüchen in NRW und Niedersachsen sind die Corona-Infektionszahlen wieder gestiegen. Dennoch beruhigt sich die Lage wieder. Zuletzt wurden unter 500 Corona-Infektionen innerhalb eines Tages gemeldet. Insgesamt haben sich laut dem Robert Koch-Institut seit Beginn der Corona-Krise über 194.000 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus angesteckt. Neben Gütersloh gab es in Bayern einen Ausbruch bei einem Cateringunternehmen. Viele der rund 120 Mitarbeiter des Caterers wurden vorsorglich nach München in eine Isolierungseinrichtung gebracht.

Am Mittwochabend diskutierten Virologe Hendrik Streeck, Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach (SPD), Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven und Journalistin Cerstin Gammelin bei "Markus Lanz" darüber, welche Schlüsse nach über 100 Tagen Corona nun gezogen werden können. Dabei konfrontierte Lanz Streeck gleich mit einer Strafanzeige, die gegen ihn laufen würde.

Die Gäste: In der Gesprächsrunde wurde über die bisherigen Corona-Erkenntnisse gesprochen.
Die Gäste: In der Gesprächsrunde wurde über die bisherigen Corona-Erkenntnisse gesprochen.Bild: screenshot zdf

Neue Vorwürfe gegen Virologe Streeck

Wie die Wirtschaftszeitschrift "Capital" berichtet, deuten neue Recherchen darauf hin, dass aufgrund des enormen Zeitdrucks und des Eiltempos, schnelle Ergebnisse zur Heinsberg-Studie zu liefern, die Forscher in einen Konflikt mit wichtigen wissenschaftlichen Qualitätsstandards geraten sein sollen. Darüber hinaus sei im Zusammenhang mit der Heinsberg-Studie auch eine Strafanzeige bei der Kriminalpolizei in Bonn erstattet worden, die sich auch gegen Hendrik Streeck richtet. Besonders im Zuge der Lockerungsmaßnahmen wurde die Studie in Verbindung mit Armin Laschet heftig diskutiert.

Hendrik Streeck: Der Virologe sprach über die Heinsberg-Studie.
Hendrik Streeck: Der Virologe sprach über die Heinsberg-Studie.Bild: screenshot zdf

Als Markus Lanz Streeck auf die Anzeige ansprach, erklärte er prompt: "Ich habe erst kurz vor der Sendung von der Anzeige erfahren. Die Studie ist sauber gelaufen. Wir Virologen, genauso wie Drosten, kriegen Drohungen und auch Anfragen, die nach dem Informationsfreiheitsgesetz beantwortet werden müssen. Auf der einen Seite will man Ergebnisse finden, auf der anderen Seite ist es ein unheimlich großer Druck."

Karl Lauterbach stellte klar:

"Studien können nur genehmigt werden, wenn die Ethikkommission zugestimmt hat. Man muss sich vonseiten der Ethikkommission ein Votum einholen."
Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Der Epidemiologe und der Virologe waren nicht immer einer Meinung.
Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Der Epidemiologe und der Virologe waren nicht immer einer Meinung. Bild: screenshot zdf

Streeck betonte, dass es für die Studie in Gangelt mehrere Voten der Ethikkommission gegeben hätte. Erst danach könne mit der Forschung begonnen werden. Lanz sprach von einem Dilemma, dass die Wissenschaft als ultimative Wahrheit angesehen werde. Journalistin Cerstin Gammelin von der "Süddeutschen Zeitung" mahnte an, dass bei manchen Bundesländern auf Studien gedrängt wurde.

Streeck wehrte sich:

"In NRW wurde nicht auf Studien gedrängt. Ich habe die Studien vorgeschlagen. Laschet wollte nicht diese Studie. Ich habe gesagt, ich möchte die durchführen. Im folgenden Verlauf habe ich dann mit ihm darüber gesprochen."
Hendrik Streeck: Der Virologe wies die Vorwürfe zurück.
Hendrik Streeck: Der Virologe wies die Vorwürfe zurück. Bild: screenshot zdf

Seit März sei er immer wieder in Heinsberg gewesen. Dort sei aufgefallen, dass besonders am Anfang schwere Erkrankungen beobachtet werden konnten. "Wir konnten den Eindruck gewinnen, dass vielmehr in Heinsberg infiziert waren, als bekannt sind", so Streeck. Nach der Frage von Lanz, ob der Virologe vermute, dass Corona nicht so gefährlich sei, entgegnete er:

