Ein frischer Wind legt sich auf die Haut. Der Duft nach Blumen, Bananen und eingelegten Essiggurken strömt in die Nase. Ein schlanker Mann sitzt hinter der Kasse. Das Gesicht versunken auf das Display seines Telefons. Viele Kund:innen besuchen seinen Gemüseladen an diesem Nachmittag nicht.
Seit 2001 führt Tran duc Long sein Geschäft in der sächsischen Kleinstadt Wurzen. Mit 22 Jahren kam er in den 80ern nach Deutschland. Er verdiente sein Geld erst im Straßenbau, dann übernahm er den Gemüseladen. Erfolgreich bis heute – aber mit Aufopferungen.
Auf die Frage, ob Long die Energiekrise zu spüren bekomme, hebt er die Brauen. So weit, dass seine Augen größer wirken – wacher und überrascht. "Die Leute sagen, sie haben kein Geld mehr", antwortet er. Um die Preise niedrig zu halten, bezahlt er die Mehrwertsteuer aus eigener Tasche.
Long macht Verluste, und doch fehlen ihm Mitarbeiter:innen. Mit dem Finger schiebt er die Brille den Nasenrücken hinauf. Zwischen den Augenbrauen bildet sich eine Falte. Etwas ändert sich im Blick des Mannes, als legte sich ein dunkler Schleier über sein Gesicht. "Meine Frau und ich arbeiten für drei Leute für das Gehalt einer Person", erklärt er. Sie brauchen Unterstützung. Aber keiner möchte den Job auf Mindestlohn-Basis machen.
Eine Frau in weißer Schürze mit roten Streifen stellt sich zur Kasse. Sie reicht Long ein Getränk samt Geldschein. "Und wir bezahlen mit unseren Steuern für diese Leute, die sich zu fein sind, um zu arbeiten", sagt sie, bedankt sich für das Rückgeld und geht. Long zuckt mit den Schultern.
Die Entlastungspakete der Regierung sieht Long als Tropfen auf den heißen Stein. Wie viele andere Unternehmer:innen in Wurzen, das zum Landkreis Leipzig gehört. Dabei besitzt die Stadt eine starke Wirtschaft.
"Wir haben eine niedrige Arbeitslosenquote mit 4,8 Prozent", erklärt Ulrich Heß. Er ist Vorstandsmitglied bei dem Verein "Standortinitiative", der Wurzen zu einem dynamischen Wirtschaftsstandort fördern will. Vor zwanzig Jahren habe sie bei 18,3 Prozent gelegen, sagt er und öffnet eine Box Kekse. Das Büro des Vereins liegt nahe einer Bundesstraße. Eine Gießerei, ein Metallbau und ein Baustoffhandel liegen in der Nähe. Aber auch die Filzfabrik gehört zum ökonomischen Herzschlag der Kleinstadt. Heß spricht mit leuchtenden Augen von Wurzens Wirtschaftspotenzial.
Doch bei dem Wort "Energiekrise" verfliegt die gute Laune.
Ganze Industriezweige haben zu kämpfen, aber am härtesten treffe es die Kleinunternehmer:innen. "Die Gefahr von Insolvenzen besteht", sagt Heß. Und einfach mal den Laden schließen und dann wieder öffnen, sei ihm zufolge eine skandalöse Aussage des Wirtschaftsministers Robert Habeck (Grüne).
"Der Bundesregierung fehlt es an Industrieverständnis", sagt er, nimmt einen Schluck Kaffee, überlegt eine Sekunde und fügt hinzu: "Es fehlt auch an Kommunikation, an einem produktiven Austausch."
Die Montagsdemonstrationen in Leipzig findet er gut, aber er warnt vor gewaltsamen Protesten. Er selbst erinnert sich an die Proteste Ende der 80er auf den Leipziger Straßen gegen die Deutsche Demokratische Republik (DDR). "Die heutigen Montagsdemonstrationen unterscheiden sich in einem Punkt gravierend zu denen von damals: Alle Seiten haben verantwortungsvoll gehandelt, das ist heute nicht der Fall", sagt er.
