"Die wissen bestimmt schon, was ich hier so treibe", schreibt sie und fügt ein neutral-dreinblickendes Smiley hinzu. Es wirkt ein wenig, als habe sich Nataliya damit abgefunden, dass sie gerade gefährlich lebt.
"Telegram ist mir lieber", tippt Nataliya in den Instagram-Chat. In dem Messenger-Netzwerk, das hierzulande eher für die Verschwörungsmythen eines veganen TV-Kochs bekannt ist, fühle sie sich sicherer vor der Beobachtung durch die belarussische Polizei.
Nataliya, die ihre Haare blau gefärbt hat, ist eine junge Künstlerin, UX-Designerin – und in der Protestbewegung in Belarus aktiv. Sie hat sich bereit erklärt, mit watson über die Proteste in ihrem Heimatland zu sprechen. Nataliya ist Bloggerin und betreibt mehrere Insta-Accounts mit zusammen mehr als 2000 Followern. Sie kommt aus Minsk, der Hauptstadt von Belarus – jenem osteuropäischen Staat, dessen Staatsgrenze von Berlin aus gerade mal so weit weg ist wie Hamburg von München, und der doch so weit entfernt zu liegen scheint.
Seit nunmehr 26 Jahren herrscht Alexander Lukaschenko über das Land. Erst knapp drei Jahre vor seinem Amtsantritt war Belarus wieder als souveräner Staat auf der Landkarte aufgetaucht – nach Jahrzehnten als Teilrepublik der Sowjetunion
Drei EU-Mitgliedsstaaten teilen sich eine Grenze mit Belarus, das in Deutschland lange gemeinhin auch als Weißrussland bezeichnet worden war. Und das, obwohl das Land mit Russland wenig gemein hat und erst recht kein Teil des großen Nachbarlandes ist. Wegen seiner repressiven an Sowjetzeiten erinnernden Politik wird Lukaschenko oft als "Europas letzter Diktator" bezeichnet.
Und gegen diesen Diktator lehnen sich gerade Zehntausende auf.
Eigentlich war sie gar keine politische Aktivistin, erklärt Nataliya. Bis zum Sommer. "Als diese schrecklichen Dinge passiert sind, da konnte ich nicht mehr fernbleiben." Seit Mai 2020 engagiere sie sich politisch, seither sei es nur schlimmer geworden, mit der Unterdrückung und Verfolgung.
Welche "schrecklichen Dinge" Nataliya meint, beschreibt sie so: "Am Anfang haben sie nur Aktivisten verhaftet, dann aber haben sie begonnen, Menschen in Autos zu zerren, die keine Nummernschilder hatten. Sie haben Blogger verhaftet und Kandidaten der Opposition." All das sei noch ohne Folter abgelaufen, erzählt sie im Telegram-Chat und man meint, aus ihren Worten Resignation herauszulesen. Gewalt gegen politische Gegner, nichts Neues im Reiche Lukaschenkos.
"Am 9. August aber, da wurde alles anders", tippt Nataliya weiter.
An jenem Sonntag hatte sich Lukaschenko zum Wahlsieger einer Abstimmung erklärt, von der unabhängige Beobachter überzeugt sind, dass sie massiv manipuliert worden ist. 80 Prozent der Stimmen will Lukaschenko bekommen haben. Wirklich bekommen hat er die größten Proteste in der Geschichte seiner Amtszeit. Zu Zehntausenden gehen die Menschen jeden Tag auf die Straßen, rufen, an Lukaschenko gerichtet, "Hau ab!", "Freiheit!" und "Es lebe Belarus!". Viele von ihnen sind Frauen. Die prominenteste davon ist Lukaschenkos Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja.
Viele Frauen seien auf der Straße, "und das ist großartig", tippt Nataliya. Zuerst seien es aber die Männer gewesen, "die sich unter den Kugeln weggeduckt haben". Die Frauen mit den Blumen seien erst danach gekommen, als es schon wieder einigermaßen sicher gewesen sei.
Die Frage danach, ob Frauen bei den Protesten eine außerordentliche Rolle spielen, sei aber nicht entscheidend, findet sie.
Und auf diese Ziele ließ Lukaschenko schießen, mit Gummigeschossen und vereinzelt wohl auch mit scharfer Munition. Zwei Menschen starben, um die 7000 wurden verhaftet. "Darauf war ich nicht vorbereitet", erzählt Nataliya.
Wasserwerfer, die habe sie erwartet, auch Verhaftungen. Sie habe ihren Freunden gesagt, dass sie demonstrieren gehe, eine Tasche mit Unterwäsche und Medikamenten gepackt, "für eine Haft von 10 bis 15 Tagen". "Ich habe einem Freund Anweisungen für den Fall einer Verhaftung hinterlassen", dann sei sie los. Als sie dann gesehen habe, wie Gefängnisbusse in die Menge fuhren, habe sie sich "hilflos und einfach nur zornig" gefühlt.