"Ich habe immer gesagt, dass man das Virus nicht dramatisieren und auch nicht bagatellisieren sollte. Wir kennen auch die anderen Coronaviren, die relativ schlecht studiert sind. Wir haben in den letzten Hunderten von Jahren eine Pandemie ausgelöst. Die letzte war vor 600 Jahren. Damals sind die Menschen auch damit umgegangen."
Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Der SPD-Politiker sprach über die Folgeschäden vom Coronavirus.
Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Der SPD-Politiker sprach über die Folgeschäden vom Coronavirus.Bild: screenshot zdf

Lauterbach widerspricht Streeck

Lauterbach konterte prompt: "Die normalen Coronaviren sind mittlerweile harmlos geworden. In 50 Jahren wird auch das sehr harmlos sein. Davon habe ich aber jetzt nichts. Wir haben eine Todesrate, gemessen an den Infizierten, von 0,5 bis 1 Prozent." Und weiter:

"Mir wird immer vorgeworfen, ich würde zu viel warnen. Ich versuche einfach mitzudenken. Was passiert mit denjenigen, die das gehabt haben und Folgeschäden haben? Was die Krankheit macht, können wir erst in zehn Jahren abschließend bewerten. Ich bin sehr an der Neurologie dieser Krankheit interessiert. Wir können nicht ausschließen, dass die Erkrankten langfristig eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, Demenz zu entwickeln."

So betrachtet der Virologe den Lockdown

Nach Lauterbachs düsterer Prognose meinte Streeck, dass er denken könnte, dass die Apokalypse über uns komme. Er betonte: "Wenn man runterrechnet, wer einen schweren Verlauf hat, sind das 5 bis 9 Prozent. Nicht jeder hat einen schweren Verlauf. 43 Prozent haben auch keine Symptome gehabt." Doch Lauterbach blieb dabei:

"Ob langfristig nicht auch Schäden im Gehirngewebe weniger wahrscheinlich sind als bei SARS-1, weiß niemand."
Karl Lauterbach: In der Sendung rechtfertigte er seine Befürchtungen über die schwerwiegenden Auswirkungen von Corona.
Karl Lauterbach: In der Sendung rechtfertigte er seine Befürchtungen über die schwerwiegenden Auswirkungen von Corona.screenshot zdf

Der Virologe zog daraufhin ein Fazit zum Lockdown und erklärte, ob er diesen für zu übertrieben gehalten hätte: "Wir sind in einem ständigen Lernprozess. Maßnahmen werden anders bewertet als am Anfang. Wir waren in einer Situation, wo wir Angst vor dem Virus hatten. Es war richtig, so schnell wie möglich Maßnahmen zu ergreifen." Und weiter: "Mir fehlt ein Kompass, wo wir hin wollen. Das Virus wird wahrscheinlich heimisch werden, es wird Teil unseres Alltags werden. Wir müssen beschreiben, wie das sein soll." Dazu würde eben auch zählen, dass man darüber nachdenken müsse, wie die Zukunft von Kinobesitzern oder Barbetreibern aussehe.

Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Die beiden positionierten sich an vielen Punkten unterschiedlich.
Karl Lauterbach und Hendrik Streeck: Die beiden positionierten sich an vielen Punkten unterschiedlich.screenshot zdf

Streeck stellte schließlich klar: "Es ist die Frage, wie die Politik damit umgeht, wenn Seuchen drohen. Ich fand den Lockdown nicht übertrieben. Ich finde, die virologische Datenlage ist im Hinblick der Schulen relativ klar: Wir wissen es nicht genau. In den Niederlanden sehen wir in den Kitas keine großen Ausbrüche. Daher ist das eine Entscheidung, die wir auf pragmatischer Seite treffen müssen." Journalistin Gammelin war davon überzeugt, dass ohne Sicherheitsmaßnahmen die Kitas und die Schulen nicht geöffnet werden können.

