Die Flüchtlingskrise hat im Herbst 2015 in Deutschland gerade ihren Höhepunkt erreicht, als auf den CDU-Lokalpolitiker Alexander Herrmann aus Marzahn-Hellersdorf ein Mann zukommt und droht: "Ich bringe dich um, wenn meiner Frau oder Tochter was passiert."
Der Berliner Senat hatte sich dafür eingesetzt, dass eine Turnhalle Auffangstation für Geflüchtete wird. Herrmann saß da noch für die CDU im Abgeordnetenhaus. "Entweder ich schalte jetzt den Staatsschutz ein oder wir trinken einen Kaffee", will Herrmann dem Drohenden entgegnet haben. "Dann haben wir einen Kaffee getrunken."
Seit 2015 sind Drohungen und Anfeindungen gegen Politiker fast schon Alltag. Im Jahr 2019 haben Behörden in Deutschland mehr als 1200 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger verzeichnet.
Das Auffällige: Die meisten Übergriffe (440 von 1241) kamen aus dem rechtsextremen Spektrum. Und die meisten Opfer zählte die CDU. Das ergab eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Konstantin Kuhle.
Der 44-jährige Alexander Hermann gehört zu der besonders gefährdeten Spezies. Er ist Kommunalpolitiker und CDU-Mitglied. Heute ist er Fraktionsvorsitzender der Union in der Bezirksverordnetenversammlung Marzahn-Hellersdorf. Sein Markenzeichen ist ein Trabi 601, Baujahr 1989, mit dem er durch seinen Kiez fährt.
Vor genau einem Jahr, an einem Januarwochenende 2019, findet Herrmann das Kiezmobil völlig demoliert vor. Der Wagen springt nicht an. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern bringen sie den Trabanten in die Werkstadt. Am nächsten Morgen dann stellen Herrmanns Mitarbeiter Löcher in den Hosen fest. Unbekannte hatten das Auto des Politikers nicht nur äußerlich beschädigt, sondern im Wageninneren Säure ausgeschüttet. "Das müssen mehrere Liter gewesen sein", schätzt Herrmann. Ein Anschlag. Dem Mechaniker sei sogar die komplette Hose weggeätzt. "Er hatte auch leichte Verletzungen am Hinterteil, war aber hart im Nehmen", erzählt Herrmann.
Anschläge auf Lokalpolitiker gingen in der jüngeren Vergangenheit nicht immer so glimpflich aus. Schlagzeilen machte vor allem das Attentat im Sommer 2019 auf den hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). Er wurde mit einem Kopfschuss auf der Terrasse seines Hauses im Landkreis Kassel hingerichtet. Mutmaßlicher Täter ist der Neonazi Stephan Ernst. Vier Jahre zuvor wurde der damaligen Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker von dem Rechtsextremisten Frank S. ein Messer zehn Zentimeter tief in den Hals gerammt. Sie überlebte nur knapp. 2017 war es Andreas Hollstein, CDU-Bürgermeister von Altena, der wegen seiner Flüchtlingspolitik von einem arbeitslosen Maurer mit einem Messer angegriffen und am Hals verletzt worden war.
Es muss nicht immer erst um Leib und Leben gehen. Beispiele von Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker und Bürgermeister sind zahlreich.
Das alles sind längst keine Einzelfälle mehr: Erst im Juni 2019 hat eine Umfrage der BR-Sendung "Report München" unter 1000 Bürgermeistern gezeigt, dass mehr als 40 Prozent der Befragten Erfahrungen mit Hassmails, Einschüchterungsversuchen oder anderen Übergriffen gemacht haben. Und 46,5 Prozent der Betroffenen gaben an, in Gesprächen mit Bürgern beschimpft oder bedroht worden zu sein.
Drohungen, Anfeindungen, Unmutsäußerungen. "Jeder, der in der Kommunalpolitik aktiv ist, der erlebt das ja", sagt der CDU-Politiker aus Marzahn-Hellersdorf Alexander Herrmann.
Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund spricht gegenüber watson von einer eindeutigen Tendenz: "Tatsache ist, das Beleidigungen, Drohungen und tätliche Übergriffe gegen Kommunalpolitiker zunehmen." Das sei in jeder fünften Kommune schon vorgekommen und betreffe nicht allein Politiker, sondern auch Mitglieder in Stadt- und Gemeinderäten und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung.