Es scheint fast, als sehe Lukaschenko, dass er es übertrieben hat, mit dieser letzten mutmaßlichen Wahlmanipulation. Als sei dem Diktator bewusst, dass er den Belarussen Unrecht angetan hat. Und dass er deshalb umso härter auf diejenigen eindreschen lässt, die seinen Abtritt fordern.
Aus den Minsker Gefängnissen, aus Okrestino und dem KGB-Knast Amerikanka verbreiteten sich am vergangenen Sonntag und den Tagen darauf schnell Erzählungen von brutalen Misshandlungen, von Tritten und Schlägen gegen Gefangene, von Folter mit Elektroschocks. "Eine menschenrechtliche Katastrophe", nannte Amnesty International das. "Tagelang sah die Welt fassungslos zu, wie die Polizei in Belarus mit Gummigeschossen und Tränengas gegen friedliche Protestierende vorging. Es wird nun immer deutlicher, dass die brutalen Szenen in den Straßen von Belarus lediglich die Spitze des Eisbergs sind", klagte Marie Struthers, Direktorin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International. Sie könnte Recht behalten.
"Wir sind brutale Verhaftungen gewohnt", sagt Nataliya. "Aber Folter, zumindest in dieser Brutalität, das ist noch nie vorgekommen." Sie selbst sei glimpflich davon gekommen, auch ihrem Ehemann Pavel sei nichts passiert. Aber einen Freund hätten die Sicherheitstruppen festgenommen.
"Sie haben Evgeny an einer Kreuzung verhaftet, auf dem Motorrad. Ein Van hielt neben ihm, zwei gepanzerte Männer sind ausgestiegen, haben ihm eine Waffe vorgehalten und gesagt: 'Du kommst jetzt mit uns.'" Schon im Van sei er verprügelt worden, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Seine Motorradausrüstung habe das Schlimmste abgefangen.
"Vielleicht hat ihn auch ein Foto seiner Nichte gerettet, dass sie auf seinem Telefon gefunden haben", sagt Nataliya und erklärt, dass Lukaschenkos Schergen das Mädchen wohl für Evgenys Tochter hielten. Ihr Freund habe "Glück gehabt", tippt Nataliya. Besonders abgesehen hätten es Lukaschenkos Schergen auf die Demonstranten, die Verbandszeug dabei hatten oder Medikamente. "Die haben sie richtig grausam behandelt."
Zwei Tage lang habe sie mit ihrem Mann zusammen versucht, Evgeny zu finden – ohne Erfolg. "Er stand auf keiner Liste, niemand wusste, wo er ist." Dann ein Zufall: "Eines Nachts war ich mit meinem Mann vor dem Gericht, in dem die Anhörungen stattfinden. Wir haben die Freigelassenen nach Hause gefahren, und da stand er." Nun arbeite ein Psychologe mit Evgeny daran, das Erlittene zu verarbeiten.
Nataliya erzählt noch weiter, von Misshandlungen, von zu engen Zellen, in die zu viele Verhaftete gesperrt wurden, von überfüllten Gefängnishöfen, von Menschen, deren Verletzungen nicht behandelt worden seien. Dann tippt sie schließlich:
Man könnte annehmen, dass sie besonders aktive Mitglieder der Protestbewegung rausnehmen wollen, versucht Nataliya sich an einer Erklärung. "Aber sie machen dasselbe auch mit Leuten, die einfach nur auf der Straße stehen, mit Kindern oder Senioren."
Inzwischen hat die Gewalt auf den Straßen Belarus' etwas nachgelassen, von den 7000 Verhafteten sind viele wieder auf freiem Fuß. Sie sei dabei gewesen, als die ersten Menschen aus der Hölle – so nennt Nataliya die Haft – zurückgekommen sind. "Das war das Schrecklichste, was ich in meinem Leben je erlebt habe."
Und längst nicht jeder Festgenommene ist wieder auf freiem Fuß. "Von 81 Menschen fehlt noch immer jede Spur", sagt Nataliya. Niemand wisse, wo diese Leute sind, ob sie noch leben.
In Krankenhäusern werden unterdessen die Verletzten weiter versorgt. Unter diesen seien Menschen, die Anzeichen brutalster Vergewaltigung aufwiesen, erzählt Nataliya. "Die meisten von ihnen sind Männer, aber auch Frauen sind dabei. Ihre Genitalien sind zerstört, manche haben eine gerissene Harnblase." Sie braucht lange, um diesen Text zu tippen, fast eine Viertelstunde.
