Sind die Corona-Maßnahmen angesichts der niedrigen Infektionszahlen in Deutschland noch angebracht oder schränken sie die Grundrechte zu stark ein? Um diese Frage drehte sich die Diskussion am Sonntagabend bei "Anne Will". Dabei wurde eines deutlich: Dass insbesondere Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker die aktuelle Lage der Gesellschaft ausnutzen könnten.
Auch wenn laut der in der Sendung genannten Zahlen immer noch zwei Drittel der Deutschen den Corona-Einschränkungen zustimmen, wächst die Kritik an den Maßnahmen. Zu weitreichend und unverhältnismäßig seien die Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte – auch die Lockerungen scheinen daran nichts zu ändern. So fanden in der vergangenen Woche in verschiedenen deutschen Städten sogenannte "Hygiene"-Demos statt, die sich gegen die Maßnahmen der Bundesregierung richteten.
Karl Lauterbach von der SPD ist davon überzeugt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sind und glaubt, dass die "Vorbeugemedizin sowieso keine Helden kenne". "Haben wir Erfolg mit den Beschränkungen, sind wir die Buhmänner, weil wir angeblich zu viel gemacht haben. Haben wir keinen Erfolg, sind wir erst Recht die Buhmänner. Man kann sich aussuchen, wie man scheitert", gibt der Politiker leicht resignierend zu bedenken.
Wenn es nach dem 57-Jährigen gegangen wäre, hätte er die strengen Lockdown-Maßnahmen noch viel länger durchgeführt, bis die einzelnen Infektionsfälle nachvollziehbar gewesen wären. Falls es zu einer zweiten Welle kommen sollte, wünscht er sich noch konsequentere Maßnahmen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof, schätzt die Lage etwas anders ein. Ihrer Meinung nach lässt die Überzeugungskraft innerhalb der Gesellschaft langsam nach. Sie sagt, dass den Menschen eine Perspektive gegeben werden müsse, wie es mit den Maßnahmen weiterginge.
Während die ehemalige Justizministerin vor Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung warnt, beobachtet der Journalist Olaf Sundermeyer, der als Investigativ-Reporter über Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Deutschland berichtet, ein ganz anderes Problem: "Das Demonstrationsgeschehen in Deutschland nimmt an Fahrt auf. Es wird dynamisch. Dabei geht es überhaupt nicht mehr um das Thema an sich."
Was er meint, ist, dass Populisten derzeit versuchten, die Krise für sich zu nutzen: "Aus verschiedenen Lagern wird eine Protestkulisse aufgebaut, die medial verstärkt wird und eine andere Stimmung vermittelt, als es sie tatsächlich innerhalb der Bevölkerung gibt." Denn immer noch steht die Mehrheit der Deutschen hinter den Entscheidungen der Bundesregierung.
Er zieht zudem Parallelen zur Flüchtlingskrise 2015 und vergleicht das damalige Aufkommen der Pegida-Bewegung mit den heutigen Demonstrationen. Doch Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, ist anderer Meinung: "Ich warne vor übertriebenem Pauschalismus. Das treibt die Polarisierung nur voran." Er sagt, es gebe nicht "die Demonstranten", sondern sie seien ein "bunter Haufen" mit unterschiedlichen Meinungen. Er fordert einen "differenzierten Diskurs".
Der Kommunikationsexperte glaubt, dass wir derzeit im Land eine dritte Polarisierungswelle erleben. Die erste habe sich damals gegen die Flüchtlingspolitik gewendet, die zweite gegen die Klimapolitik und die dritte richte sich nun gegen die Corona-Maßnahmen. Pörksen gibt zudem zu bedenken, dass sich ein Drittel der Deutschen über alternative Medien informiere und darunter einige Verschwörungstheorien seien.
Lauterbach sieht keine Analogie zur Flüchtlingskrise und bleibt in seiner Argumentation pragmatisch: "Ob die Pandemie zurückkehrt oder wir sie zurückdrängen, jeglicher Ausgang ist eine schlechte Nachricht für die Protestler. Der große Unterschied zu Pegida ist, dass die Flüchtlinge ja nicht weggegangen sind."
Sahra Wagenknecht hingegen, ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, kann die Bedürfnisse der Demonstrierenden zum Teil sogar nachvollziehen: "Viele Menschen, die da hingehen, haben Existenzängste. Es gibt Millionen Menschen, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen, die mit Recht fragen, warum manche Unternehmen mit Millionen unterstützt werden, obwohl sie es nicht bräuchten." Die 50-Jährige glaubt, dass die "Politik viel falsch gemacht hat". Insbesondere Selbstständige, Kleinunternehmer und Gastronomen seien zu kurz gekommen.
Und die Linken-Politikerin sieht auch Parallelen zur Flüchtlingspolitik: "Man muss unterscheiden bei den Menschen auf den Demos. Damals 2015 wurde auch jeder, der sich kritisch zur Flüchtlingspolitik geäußert hat, sehr schnell in die Ecke der Nazis gestellt."
Am Ende bringt Wagenknecht sogar etwas Verständnis für Verschwörungstheoretiker auf: "Wenn sie sehen, dass ihr Lebenswerk als Gastronom kaputtgeht, weil die soziale Spaltung durch die Krise weiter zunimmt, wir über Dinge wie die beschlossene Grundrente erneut debattieren, während die Lufthansa gerettet wird, dann führt das zu Unsicherheit." Wenn die eigene kritische Position dann in den gängigen Polit-Sendungen im Fernsehen nicht abgebildet würde, sei es naheliegend, dass der Verdacht aufkomme, dass da etwas nicht stimme und man somit leichter empfänglich sei für Verschwörungen.
"Sehe ich nicht so", kontert Lauterbach direkt. Seiner Meinung nach sind die Themen Gesundheit und Wirtschaft nicht gegeneinander gedacht, sondern miteinander: "Was für die Gesundheit gut ist, ist am Ende auch für die Wirtschaft gut. Und was dem Virus schadet, nutzt der Wirtschaft."
Der Medienwissenschaftler Pörksen glaubt dennoch, dass sich eine "Corona-Müdigkeit" innerhalb der Bevölkerung zeige:
Er fordert einen "maximal verantwortungsvollen Umgang mit elementarer Ungewissheit", um der Bevölkerung die "Zukunftsunruhe" zu nehmen und wünscht sich, eine bessere Kommunikationsweise der Regierung, wie sie Angela Merkel in dieser Form in ihrer Rede vom 18. März vorgeführt hatte.