Cerstin Gammelin: Die Journalistin arbeitet im Parlamentsbüro der "Süddeutschen Zeitung".
Cerstin Gammelin: Die Journalistin arbeitet im Parlamentsbüro der "Süddeutschen Zeitung". Bild: screenshot zdf

Besonders bei dem Thema Schule musste sich Lauterbach in der Vergangenheit der einen oder anderen Diskussion stellen. Er meinte:

"Ich bekomme da viel Druck. Mir wird vorgeworfen, ich stünde der Schulöffnung entgegen. Der reguläre Schulbetrieb ist mit 30 Kindern, im Herbst kann nicht regelmäßig gelüftet werden. Der reguläre Betrieb wird eine Enttäuschung bringen. Es sind die Schulleitungen, wo man sich mehr Engagement wünschen würde. Wir dürfen uns so ein Fiasko in den Schulen nicht noch mal leisten. Wenn es so ist, wenn die Schulen immer wieder geschlossen werden müssen, fände ich es schade, wenn wir nicht vorbereitet sind."
Karl-Heinz Leven: Der Medizinhistoriker ist Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Erlangen.
Karl-Heinz Leven: Der Medizinhistoriker ist Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Erlangen.screenshot zdf

Lauterbach kritisiert Streeck-Vergleich

Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven sah das anders: "Bei Ihnen ist der Ansteckungsgedanke der Leitgedanke schlechthin. Es geht sehr oft um Leben und Tod. Da sind wir sehr tolerant, was wir alles akzeptieren." Streeck pflichtete bei: "Die Bundesregierung schützt mich nicht vor dem Passivrauchen. Es gibt keine Gesetze, die das Autofahren verbieten." Lauterbach wollte das so nicht stehen lassen:

"Beide Beispiele stimmen nicht. Der Nichtraucherschutz ist genau der Hintergrund dazu. Wir machen die Gurtpflicht, das stimmt auch nicht. Es muss immer mit Augenmaß sein."

Lauterbach äußert sich zur Impfflicht

Der SPD-Politiker blieb dabei, dass die Corona-Maßnahmen nicht übertrieben gewesen seien: "Hätten wir das nicht gemacht, wären 250.000 bis 500.000 Menschen gestorben. Wir Gesundheitspolitiker sind nicht blind für die anderen Dinge. Der Lockdown war angemessen. Wir werden weltweit dafür bewundert." Streeck stellte seinen Standpunkt klar: "Ich sage nicht, dass der Lockdown falsch war. Wir müssen aufpassen, dass wir keine Scheuklappensicht auf die Pandemie haben. Es werden katastrophale Hungersnöte in den Entwicklungsländern aufgrund von Lieferengpässen vorhergesagt. Es wird eine halbe Million mehr Aids-Tote geben." Wir würden Bewegungen sehen, die durch die Pandemie ausgelöst wurden.

Karl Lauterbach: Der Politiker sprach über eine mögliche Impfpflicht.
Karl Lauterbach: Der Politiker sprach über eine mögliche Impfpflicht. Bild: screenshot zdf

Lauterbach konterte: "Das ist ein gefährliches Argument. Die ärmsten Länder hat jeder von uns im Blick und das ist dramatisch. Tatsächlich frisst sich die Krankheit leider erst jetzt in die armen Länder rein." In Richtung des Impfstoffs meinte er, dass nicht ausgemacht sei, dass es überhaupt gelinge, einen zu finden. Er sei zunächst immer von anderthalb Jahren ausgegangen. Dennoch versicherte er:

"Eine Impfpflicht wird es nicht geben, die darf es nicht geben. Es wird unsere Aufgabe sein, dass auch die Ärmeren den bekommen."

Streeck brachte es auf den Punkt: "Keiner weiß, was der richtige Weg in der Pandemie ist. Wenn man das aus der historischen Sicht betrachtet, kann man das erst am Ende sagen."

Streeck über seinen mittlerweile geringen Kontakt mit Drosten

Auf die Frage, ob die Freundschaft zwischen Streeck und Drosten im Zuge der Corona-Krise kaputtgegangen sei, entgegnete der Virologe zum Schluss überraschend:

"Wir haben bis Ostern immer mal wieder kommuniziert, dann habe ich in der 'Süddeutschen' ein Interview gelesen, wo ich sehr überrascht war. Die Kommunikation ist weniger geworden."

Bei Lauterbach sei das hingegen anders: "Ich komme mit Drosten sehr gut klar. Mit Streeck habe ich ein gutes, lockeres Verhältnis. Wenn man mal einen Rat einer Studie benötigt, kann man auf ihn zählen."

(iger)

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