Drei Finger in die Luft: Aktivistin Thinzar Shunlei Yi bei einer Protestveranstaltung. Sie macht dabei die Geste, die zum Symbol der Bewegung gegen den Militärputsch geworden ist. Sie ist dem Film "Die Tribute von Panem" entlehnt und symbolisiert den Widerstand einer unterdrückten Gesellschaft.bild: Thinzar Shunlei Yi
Die Stimme
"Es ist ein tägliches Massaker": Demokratieaktivistin Thinzar Shunlei Yi beschreibt den Alltag in Myanmar
Zweieinhalb Monate ist es her, dass in Myanmar das Militär die Macht an sich gerissen hat. Mit einem Putsch haben die Soldaten am 1. Februar das Ergebnis der Parlamentswahl vom November 2020 zunichtegemacht. Gewonnen hatte die Partei der damaligen Regierungschefin Aung San Suu Kyi, mit überwältigenden 83 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Es gibt ein Video von den Tagen des Putsches, das seither hundertmilllionenfach angeschaut und geteilt worden ist: Darauf zu sehen ist eine Fitnesstrainerin, die in Naypyidaw, der Hauptstadt Myanmars, unbeirrt ihre Übungen durchzieht – während im Hintergrund Militärfahrzeuge über eine breite Straße rollen. Der Clip wurde zum Meme, zu einer Vorlage für den globalen Humor. Eigentlich ist aber gar nichts lustig an dem, was gerade in Myanmar geschieht.
Eigentlich ist nichts am Putsch in Myanmar lustig: Das Video einer Aerobic-Lektion vor Militärfahrzeugen in Myanmar, das Anfang Februar weltweit viral ging. bild: screenshot youtube/bbc
Über 700 Menschen hat die Militärregierung seit der Machtergreifung im Februar laut der Menschenrechtsorganisation AAPPB getötet. Über 3000 wurden demnach wegen ihrer politischen Aktivität festgenommen, angeklagt oder verurteilt. Die gewählte und von den Wahlen bestätigte Aung San Suu Kyi steht unter Hausarrest.
Gegen die abertausenden Menschen, die in Myanmar seit Februar gegen den Putsch protestieren, wendet das Militär teilweise extreme Brutalität an: Am zweiten Aprilwochenende beschossen Soldaten in der nordmyanmarischen Stadt Bago Berichten zufolge Demonstranten mit Artillerie und Granaten.Die Anhänger der Demokratiebewegung gehen trotzdem weiter auf die Straße.
Demonstranten laufen vor der Polizei davon.Bild: ap
Unter ihnen sind viele junge Menschen. Auch die Todesopfer sind oft jung, viele von ihnen sogar minderjährig: In mehreren Städten sind auch Kinder bei Protesten getötet worden. Von 40 umgebrachten Kindern schreibt die "New York Times" in einem erschütternden Artikel, der die Geschichte eines zehnjährigen Mädchens erzählt, das ein Soldat mit einem Kopfschuss tötete.
Was bedeutet es, in diesen Tagen in Myanmar für die Demokratie auf die Straße zu gehen? Wie gefährlich ist der Alltag dort? Was heißt es für junge Aktivisten, in einer Militärdiktatur zu leben?
watson hat eine der bekanntesten Demokratieaktivistinnen Myanmars gefragt: Thinzar Shunlei Yi. Sie ist 29 Jahre alt, lebt in der Millionenmetropole Yangon – die auch Rangun genannt wird und früher die Hauptstadt des Landes war. Sie setzt sich seit fünf Jahren aktiv für Menschenrechte ein. Thinzar Shunlei Yi war 2019 Teil des Förderprogramms "Leaders: Asia Pacific" der Obama Foundation, der Stiftung von Ex-US-Präsident Barack Obama. Heute ist sie Koordinatorin im myanmarischen Demokratie-Netzwerk ACDD, dem 12 Organisationen im ganzen Land angehören.