Etwas fällt in Wurzen aber auf: leerstehende Läden. An diesem Nachmittag schlendern nur wenige Passant:innen durch die Einkaufspassagen. Ab und an rattern Autos über die Kopfsteinpflaster. Mütter halten ihre Kinder und Rentnerinnen ihre Holzkörbe an der Hand. Ob es ein heißer Herbst wird? Das fragen sich gerade nicht nur Meteorolog:innen, sondern auch die deutschen Medien.
Regelmäßig versammeln sich zahlreiche Menschen zu der "Montagsdemonstration" in Leipzig. Aufgerufen wurden sie von der Linken-Partei und den rechtsextremen Freien Sachsen. Linke und Rechte treibt ein gemeinsamer Nenner auf die Straße: der Frust gegen die Energie- und Sozialpolitik der Bundesregierung.
"Das Protestgeschehen steigt", erklärt Dorothea Benndorf. Die Pressesprecherin von der Polizei Leipzig möchte aber keine Prognose stellen, ob diese gewaltsam werden können. "Die Leipziger Polizei ist auf alles vorbereitet", versichert sie.
Doch es ist nicht nur die Polizei, die sich auf das Schlimmste vorbereitet. Leipziger Studierende fragen sich, wie sie bei diesen explodierenden Energiepreisen durch die kalten Monate kommen sollen.
"Wir fürchten uns vor dem Winter", sagt die Studentin Marlen Borchardt. Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Karla Zierold engagiert sie sich in dem Studierendenverband der Linken in Leipzig. Die jungen Frauen haben die Montagsdemonstration mit organisiert. "Sollen wir unsere Eltern um Geld bitten? Nur ein Zimmer in der WG heizen?", fragt Marlen. Sie klingt wütend, kämpferisch. "Das hat nichts mehr mit einem guten Leben zu tun", erklärt sie.
"Die meisten Studenten haben während der Corona-Krise ihre Jobs verloren. Unsere finanziellen Rücklagen schwinden", erzählt Karla.
Beide Studentinnen sind Anfang zwanzig und reden von "Verarmung" in Deutschland – das Studentenleben in Krisenzeiten. Die Entlastungspakete sind Marlen zufolge ein schlechter Scherz. Man helfe den Energiekonzernen, aber nicht den jungen Menschen an den Universitäten.
Bei der Frage, ob es sie stört, gemeinsam mit den rechtsextremistischen Freien Sachsen zu protestieren, wird Marlen forsch: "Wir haben mit denen nichts am Hut. Die Linken grenzen sich inhaltlich und sprachlich klar von ihnen ab." Ihr Ziel sei ein friedlicher Widerstand zum kalten Herbst.
Auch der sächsische Verfassungsschutz geht derzeit nicht von Gewaltaktionen aus. Dennoch werde die Lage beobachtet. Die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise böten ideale Voraussetzungen für extremistische Akteur:innen. Davor warnt Pressesprecherin Patricia Vernhold.
Rechtsextremistische Parteien und Gruppierungen versehen Krisen mit populistischen und extremistischen Inhalten, um sie im öffentlichen Diskurs prominent zu besetzen. "Ihnen ist jedes Thema recht, solange es geeignet ist, die Menschen auf der emotionalen Ebene anzusprechen", meint Vernhold.
Auch in der Innenstadt in Wurzen brodeln die Emotionen.
"Die Menschen sind entsetzt", sagt die Verkäuferin eines privaten Geschäfts. Die Frau möchte anonym bleiben. Auf die Frage, wie sie die Energiekrise zu spüren bekommt, schweigt sie für eine Sekunde. Dabei zwingt sie sich ein Lächeln auf die Lippen, aber ihre Augen sprechen eine andere Sprache: Wut und Trauer zeigen sich hier. Die Pupillen werden feucht.
