Vertrauen ist ein schönes Wort. Mit der Vertrauensarbeitszeit hingegen ist das oft so eine Sache. Für viele Arbeitnehmer bedeutet sie vor allem jede Menge Überstunden, ohne eine Möglichkeit, sie jemals abfeiern zu können. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) soll das nun ändern. Der EuGH hat die EU-Mitgliedsstaaten am Dienstag dazu aufgefordert, Unternehmen zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigen zu verpflichten. Das könnte gravierende Folgen haben.
Ein Arbeitnehmer darf laut Arbeitszeitgesetz in der Regel nicht mehr als acht Stunden am Tag arbeiten. Ausnahmsweise darf auch bis zu zehn Stunden gearbeitet werden, wenn innerhalb der nächsten sechs Monate durchschnittlich acht Stunden nicht überschritten werden. Zwischen zwei Arbeitsschichten muss außerdem eine Ruhezeit von elf Stunden gewahrt werden. Nach spätestens sechs Stunden Arbeit muss es eine Pause geben. Staatliche Aufsichtsbehörden wie zum Beispiel die Gewerbeaufsichtsämter sollen überwachen, ob diese Vorschriften eingehalten werden.
Dokumentieren der Betrieb oder die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten aber nicht, können die Behörden wenig tun: "Arbeitgeber müssen nach dem Arbeitszeitgesetz nur Überstunden erfassen", sagt die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht, Inken Gallner.
"Die Erfassung der Arbeitszeit dient den Arbeitnehmern selbst als Beweis für ihre Leistung und den Behörden und Gewerkschaften zur Kontrolle, dass die Arbeitszeitvorschriften eingehalten werden", sagt Richterin Gallner.
Corinna Brauner von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ergänzt: "Der Vorteil an der Erfassung ist, dass ich auch mal früher nach Hause gehen kann und keiner meiner Kollegen komisch guckt, weil sie wissen, dass ich die Zeit ein anderes Mal wieder reinarbeite."
Die Erfassung könnte laut Brauner auch zu einem Abbau der Überstunden beitragen, weil mehr Aufmerksamkeit auf der tatsächlichen Arbeitszeit liegt.
Die BAuA hat zuletzt 2015 die Beschäftigten zu dem Thema befragt. "Dabei gab etwa die Hälfte an, dass die Arbeitszeit betrieblich erfasst wird. Etwa ein Drittel erfasste sie selbst und ein Fünftel gar nicht", sagt Brauner.
Am weitesten verbreitet ist die betriebliche Erfassung in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Die eigenständige Dokumentation der Arbeitszeiten durch die Beschäftigten ist im Handwerk am verbreitetsten. Je größer der Betrieb, desto üblicher sind betriebliche Erfassung und Arbeitszeitkonten, über die Überstunden verwaltet werden.
Am seltensten wird die Arbeitszeit bei Beschäftigten im Bereich Unterricht und Erziehung erfasst. "Das liegt unter anderem daran, dass Lehrer viel zuhause arbeiten", sagt Brauner.
Außerdem ist in vielen Unternehmen die sogenannte Vertrauensarbeitszeit gängige Praxis, bei der sich die Beschäftigten die Arbeitszeit – zumindest theoretisch – selbst einteilen können.
"Vertrauensarbeitszeit und nicht im Einzelnen erfasste Überstunden wird es in der bisherigen Form nicht mehr geben können", erklärt Michael Fuhlrott, Arbeitsrechtler an der Hochschule Fresenius. Nach dem Urteil müssten auch diese erfasst werden.
"Die EU-Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber verpflichten, Arbeitszeiterfassungssysteme einzuführen", betont Richterin Gallner. Der EuGH lasse den Mitgliedstaaten aber Spielräume dafür, welche Zeiterfassungsmethoden sie den Arbeitgebern vorgeben. "Je nach Art des Unternehmens können die Arbeitszeiten zum Beispiel auf dem Papier oder elektronisch erfasst werden. Die Zeiterfassung muss nur objektiv und verlässlich sein."
"Der EuGH ist sehr klar, wenn es darum geht, die Ruhezeiten einzuhalten", sagt Gallner.
Diese Sichtweise ist aber nicht unumstritten, wie Gallner selbst zugibt. Nach Ansicht von BAuA-Forscherin Brauner trägt jeder Arbeitnehmer selbst Verantwortung für die Einhaltung seiner Rechte:
(fh/afp)