"Andere": So ist immer der letzte Balken in den Diagrammen beschriftet, mit denen Wahlergebnisse üblicherweise abgebildet werden. Die Wahlergebnisse der Kleinparteien, von radikalen Tierschützern über Satire- und Seniorenparteien bis zu Neonazis, sind in der Prozentzahl auf diesem Balken zusammengefasst. Bei Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen steckt hinter "Andere" aber auch die wohl größte Überraschung. Ihr Name: Volt Deutschland.
Die Partei ist zum ersten Mal bei einer Kommunalwahl im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland angetreten. Auf den allerersten Blick ist das Ergebnis eher bescheiden ausgefallen: 0,5 Prozent aller in NRW abgegebenen gültigen Stimmen bekam die 2017 als europäischer Verein und 2018 in Deutschland als Partei gegründete Bürgerbewegung. Die Satirepartei "Die Partei" haben insgesamt doppelt so viele Menschen gewählt.
Bemerkenswert wird das Resultat aber auf den zweiten Blick:
Im März 2017 haben der Deutsche Damian Boeselager, der Italiener Andrea Venzon und die Französin Colombe Cahen-Salvador Volt als europäischen Verein gegründet. Volts Hauptziel ist es, politisch für europäische Integration zu werben. Das Anliegen der Gründer: Die Europäische Union soll nicht nur verteidigt werden gegen Rechtspopulisten, die sie zerschlagen wollen – sondern die EU soll deutlich mächtiger werden als bisher.
2018 wird Volt auch als Partei in Deutschland gegründet. 2019 tritt Volt bei der Europawahl an. Da europaweite Listen allerdings nicht erlaubt sind, bewerben sich sieben unterschiedliche nationale Sektionen von Volt in den jeweiligen Ländern um Wählerstimmen. Mit der deutschen Sektion schafft Volt auf Anhieb den Einzug ins Europaparlament: Da es bei Europawahlen in Deutschland keine Einprozent-Hürde gibt, reichen 0,7 Prozent der Stimmen. Volt-Mitbegründer Damian Boeselager vertritt Volt seit 2019 nun im Europaparlament.
Geht es nach Volt, sollen deutlich mehr Aufgaben als bisher auf europäischer Ebene gelöst werden statt in den einzelnen Nationalstaaten: Unter anderem fordert Volt, das Amt eines EU-Präsidenten zu schaffen, der direkt von den Europäerinnen und Europäern gewählt wird – und einen EU-Finanzminister.
Volt spricht sich für deutlich strengeren Klimaschutz auf EU-Ebene aus, für eine gemeinsame humanitäre Asylpolitik und spürbar mehr Investitionen in Forschung und Bildung.
Doch was will eine paneuropäische Partei in der Kommunalpolitik erreichen? Der wenig überraschende Slogan von Volt für die NRW-Kommunalwahl lautet: "Europäisch denken, lokal handeln". Es ist angelehnt an das jahrzehntealte, in der Umweltbewegung weit verbreitete Motto "Think globally, act locally" (dt.: "Global denken, lokal handeln").
Liest man die Wahlprogramme von Volt für die größeren Städte in Nordrhein-Westfalen, fällt auf, dass die Schwerpunkte auf Digitalisierung, Umwelt- und Klimaschutz liegen, auf Verkehrspolitik und Wohnungsbau. Außerdem stehen in den Programmen mehr oder minder ausführliche Forderungen zur Integration nicht-deutscher Bürger und Menschen mit Migrationsgeschichte, zur Inklusion von Menschen mit Behinderung und zur Sozialpolitik.
Eine Besonderheit: In ihren Wahlprogrammen weist Volt auf internationale "best practices" hin. Auf Beispiele anderer europäischer und nicht-europäischer Städte also, die in bestimmten Bereichen laut Volt vorbildhaft sind.
Zu den Forderungen aus dem Volt-Programm für Köln gehören:
Jennifer Glashagen, Spitzenkandidatin von Volt in Köln, sagt im Gespräch mit watson über die rund fünf Prozent ihrer Partei in der Stadt: "Damit haben wir nicht gerechnet" – und über die Party danach: "Das war eine lange Nacht". Für Glashagen hat das Thema Klimaschutz den Ausschlag für den Erfolg gerade bei jungen Menschen gegeben. Glashagen sagt:
Klimaschutz war bisher politische Domäne der Grünen. Volt, sagt Glashagen, präsentiere aber "progressiv-pragmatischere Lösungen", also konkrete Beispiele, wie Klimaschutz vor Ort umgesetzt werde. Die Partei sei "nicht an Grabenkämpfen interessiert" und nicht "festgefahren" auf Bündnisse mit bestimmten Parteien.
Paul Loeper, Vorsitzender von Volt in Deutschland, sagt gegenüber watson, über allem stehe die politische Vision von Volt: Die politische Vereinigung Europas. Und dafür nicht nur junge Menschen in den Metropolen und Universitätsstädten zu gewinnen, die im Studium ihren Erasmus-Auslandsaufenthalt gemacht haben, sondern auch junge Handwerker und Azubis, müsse die Partei in den weiteren Kommunen präsent sein und Probleme vor Ort lösen. Volt habe dabei schon "einen großen Schritt gemacht": Das Durchschnittsalter der Partei sei von 28 auf 34 gestiegen, von vier Städteteams sei Volt auf fast 150 gewachsen.
Der Politologe Tarik Abou-Chadi, Assistenzprofessor am Zentrum für Demokratie im schweizerischen Aarau, hat zwei Thesen zum Erfolg von Volt in einzelnen NRW-Kommunen.
Zum einen liege der Erfolg an den Themen: Mit ihrer Forderung nach einer deutlich stärkeren Europäischen Union habe Volt ein Thema besetzt, das jungen Menschen "unglaublich wichtig" sei, sagt Abou-Chadi zu watson – gerade in einer Zeit, in der der Brexit und das Erstarken autoritär-nationaler Parteien von Ungarn über Polen bis in die USA vielen jungen Menschen Angst mache. Außerdem verbinde Volt die Forderungen nach mehr europäischer Integration mit anderen "progressiven Themen" wie strengerem Klimaschutz und der Energiewende.
Abou-Chadi dazu wörtlich:
Hauptkonkurrent von Volt ist nach Abou-Chadis Einschätzung dabei neben den Grünen auch die FDP: Die Partei trete liberal und progressiv auf, setze aber deutlich weniger auf Umverteilung als die Grünen – und sei dadurch besonders für gut Verdienende junge Städter attraktiv.
Zum anderen, und das ist die zweite These Abou-Chadis: Volt könne damit punkten, dass sie eine neue, unverbrauchte Partei ist. Die vor über 40 Jahren gegründeten Grünen hätten inzwischen eigene Stammwähler – und haben etwa in Köln zusammen mit der CDU die amtierende Oberbürgermeisterin Henriette Reker unterstützt.
Beim Blick auf Volt drängt sich der Vergleich mit einer anderen, bei jungen Wählern beliebten Partei auf: Vor einem knappen Jahrzehnt, zwischen 2011 und 2012, zog die Piratenpartei in vier Landtage ein und luchste ebenfalls Grünen und FDP Wähler ab. Droht das Schicksal auch Volt?
Experte Abou-Chadi sagt: "Neuen Parteien kann das immer blühen." Entscheidend sei, ob sie es früher oder später in das nationale Parlament schaffen. Davon aber scheint Volt momentan noch ziemlich weit entfernt.
Bei bundesweiten Umfragen taucht die Partei weiterhin nur unter "Andere" auf.