"Alle sorgen sich", sagt sie, und mit "alle" meint die Kleinunternehmerin auch ihre Kundschaft, die einen hohen Redebedarf habe. Eine Rentnerin komme als Witwe kaum noch über die Runden. Dabei habe sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Auch alleinstehende Mütter schütten ihre Sorgen bei der Verkäuferin aus. "Sie wissen nicht, wie sie noch Essen auf den Tisch stellen sollen bei diesen hohen Gas- und Stromrechnungen."
Das Entlastungspaket sei keine Entlastung. Mit ihrer sanften Stimme teilt sie harte Kritik aus: "Die Politik richtet sich gegen das deutsche Volk." Sie spricht von einer Spaltung der Menschen in der Bundesrepublik.
Würde Olaf Scholz in ihrem Laden aufkreuzen, würde sie nicht mit ihm reden wollen. "Der Bundeskanzler tut nichts für uns", sagt sie. Die Sanktionen gegen Russland seien eine Katastrophe. Raum für offene Kritik schwinde. "Und warum setzen die sich nicht mit Putin an einen Tisch?", fragt sie. Ihre Stimme zittert. Der Brustkorb hebt und senkt sich. "Warum werden Experten mit anderer Meinung nicht in die Debatten einbezogen?", fragt sie weiter. Und atmet tief durch.
Geld sei für alles da, meint die Verkäuferin: für Krieg, Griechenland. Aber für Spielplätze, Straßen und Bürger:innen nicht. Das Ost-West-Gefälle sei noch heute spürbar, wie etwa durch den Lohnunterschied. Arbeitnehmende in Ostdeutschland verdienen durchschnittlich weniger als Westdeutsche. Allerdings wird oft vergessen, dass die Lebenshaltungskosten im Osten günstiger sind.
Trifft die Energiekrise den Osten wirklich härter?
Nicht unbedingt. Für Jens Kretzschmar ist die Energiekrise ein gesamtdeutsches Problem, aber es zeige sich verschärfter in Wurzen. Als Linken-Abgeordneter des Landkreises Leipzig will er Wurzen sozialer und gerechter gestalten.
Aus dem Fenster im Nachbarhaus weht eine Regenbogenflagge auf und ab. In Zeitlupe türmen sich die Gewitterwolken über den Himmel auf. Die Sonne ist bald verdeckt. Es duftet nach Regen. Ein frischer Wind zieht auf. Blätter rascheln. Einige färben sich braun und gelb. Der Herbst kündigt sich an.
Deutschland, sagt Kretzschmar, mache riesige Gewinne und dennoch müssten Menschen zur Tafel gehen. Unbegreiflich für den Kommunalpolitiker, der selbst zu Protesten im Umland aufruft – gemeinsam mit der Tafel und dem Deutschen Gewerkschaftsbund.
"Den Linken wird unterstellt, dass sie die Proteste aufgreifen, um Wähler zu gewinnen und die Partei zu puschen, das ist falsch", meint Kretzschmar. Die Linken seien und bleiben ein Sprachrohr für Veränderungen. Die AfD nutze die Krisen für sich aus.
Jeden Montag demonstrieren annähernd 200 rechtsextremistisch Gesinnte und Corona-Leugner:innen in Wurzen. "Wir können denen nicht das Feld überlassen. Der Staat kann froh sein, dass sich die demokratischen Linken mit einmischen", sagt der gelernte Erzieher. Die Angst vor Verarmung sei da. Die Ersparnisse der Menschen werden knapp und das führt zu existentiellen Nöten.
Am Abend bricht schließlich der Regen über Wurzen ein. Dicke Tropfen prasseln auf staubtrockenen Boden. Eine willkommene Abwechslung nach dem heißen Sommer.
Ob der heiße Herbst oder der Wutwinter folgen? Wurzen bereitet sich darauf vor. Doch Gemüsehändler Long freut sich auf den Winter. Dann könne er mit Orangen und Mandarinen Umsatz machen.