Über sich selbst erklärt Thinzar Shunlei Yi gegenüber watson:
"Ich wurde zur Menschenrechtsaktivistin, ohne es zu wissen. Ungerechtigkeit und Unterdrückung ertrage ich nicht, seit ich sehr jung bin. Als 2011 der Bürgerkrieg im Kachin-Staat, im Norden Myanmars, wieder ausgebrochen ist, hat das den Aktivismus in mir geweckt. Seither setze ich mich für unterdrückte Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Religion, ethnischer Herkunft und sexueller Orientierung ein. Eine Menschenrechtsaktivistin zu sein, ist im Grunde genommen auch die Art zu leben, nach der ich als bekennende Buddhistin gesucht hatte."
Der Buddhismus ist die Religion, der die meisten Menschen in Myanmar folgen, nach offiziellen Angaben sind es 87,9 Prozent.
Thinzar Shunlei Yi ist nach eigenen Angaben seit 2011 Aktivistin für Menschenrechte. bild: thinzar shunlei yi
Schikanen gegen Ärzte, willkürliche Gewalt gegen Protestierende
Über die Situation seit dem Militärputsch ab dem 1. Februar schreibt Thinzar Shunlei Yi gegenüber watson:
"Mit dem Militärputsch, der Covid-19-Pandemie und dem nach wie vor herrschenden Bürgerkrieg verschlechtert sich die Lage Tag für Tag. Ich bezweifle, dass ich alle Verbrechen der Armee überhaupt im Detail beschreiben könnte. Die Völker Myanmars und das legitimierte CRPH (ein Gegenparlament, das aus bei der Wahl im November 2020 gewählten Abgeordneten besteht, Anm. d. Red.) bezeichnen die Streitkräfte Myanmars als terroristische Armee. Es ist eine der stärksten Armeen Asiens. Unter ihrer Herrschaft werden überall massive Menschenrechtsverletzungen begangen. Jeder kann ins Visier geraten, getötet und eingesperrt werden, mit jeder beliebigen Begründung. Die Vertreter der Armee finden schon ein Gesetz, das es dann rechtfertigt."
Konkret beschreibt sie den Alltag so:
"Die Informations- und die Pressefreiheit werden heftig angegriffen. Es gibt landesweite Internetsperren, Einwohner unterschiedlicher Communities werden jeden Tag und jede Nacht bedroht, wenn irgend etwas Verdächtiges in ihrer Umgebung passiert. Manche Städte, in denen der Widerstand stark ist, stehen unter Kriegsrecht und unter strikter Beobachtung der Sicherheitskräfte. Unzählige Menschen werden täglich verletzt, medizinisches Personal wird schikaniert, weil es einfach seinen Job macht – das sind Erfahrungen, die viele traumatisieren."
Zusammenfassend meint Thinzar Shunlei Yi:
"Allgemein kann man zur Lage vor Ort sagen: Es ist ein tägliches Massaker."
Neben der Gewalt gegenüber Protestierenden nähmen die bewaffneten Konflikte zwischen dem Militär und Milizen einzelner ethnischer Gruppen in deren Gebieten zu – und in den Grenzregionen Myanmars. Wörtlich schreibt Thinzar Shunlei Yi: "Es gab Luftangriffe und Angriffe mit Mörsergranaten, Tausende Menschen wurden vertrieben."
Thinzar Shunlei Yi Ende März in einem Videointerview mit "Time". Im Video sind auch Szenen der Gewalt zu sehen, die das Militär gegenüber Protestierenden ausübt. Video: YouTube/TIME
Ständige Umzüge und Unfreiheit
Thinzar Shunlei Yi begibt sich mit ihrem Einsatz gegen das Militärregime und für einen demokratischen Wandel selbst in Gefahr. Sie lebt nach eigenen Angaben in einem "safe house", einer vor dem Zugriff des Militärs geschützten Ort. Das biete aber keinen absoluten Schutz, meint sie. In einem Interview mit dem Magazin "Time" erklärte sie im März: "Ich kann getötet werden. Ich kann verhaftet werden. Ich kann schwer misshandelt werden. Aber mit diesem Wissen protestieren wir weiter, weil wir keine andere Wahl haben."
Gegenüber watson meint sie, dass sie selbst schon in den Jahren vor dem Militärputsch wegen ihres Einsatzes in Gefahr war.
"Ich habe in den vergangenen fünf Jahren mehrere brandgefährliche Situationen erlebt, auch als die Zivilisten an der Regierung waren. Als Teil dieser Bewegung sind wir überhaupt nicht sicher, ob wir uns online oder offline bewegen."
Sie wechsle deshalb seit Jahren immer wieder ihren Wohnort – wie viele andere Aktivistinnen und Aktivisten.
"Viele von uns waren gezwungen, an unterschiedliche Orte umzuziehen, weil die Gefahr willkürlicher Festnahmen gestiegen ist und ständig Haftbefehle erlassen werden. Als Aktivistin bin ich in den vergangenen fünf Jahren ständig von Wohnung zu Wohnung umgezogen, in verschiedene Städte. Jetzt muss ich das ziemlich oft machen, um nicht entdeckt und womöglich festgenommen zu werden. Viele andere tun das auch."
Thinzar Shunlei Yis Fazit:
"Egal, ob du eingesperrt bist oder nicht – du bist nicht frei."
Thinzar Shunlei Yi bei einer Demonstration.bild: Thinzar shunlei yi
Bürgerkriegsgefahr und Hoffnung
Die Lage in Myanmar spitzt sich weiter zu. "Ich befürchte, dass die Situation in Myanmar auf einen ausgewachsenen Konflikt zusteuert", sagte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Dienstag in Genf. Es gebe deutliche Parallelen zum Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011. Die Staatengemeinschaft dürfe nicht zulassen, dass sich in Myanmar die "tödlichen Fehler" wiederholten, die in dem arabischen Land begangen worden seien.
Die Demokratie-Aktivistin Thinzar Shunlei Yi bleibt trotzdem grundsätzlich optimistisch. Vor allem die Einigkeit der Menschen vor Ort, die sie wahrnehme, mache ihr Hoffnung. Wörtlich erklärt sie gegenüber watson:
"Bevor wir die terroristische Institution namens Streitkräfte Myanmars ein für alle Mal abschaffen können, sind wir Myanmarer schon stärker vereint als je zuvor. Wir sind auf der Siegerstraße, wir erreichen jeden Tag neue Ziele. Die Strategien des Militärs, um das Land zum Schweigen zu bringen und zu destabilisieren, sind nicht erfolgreich. Die Völker Myanmars leisten Tag für Tag Widerstand, ihre Warnung lautet: 'Wir werden nie beherrscht werden.' Der Putsch hat uns alle aufgeweckt, wir sind Demonstranten und Aktivisten geworden, wir fordern Gerechtigkeit ein und verlangen, dass die Mächtigen Rechenschaft für ihr Handeln ablegen. Und das Wichtigste: Jeder von uns erhebt sich nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle."
Thinzar Shunlei Yi glaubt, dass der Protest auch viele Menschen für ein myanmarisches Drama sensibilisiert habe, das schon in den Jahren vor dem Militärputsch für weltweites Entsetzen sorgte: die Entrechtung und Vertreibung der Rohingya und die Gewalt gegen diese muslimische Bevölkerungsgruppe.
Sie sagt dazu:
"Wir haben das Leid der unterdrückten Communities im Land verstanden, viele haben ihre Ignoranz zugegeben und sich dafür entschuldigt. Die Verbrechen, die wir täglich ertragen, werden jeden von uns daran erinnern, uns gemeinsam für alle einzusetzen. Die Verfassung, die das Militär entworfen hat, ist jetzt abgeschafft. Wir gehen einer besseren Zukunft entgegen. Die Revolution ist dabei, ein neues Myanmar entstehen zu lassen."
Die Diktatur des Militärs sei nicht erfolgreich. Sie meint:
"Der Putsch ist bis jetzt einfach gescheitert."
Wichtige Fakten über Myanmar
Das südostasiatische Land Myanmar ist seit 1948 unabhängig und war vorher eine britische Kolonie. Es hat rund 55 Millionen Einwohner. Seine Fläche ist fast doppelt so groß wie die Deutschlands. Myanmar ist ein Vielvölkerstaat: 135 verschiedene Ethnien leben auf dem Territorium. Myanmar ist faktisch seit 1962 eine Militärdiktatur. Seit den 1980er-Jahren gibt es aber eine starke Demokratiebewegung. Zwischen 2011 und dem Putsch im Februar 2021 schien das Land unter der Regierungschefin und früheren Demokratieaktivistin Aung San Suu Kyi auf dem Weg in Richtung Demokratie. Diesen Weg hat das Militär mit seiner Machtergreifung brutal unterbrochen. In Myanmar wird seit Jahren rohe Gewalt gegen die muslimische Minderheit der Rohingya ausgeübt. Circa 1,5 Millionen Rohingya wurden Schätzungen zufolge vertrieben, es gibt seit Jahren Berichte über Massaker, die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte spricht von Genozid, also Völkermord. Viele Beobachter und ein Teil der Demokratieaktivisten in Myanmar selbst werfen Aung San Suu Kyi vor, in ihrer Regierungszeit nicht genug gegen die Gewalt getan zu haben.
Viele der Demonstranten in Myanmar tragen bei Protestveranstaltungen Bilder von Aung San Suu Kyi, der vom Militär abgesetzten und unter Hausarrest gestellten Regierungschefin. Thinzar Shunlei Yi sieht Aung San Suu Kyi, die für ihren Kampf für Demokratie 1991 den Friedensnobelpreis erhielt, allerdings inzwischen kritisch – so wie viele Beobachter weltweit. Vor allem wegen der Haltung der Politikerin zur Gewalt gegenüber den Rohingya.
Gegenüber watson erklärt sie dazu:
"Ihretwegen bin ich geworden, wer ich heute bin: wegen ihres Aktivismus und ihres Einsatzes für ein besseres Land. Aber während ihrer Regierungszeit habe ich öffentlich erklärt, dass ich mein Idol verloren habe, wegen ihrer mangelnden moralischen und politischen Führung in Krisenzeiten, in der Rohingya-Krise und im Umgang mit ethnischen Minderheiten."
Sie hofft, dass Aung San Suu Kyis Partei Nationale Liga für Demokratie (NLD) erkennt, dass sie auf breite Unterstützung in allen Volksgruppen angewiesen ist. Es brauche jetzt "kollektive Führung, Einheit in Vielfalt für einen demokratischen Bundesstaat".
Die abgesetzte myanmarische Regierungschefin Aung San Suu Kyi bei einem Besuch in China im April 2019. Bild: imago images / Valery Sharifulin
Thinzar Shunlei Yi, die auf ihrem Twitteraccount auf Englisch und Birmanisch regelmäßig ihre Perspektive auf die Lage in Myanmar schildert, hat auch einen Appell in Richtung Europa.
Zum einen sei sie dankbar für die "überwältigende Unterstützung und Solidarität, die wir von den Völkern Europas bekommen". Die Regierungen Europas seien "echte Freunde Myanmars".
"Wir waren nicht glücklich darüber, dass die EU abgewartet hat, wie brutal das Militär noch werden kann. 700 Menschen sind gestorben, bevor die EU Sanktionen gegen die Geschäfte des Militärs und ein Waffenembargo verhängt hat. Es ist das Mindeste, das sie tun können, trotzdem warten sie ab. Ich wünsche mir, dass die Regierungen in Europa und die EU selbst Kontakt zum Gegenparlament CRPH aufnehmen – und dass sie die Streitkräfte Myanmars wirksam für ihre brutalen und sinnlosen Tötungen bestrafen."
USA: Unternehmen kündigen Preisanstiege wegen Donald Trump an
Am Ende haben nicht Abtreibungen, der Klimawandel oder die Außenpolitik die US-Präsidentschaftswahl entschieden. Wichtigstes Thema waren die Inflation und die Preise. Für 34 Prozent der republikanischen Wähler:innen war es laut einer Umfrage von YouGov ausschlaggebend für die Wahlentscheidung.