Auch CDU-Politiker und Trabifahrer Alexander Herrmann beobachtet eine zunehmende Verrohung. "Ich glaube schon, dass die Aggressivität zunimmt", sagt er. Aber nicht nur auf der Straße. "Auch in den Gremien. Ob in Kreistagen, Landtagen oder im Bundestag. Wenn dort gerade von den Rändern her zugespitzt populistisch argumentiert wird, dann ist es logisch, dass sich das auch auf die Gesellschaft überträgt und dann auch als Legitimation für Gewalt gegen Mandatsträger genommen wird."
Auch nach dem Säureanschlag macht Herrmann weiter. Mit Politik. Und zwar vor Ort. Denn: Gerade in dem derzeitigen aufgeheizten politischen Klima findet es Herrmann umso wichtiger, vor Ort ansprechbar zu sein. "Das bleibe ich." Auf Berlins Straßen ist er bereits wieder mit seinem Trabi unterwegs. Der wurde "entkernt und wiederaufgebaut".
Dennoch: Der Anschlag hat etwas mit Herrmann gemacht. "Ich bin früher auch schon bespuckt worden oder geschubst, aber diese Tat hatte dann doch eine andere Dimension. Man darf sich gar nicht vorstellen, was alles hätte passieren können. Wir haben oft Kinder im Auto sitzen." Herrmann hat darüber viel mit Freunden und der Familie gesprochen. "Ich gucke heute genauer hin, wenn einer auf mich zu kommt", sagt er. Gleichzeitig hat Herrmann nach dem Anschlag parteiübergreifend große Solidarität erfahren.
"Solidarität ist in solchen Fällen besonders wichtig", sagt Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Er wünscht sich, dass Kommunalpolitiker grundsätzlich mehr solcher Fälle öffentlich machen. Ziel sei es, dadurch zu sensibilisieren und die schweigende Mehrheit zu aktivieren, um Solidarität mit den Betroffenen auszulösen. "Das hilft den Betroffenen", sagt Handschuh. Er weiß aber auch, dass sie oft zögern, mit den Anfeindungen in die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie fürchten, dass die Drohungen dann erst so richtig zunehmen. "Wir glauben aber, es gehört an die Öffentlichkeit", sagt Handschuh. Denn:
Schutz durch Öffentlichkeit suchen mittlerweile auch immer mehr Politiker der ersten Reihe. Mike Mohring etwa machte Morddrohungen während des Thüringer Landtagswahlkampfs via Twitter publik. Die Verfasser der Drohungen hatten vom CDU-Spitzenkandidaten gefordert, den Wahlkampf einzustellen, andernfalls würden sie Mohring "abstechen, so wie die Oberbürgermeisterin von Köln Henriette Reker, oder gar eine Autobombe zünden". Auch der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert veröffentlichte jüngst eine Morddrohung auf Twitter.
Dass das bloße Veröffentlichen die Probleme nicht löst, weiß auch Alexander Handschuh. Neben der Forderung die Täter konsequenter zu bestrafen, sieht er auch strafrechtlichen Nachholbedarf. Dabei sei die Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) auf dem richtigen Weg. Sie hatte angekündigt, dass Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker künftig stärker geahndet werden. Dazu bedarf es einer Gesetzesänderung des Paragrafen 188 im Strafgesetzbuch. Der regelt den Schutz von übler Nachrede und Verleumdung gegen im "politischen Leben des Volkes stehende Personen". Der Paragraf bezog sich allerdings vor allem auf das politische Spitzenpersonal und weniger auf Abgeordnete, Landräte oder Bürgermeister.
Alexander Herrmann sieht aber auch die Politiker selbst in der Verantwortung. Und die beginne im Kleinen. Vor Ort. "Politik hat sich in den letzten Jahren nicht gerade mit Ruhm bekleckert", sagt er. Zu viele Versprechungen, zu weit weg von den Leuten. Politiker müssten sich die Wertschätzung in der Gesellschaft für ihr politisches Engagement wieder verdienen.
Wie das geht? Herrmann sagt: "Wir müssen zeigen, dass Politik verlässlich ist, dass es um Lösungen geht und nicht um ideologisches Klein-Klein." Er will vor allem auch mit denen sprechen, die andere längst aufgegeben haben.
Trotz aller Anfeindungen macht es für Herrmann auch und gerade in der heutigen Zeit noch Sinn, sich kommunalpolitisch zu engagieren. "Ja, mir ist es das Engagement wert. Solange ich meine Mitmenschen erreiche und man miteinander ins Gespräch kommt." So wie mit dem Mann, mit dem Herrmann einen Kaffee trinken ging, als dieser ihn bedrohte. "Und wenn der mich heute auf der Straße sieht, dann grüßt er", sagt Herrmann.
(ts)