Demonstranten auf der Demo in Berlin fordern die Enteignung des Immobilienunternehmens Deutsche Wohnen. bild: imago
Deutschland
In Deutschland herrscht besonders in Großstädten zunehmend Wohnungsnot. Laut der Berliner Wohnmarktreporte haben sich in drei Berliner Kiezen die Mietpreise seit 2009 nahezu verdoppelt. In anderen Städten sieht es ähnlich dramatisch aus. Am Samstag gingen deshalb in ganz Deutschland Zehntausende auf die Straße, um gegen die herrschende Wohnungspolitik zu demonstrieren. Zeitgleich startete ein Bündnis mit der Forderung "Deutsche Wohnen enteignen". Die "Deutsche Wohnen" ist eines der größten Immobilienunternehmen Deutschlands.
Wann Enteignungen in Deutschland erlaubt sind, regelt das Grundgesetz: Wenn diese dem Gemeinwohl dienen und die Vorbesitzer entschädigt werden.
In Artikel 14.3 des Grundgesetzes steht:
"Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen."
Die Forderung nach der Enteignung von Immobilienunternehmen stößt jedoch auf laute Kritik. Politiker aus Regierung und Opposition teilten mitunter hart gegen die Befürworter der Aktion aus.
Markus Söder (CSU) sagt:
"Enteignungen sind nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun."
8. April 2019Münchner Merkur
Andrea Nahles (SPD) sagt:
"Ich verstehe die Wut auf Wohnungskonzerne, die jeden Cent aus den Mietern rauspressen wollen. Aber Enteignung dauert Jahre und schafft keine einzige Wohnung."
7. April 2019Bild am Sonntag
Nachdem sich Grünen-Politiker Robert Habeck für die Möglichkeit von Enteignungen aussprach, kritisierte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier diese Äußerung auf Twitter:
Auch die FDP will auf keinen Fall eine Enteignung der "Deutsche Wohnen". Die Partei wirbt sogar damit, den Artikel, der die Enteignung zum Gemeinwohl erlaubt, aus der Verfassung streichen zu wollen.
Marco Buschmann (FDP)
"Die gesetzgeberische Option der Verstaatlichung ist der Blinddarm des Grundgesetzes: zwar enthalten, aber nutzlos und im Zweifel ein Entzündungsherd, der Schaden anrichtet."
5. April 2019handelsblatt
Diejenigen, die sich jetzt vehement gegen Enteignungen aussprechen, waren in der jüngeren deutschen Geschichte nicht immer gegen das Mittel. Es gab auch Fälle in denen CDU, CSU, SPD und FDP Enteignungen als Lösung gesehen haben, um das Gemeinwohl durchzusetzen – oder das, was sie dafür halten.
Atommüllentlager
Das Atommüllzwischenlager geriet 2014 in die Schlagzeilen: Das ehemalige Salzbergwerk war als Endlager wegen Flutungsgefahr ungeeignet.bild: imago
Bis heute gewinnt Deutschland einen Teil seines Stroms durch Atomkraftwerke. Für den dabei entstandenen, lebensgefährlichen Müll braucht es Endlager. Nachdem die Bundesregierung aus CDU, CSU, SPD im Jahr 2013 grundlegende Regeln zur Endlagersuche in Bundestag und Bundesrat verabschieden ließ, bestätigte der Wissenschaftliche Dienst im Bundestag 2104, dass im Zuge der Endlagersuche geeignetes Gebiet für die Endlagerung notfalls enteignet werden dürfte.
Kohleabbau
Für den Kohleabbau verschwanden ganze Wälder und Ortschaften.bild: imago
Das Dorf Pödelwitz machte von sich reden, weil es sich seit Jahrzehnten gegen eine Enteignung durch die Energieindustrie wehrte. Doch es ist die eine Ausnahme von der Regel: Bewohner von Dörfern wie Garzweiler wurden enteignet und umgesiedelt. Weil er dem Gemeinwohl diene, billigten die Richter im Jahr 2013 auch grundsätzlich den Braunkohletagebau Garzweiler II. Die Klage eines Umgesiedelten, der sein "Recht auf Heimat" einforderte, scheiterte.
Lebensmittelbetriebe
Auf eine Initiative von CSU-Bundesernährungsminister Christian Schmidt beschlossen Bundestag und Bundesrat 2017 ein Gesetz, das Enteignungen im Krisenfall möglich macht. Bei einer Versorgungskrise soll der Staat in die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln eingreifen dürfen. Die Notfallpläne sollen greifen, wenn ein Großteil der Deutschen sich nicht mehr über den freien Markt mit Lebensmitteln eindecken kann. Kurz: Die Betriebe dürfen enteignet werden.
Bankenrettung
Da stapelten sich die Aktenordner: 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Insolvenz der Hypo Real Estate Ban, im Jahr 2009.bild: imago
Während der Wirtschaftskrise 2009 ging es so mancher Bank an den Kragen. Im Februar 2009 verabschiedete die Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP deshalb ein Gesetz, um Bankaktionäre enteignen zu können und die Banken zu verstaatlichen. Die FDP-Fraktion übte damals Kritik an der eigenen Regierung. Dennoch wurde aus dem Gesetzesvorschlag Realität: Im gleichen Jahr wurde die Hypo Real Estate komplett verstaatlicht – und so "gerettet".
Trassenbau
Gegen allen Widerstand: Die Bürgerinitiative Tarup war von den Enteignungsplänen der Stadt empört.bild: imago
Der Bauer Ingo Willi Knop wurde 2017 von der Stadt Flensburg zwangsenteignet. Denn wo sein Grundbesitz lag, sollte nach Vorstellung des Stadtrats eine Umgehungsstraße gebaut werden. Da sich die Beteiligten nicht einig wurden, brachten die Ratsmitglieder von CDU, SPD, der Wählergruppe SSW und FDP eine Enteignung auf den Weg. Ja, auch die FDP machte mit. Gegen die Enteignung des Bauern waren Linke, Grüne und die Wählergruppe WIF.
Fazit: Das letzte Mittel zum Zweck
Wir sehen: Enteignungen zum Gemeinwohl sind grundsätzlich möglich, werden genutzt und lassen sich an anderer Stelle offenbar auch mit "bürgerlicher Politik" vereinbaren. Sie sind jedoch auch kein Mittel, das die Politik leichtfertig und regelmäßig nutzt.
Das Eigentum von Personen oder Unternehmen hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Eine Enteignung gilt der Politik daher als letztes Mittel. Ob eine solche Maßnahme ein Mittel gegen steigende Mietpreise sein kann, ist jedoch noch einmal eine andere Frage.
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Wie mich die Klimaignoranz ankotzt
Video: watson
Anfang des Jahres führte Günther Felßner noch als Vorsitzender des Bayerischen Bauernverbands die Proteste der Landwirte gegen die Ampel-Regierung in Berlin an. Mit gelber Warnweste stand er an der Spitze von Traktor-Kolonnen und protestierte unter anderem gegen die Politik von Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne).