Richard David Precht macht sich Sorgen um unsere Gesellschaft. In seinem neuesten Buch fordert er mehr Gemeinschaftssinn und bringt einen Begriff zurück in die Debatte, der in Deutschland lange Zeit in Vergessenheit geraten war: Die Pflicht.
Watson hat mit ihm darüber gesprochen, warum viele Menschen den Staat vor allem als Dienstleister sehen, dabei aber verkennen, dass auch Bürger eine Pflicht haben und weshalb Precht deshalb nun ein sogenanntes Pflichtjahr für junge Menschen, aber auch Senioren fordert.
watson: Herr Precht, in Ihrem neuen Buch "Von der Pflicht" fragen Sie, welche Pflichten wir als Bürger dem Staat gegenüber haben und umgekehrt. Ist die Pflicht in unserer Gesellschaft in Verruf geraten?
Richard David Precht: Ich bin mir gar nicht so sicher, dass das so ist. Pflichten gegenüber den eigenen Kindern werden ja allgemein positiv wahrgenommen und auch gegenüber Freunden. Aber was wohl gelitten hat, ist das Verständnis der Pflicht gegenüber der Gesellschaft oder dem Staat.
Warum?
Früher hat der Staat seine Bürger zum Kriegsdienst gezwungen und dann in Kriegen verheizt. Es ist ein enormer Fortschritt, dass wir das heute nicht mehr haben. Ich erinnere mich noch an die Angst meines Großvaters vor der Staatsgewalt. Er hat das Kaiserreich und das Dritte Reich erlebt. Wenn der einen Polizisten gesehen hat, stand er unwillkürlich strammer. Heute leben wir in einem Land, in dem wir vor der Polizei keine Angst mehr haben müssen.
Das klingt alles zunächst eher positiv.
Ist es auch. Aber wenn es jetzt dazu führt, dass wir vor nichts mehr Respekt haben, dann kriegen wir als Gesellschaft auch ein Problem. Der Staat ist darauf angewiesen, dass wir ihn zwar nicht fürchten, aber respektieren und anerkennen. Der Staat verlangt uns fast nichts mehr ab, außer Steuern zu zahlen und uns an Gesetze und Verkehrsregeln zu halten. Bedauerlicherweise bekommen viele aber das Gefühl, dass sie nun Kunden des Staates sind.
Sie kritisieren sehr stark, dass die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt wurde. Hat das unser Land egoistischer gemacht?
Das kann man pauschal nicht sagen. Ich kann da nur meine subjektive Einschätzung geben. Ich fand es gut, dass die Menschen gegenüber ihrem Staat in die Pflicht genommen wurden, wobei mir der Zivildienst wichtiger war als der Wehrdienst. Es hat den Bürgern klargemacht, dass sie auch Teil des Staates sind und ihn nicht nur als Dienstleister betrachten können.
Ich höre da eine Kritik am Kapitalismus bei Ihnen heraus.
Ich kritisiere bestimmte Entwicklungen innerhalb unseres marktwirtschaftlichen Kapitalismus. Was mich sehr ärgert und was viel zu wenig thematisiert wird, ist die Flexibilisierung der Preise. Wer heute früher einen Flug bucht oder es über ein bestimmtes Portal macht, zahlt deutlich weniger als derjenige, der erst auf den letzten Drücker bucht oder beim falschen Anbieter. Das finden Sie inzwischen überall. Auch die Deutsche Bahn, ein Unternehmen, das zu 100 Prozent dem Staat gehört, macht sowas.
Was ist die Konsequenz daraus?
Das führt meines Erachtens zu einer Kultur des Misstrauens. Ich bin noch in einer Welt groß geworden, in der man für Treue belohnt wurde. Die jüngere Generation ist in eine Welt hineingeboren worden, von der sie es gewohnt ist, dass sie sie betrügt. Das macht etwas mit einem. Das ist auch eine Quelle dafür, dass Menschen dem Staat misstrauen.
Wie wirkt sich das aus?
Zum Beispiel in der Art, wie wir Politiker kritisieren. Für viele Menschen sind Politiker Deppen. Das ist eigentlich eine kindliche Sicht auf die Dinge. Dass die Politik in der aktuellen Krise einiges falsch gemacht hat, ist völlig klar, aber das sind keine Idioten, die da regieren.
Haben Sie Mitleid mit unserer Regierung?
Mitleid ist ein großes Wort. Aber es sind häufig Entscheidungen, bei denen ich recht froh bin, dass ich nicht in deren Haut stecken muss. Das ist eine sehr undankbare Rolle, man kann so viel falsch machen aktuell und das an allen Fronten.
Besonders Jens Spahn. Der steht jeden Freitag in der Bundespressekonferenz, die für jeden Bürger live einsehbar ist, für die Fehler bei der Pandemiebekämpfung.