Dann sagt sie: "Wollen Sie uns in Angst halten, wollen Sie, dass wir sie fürchten? Ich weiß es nicht." Sie schiebt noch hinterher, dass nicht alle Verhafteten so behandelt wurden, wie sie es eben erzählt hat. Aber von den Gefängnisbussen der Sicherheitstruppen wird sie sich in Zukunft fernhalten, meint sie.
Eines sei klar geworden, nach acht Tagen Protest und Gewalt: "Die Spielregeln haben sich verändert." Am Anfang sei es nur um Lukaschenkos Rücktritt gegangen. "Jetzt geht es bei den Protesten auch darum, dass die Gefangenen freikommen. Und dass die Verantwortlichen für diese Abscheulichkeiten zur Rechenschaft gezogen werden." Der Protest gegen die Regierung ist längst zu einem Protest für Menschenrechte geworden.
Lukaschenko klammert sich jedoch weiter fest an seine Macht. Das zeigt schon das brutale Vorgehen seiner Sicherheitstruppen. Zwar hat der Präsident am Montag beim Besuch einer Fabrik für Militärlaster in Minsk angedeutet, es könne eine Neuauflage der Verfassung geben und damit vielleicht auch Neuwahlen – dass der 65-jährige Staatschef seine Macht aber so schnell abgibt, daran mag derzeit niemand so recht glauben. Lukaschenko spielt auf Zeit, sagen Experten, er will die Krise aussitzen und redet deshalb von Verfassungsänderungen, Volksabstimmungen und Neuwahlen.
Die Opposition will diese Taktik Lukaschenkos nicht hinnehmen. Sie baut darauf, den mächtigsten Mann im Land mit Streiks zur Aufgabe zu zwingen. Der wirtschaftliche Schaden, der durch die Arbeitsniederlegungen entstehe, treffe vor allem den Machtapparat, sagte eine Aktivistin in einer Videobotschaft. "Sie verstehen nur diese Sprache."
Die Machtelite benötige das Geld für ihr eigenes Wohlbefinden oder auch für die Einsatzkräfte bei den Protesten. Arbeitern, die Angst um ihre Existenz haben, sicherte die Opposition über einen Solidaritätsfonds finanzielle Hilfen zu. Immerhin: Experten gehen davon aus, dass der Staatschef über die Arbeitsniederlegungen nach 26 Jahren an der Macht am schnellsten zum Aufgeben gedrängt werden kann.
"Derzeit sind Streiks unser Hauptdruckmittel", bestätigt Nataliya watson. Sie selbst arbeite zwar weiter, "aber ein Teil meines Gehalts spende ich an die Soli-Fonds für die Streikenden und die Opfer der Repressalien". Im Moment müsse sie Kraft tanken, die letzten Tage seien sehr kräftezehrend gewesen. Die Pause soll nur kurz dauern. "Wenn wir wieder aktiv werden, dann will ich dabei sein."
Die Hoffnung darauf, dass das Land einen friedlichen Wandel durchläuft, scheint sie aber, angesichts der Erfahrungen der letzten Tage, aufgegeben zu haben. "Ich wünsche mir das wirklich sehr, aber Lukaschenko wird nicht einfach gehen", tippt Natalyia. Die Jagd auf Aktivisten habe bereits begonnen.
"Ich hoffe, dass ich nicht Aktivistin genug bin, um auf ihrem Radar aufzutauchen", sagt Nataliya, "aber ich denke in letzter Zeit oft darüber nach, eine Fluchttasche zu packen." Am besten sei es, in die Ukraine zu fliehen. "Das geht für uns derzeit am einfachsten." Auch in Litauen hat die Regierung die Not der Menschen erkannt und – trotz Corona – die Grenzen für Menschen, die aus humanitären Gründen Belarus verlassen wollen, geöffnet.
Für Nataliya aber ist klar, dass diese Geschichte für sie nur einen Ausgang haben kann: Lukaschenko muss gehen. "Ich bin bereit so lange zu protestieren, wie es nötig ist", tippt sie. Sie habe sehr darauf gehofft, dass die Wahlen etwas ändern würden, dass es diesmal "nicht so wie sonst läuft". Nataliya ergänzt: "Vielleicht war ich naiv."
Sie wolle, dass Lukaschenko "uns in Ruhe lässt", dass die Kinder ihrer Schwester, die ihrer Freunde, "und alle kommenden Generationen" in einem "freien und normalen Land" leben können. Und noch eines will Nataliya: Rache.
Kaum hat sie den Wunsch in ihr Smartphone getippt, schreibt sie, dass sie ihn bedauert, aber: