Zu einem möglichen Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus sind keine schnellen Entscheidungen zu erwarten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will zunächst die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten. Das sagte eine Regierungssprecherin am Montag. Sie bekräftigte, die Frage eines Weiterbetriebs der drei Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus werde ergebnisoffen geprüft.
Ein Sprecher von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte: "Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt." Die Anforderungen für einen Weiterbetrieb wären sehr hoch, Sicherheitsfragen wären ausschlaggebend.
Das Wirtschaftsministerium hatte vor einer Woche einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland angekündigt. Es gehe darum festzustellen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien.
Mit Ergebnissen sei "in den nächsten Wochen" zu rechnen, bekräftigte eine Sprecherin am Montag. Sie verwies erneut darauf, Deutschland habe wegen der Drosselung russischer Lieferungen in erster Linie ein Gas- und kein Stromproblem. Es gehe auch nicht darum, deutsche Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um "kaputte" französische Atomkraftwerke zu ersetzen. Ein erster Stresstest vom März bis Mai dieses Jahres kam zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im kommenden Winter gewährleistet ist.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) schließt einen sogenannten Streckbetrieb von Atomkraftwerken in Deutschland über das Jahresende hinaus nicht aus. Auf die Frage, ob die Grünen einen Streckbetrieb zulassen würden, sagte sie am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will": "Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist."
Die drei verbliebenen Kernkraftwerke Neckarwestheim 2, Emsland und Isar 2 müssen nach geltendem Recht spätestens am 31. Dezember abgeschaltet werden. An der Nettostromerzeugung in Deutschland haben sie im laufenden Jahr einen Anteil von rund sechs Prozent.
Ein Streckbetrieb gilt als nicht einfach: Die Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft waren in einer Prüfung im März zum Ergebnis gekommen, dass die drei Meiler mit den vorhandenen Brennstäben nach dem 31. Dezember nur dann weiterlaufen könnten, wenn ihre Stromerzeugung vorher gedrosselt würde. Die Ministerien hatten von einem Weiterbetrieb abgeraten. Der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zufolge wäre ein Streckbetrieb für mindestens 80 Tage realisierbar.
Die FDP ist für längere Laufzeiten. Der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Matthias Miersch, sieht einen Weiterbetrieb weiterhin skeptisch. Er sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, die Sicherheitsüberprüfungen der verbliebenen Atommeiler lägen 13 Jahre zurück, auch das müsse ausreichend berücksichtigt werden.
Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) dienen laut Umweltministerium dazu, ergänzend zu laufenden Kontrollen ein AKW quasi auf Herz und Nieren zu prüfen. Laut Atomgesetz müssen die PSÜ eigentlich alle zehn Jahre durchgeführt werden. Für die verbliebenen drei AKW gab es das letzte Mal im Jahr 2009 eine PSÜ. Auf die letzte PSÜ habe verzichtet werden dürfen – wenn der AKW-Betreiber verbindlich erklärt habe, nicht später als drei Jahre nach dem für die letzte PSÜ vorgeschriebenen Zeitpunkt den Leistungsbetrieb endgültig einzustellen.
Christoph Bautz, Geschäftsführender Vorstand des Kampagnen-Netzwerks Campact, sagte: "AKWs sind eine tickende Zeitbombe, deren Zünder mit jedem Betriebsjahr lockerer sitzt." Mit einer Laufzeitverlängerung zum Abbrennen der Brennstäbe drohe die prinzipielle Abkehr vom Atomausstieg.
(ast / dpa)