Er hat auch selbst einiges dazu beigetragen, aber klar, in seiner Haut möchte man nicht stecken. Zunächst war er als Kanzlerkandidat gehandelt worden, doch je länger die Pandemie dauerte, desto mehr konnte er falsch machen und wurde zum Buhmann der Nation.
Hat die Bevölkerung kein Verständnis für die Notwendigkeit von Maßnahmen?
Generell gibt es schon eine breite Unterstützung für die Maßnahmen. Diejenigen, die sie kritisieren sind in der Minderheit. Und auch dort muss man unterscheiden zwischen denjenigen, die konkrete Maßnahmen für falsch halten wie etwa das Maskentragen im Freien und denjenigen, die dem Staat üble Motive unterstellen. Letztere sind aber weniger als 10 Prozent.
Ist diese Gruppe also medial überrepräsentiert?
Definitiv.
Können Sie sich das erklären?
Diese Leute geben medial sehr viel her. Sie schaffen es, sehr viel Aufmerksamkeit zu generieren. Das mögen die Medien.
Und mit Michael Wendler und Attila Hildmann hat die Bewegung prominente Köpfe.
Was man eben so als prominent wahrnimmt (lacht).
Was bewegt den Anteil der Menschen, die bei solchen Demos mitlaufen, aber nicht an Verschwörungsmythen glauben?
Es gibt auch eine gewisse Prozentzahl an Menschen, die einfach einen starken Widerwillen gegen den Staat haben und das in allen politischen Lagern. Das gibt es bei Rechten wie bei Linken. Es gibt dort aber auch Leute, denen durchaus bewusst ist, wie gefährlich Corona ist – die aber der Meinung sind, dass es nicht so schlimm ist, wenn einige alte und schwache Menschen sterben, wenn man dafür die Wirtschaft retten kann.
Also unsolidarische Menschen?
Das würden sie nicht von sich sagen. Sie würden argumentieren, dass sie sich solidarisch mit der Wirtschaft zeigen, mit Wirten und Kellnern beispielsweise.
Das heißt, wir kommen hier zur Abwägung zwischen Wirtschaft und Menschenleben?
Ja, und da hat der Staat ehrlich gesagt keine Wahl. Das Recht auf Leben wiegt höher als das Recht auf einen Arbeitsplatz. Das eine ist ein Grundrecht. Das andere ist, so formuliert zumindest, kein Grundrecht.
Einige Kritiker sagen, diejenigen die sterben, haben sowieso nicht mehr viele Lebensjahre vor sich.
Wer das sagt, steht nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Dort steht, die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn der Staat jetzt anfängt, den Lebenswert einzelner Menschen nach Alter oder Gesundheit abzuwerten, dann leben wir in einem anderen Staat. Das ist dann dem Dritten Reich ähnlicher als der Bundesrepublik, wie wir sie kennen.
Wolfgang Schäuble hat zuletzt dagegen argumentiert und erklärt, die Würde des Menschen sei zwar unantastbar, nicht aber die Gesundheit.
Das ist auch meine Meinung. Wenn wir nach der Prämisse leben würden, dass die Gesundheit des Menschen unantastbar ist, dann würden wir Autofahren verbieten oder Zucker. Man kann nicht alles dem Gesundheitsschutz unterwerfen, aber das wird auch aktuell nicht getan.
Um für mehr Gemeinschaftssinn zu sorgen, fordern Sie in ihrem Buch nun ein Pflichtjahr. Nicht nur junge Menschen sollen ein Jahr lang Dienst an der Allgemeinheit verrichten, sondern auch alte Menschen bei Rentenbeginn. Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Natürlich kann man nicht alle Menschen dazu verpflichten. Es gibt auch einige, die das nicht wollen und die sollten das auch nicht tun. Aber ungefähr zwei Drittel der Gesellschaft sind durchaus in der Lage und willens, einen Dienst an der Gemeinheit zu verrichten. Mein Vorschlag wäre, dass sie das zweimal in ihrem Leben machen. Einmal für ein Jahr direkt nach dem Schulabschluss und dann noch einmal für 15 Stunden in der Woche ein Jahr lang nach dem Renteneintritt.
Was versprechen Sie sich davon?
Ein Drittel der Senioren tut das bereits. Wir würden also ein weiteres Drittel gewinnen und die Mehrheit aller Menschen würde einer sozialen Tätigkeit im Alter nachgehen. Da würde es kein lernschwaches Kind mehr in der Grundschule geben, das nicht gecoacht wird. Dem Naturschutz würde keine helfende Hand mehr bei der Krötenwanderung fehlen. Ich glaube auch, dass viele, die das mal für ein Jahr gemacht haben, dabei bleiben werden.