Katja Kipping ist Parteivorsitzende der Linken und gilt als Befürworterin einer Regierung aus SPD, Grünen und Linkspartei.Bild: imago images / Jens Schicke
Exklusiv
Kipping: "CDU hat den Ernst der Lage nicht verstanden"
Im Interview mit watson spricht Katja Kipping über die fehlende Anerkennung von Pflegeberufen und wirft der CDU vor, wichtige Maßnahmen im Kampf gegen die Krise zu blockieren.
Aus der medizinischen Krise durch das Coronavirus ist längst eine wirtschaftliche geworden. Eine Rezession durch die Pandemie ist laut Wirtschaftsexperten unvermeidlich. Im Kampf gegen die Krise hat die Bundesregierung einen gigantischen Schutzschirm im Volumen von vielen hundert Milliarden Euro verabschiedet, um Unternehmen und Selbstständigen zu helfen.
Einige Konzerne scheinen aber die Krisensituation für ihren eigenen Vorteil zu nutzen. H&M und Adidas hatten angekündigt, die Miete für ihre Filialen für einige Monate nicht mehr zahlen zu wollen. Nach heftiger Kritik erklärte Adidas-Chef Kasper Rorsted, dass es sich um eine Stundung der Mieten handele und private Vermieter weiterhin die volle Miete erhalten sollten.
Arbeitsminister Hubertus Heil kritisierte Adidas daraufhin bei "Hart aber Fair" scharf: "Das Gesetz ist für die gemacht, die in Zahlungsschwierigkeiten sind und ihre Mieten nicht zahlen können, nicht für Unternehmen, die Rücklagen haben", betonte Heil.
Watson hat mit Katja Kipping, Chefin der Linken, gesprochen. Auch sie befindet sich gerade im Homeoffice und muss sich erst einmal auf die Veränderungen durch die Corona-Krise einstellen. Wir haben Kipping zur Kritik an Adidas befragt. Außerdem erklärt sie, warum sie denkt, dass Jens Spahn sich gerade als Sheriff aufspielt und die CDU den Ernst der Lage noch nicht erkannt hat.
Anmerkung der Redaktion
Adidas hat sich am Mittwoch für sein Vorhaben, keine Miete mehr bezahlen zu wollen, entschuldigt. "Die Entscheidung, von Vermieter(innen) unserer Läden die Stundung der Miete für April zu verlangen, wurde von vielen von Ihnen als unsolidarisch empfunden", heißt es in einem offenen Brief, den Adidas am Mittwoch veröffentlichte. "Ihre Meinung ist uns wichtig, und Ihre Meinung ist eindeutig: Sie sind von adidas enttäuscht." Das Interview mit Katja Kipping haben wir geführt, bevor diese Entschuldigung veröffentlich wurde. Ihre Aussagen und unsere Fragen beziehen sich also auf einen früheren Wissensstand.
"Wenn es ein Risikogebiet gibt, dann ist es der Bundestag."
watson: Wie hat das Coronavirus Ihren Alltag als Politikerin verändert?
Katja Kipping: Die Corona-Krise hat unser Leben komplett verändert. Wir haben als Partei alles umgestellt. Wir machen alle Sitzungen als Video- oder Telefonkonferenz. Und für mich fallen die typischen Formen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen weg: Haustürbesuche, Infostand, Kaffee vorm Jobcenter ausschenken. Deshalb habe ich auf digitale Formate umgestellt und lade jeden Freitag zum Live-Chat "Auf einen Kaffee mit Katja in Zeiten der Krise" ein. Zusätzlich zu meiner politischen Arbeit betreue ich außerdem noch meine Tochter im Homeschooling.
Und wie gestaltet sich das Homeschooling?
Das ist unglaublich schön und aufregend und bereitet mir sehr viel Freude.
Aber?
Es ist auch unglaublich stressig. Wie das eben beim Homeoffice ist, man wechselt mit den Gedanken ständig hin und her. Die Lehrerin hat meiner Tochter einen Wochenplan mit Aufgaben mitgegeben, diese bearbeitet sie auch alleine. Aber klar, als Mutter oder Vater ist man schon ganz schön gefragt, Aufgaben kontrollieren, bei komplizierten Fragen helfen, sich auch mal eigene Aufgaben ausdenken, Obst schneiden, wenn 'ne Pause ansteht und Mittagessen muss ja jetzt auch jeden Tag gekocht werden.
Bekommt man da einen neuen Respekt vor dem Lehrerberuf?
Den hatte ich schon vorher. (lacht)
Und sind Sie eine gute Lehrerin?
Meine Tochter ist sehr pädagogisch in der Kritik an ihren Aushilfspädagogen. Sie sagte, wir würden das ganz gut machen, aber sie vermisst ihre Lehrerin schon sehr.
Man liest, Sie würden gerne Serien schauen beim Trampolinspringen. Hilft das bei der aktuellen Situation?
Ja, das ist sehr praktisch. Ich hatte im vergangenen Herbst angefangen, ins Kickboxen zu gehen. Das musste ich aber während der Coronakrise einstellen, da ja alle Sportvereine zu machen müssen. Daher ist mir jetzt nur das Trampolinspringen und Serienschauen geblieben.
Haben Sie eine Serienempfehlung?
Ich bin großer Fan von "Westwing" und kann auch "Haus des Geldes" empfehlen.
Katja Kipping mit Schal vor dem Gesicht im Deutschen Bundestag.Bild: imago images / Christian Thiel
Im Bundestag waren Sie zuletzt mit Schal zu sehen. Was hat es damit auf sich?
Ich hatte eine Maske drunter. Wenn es ein Risikogebiet gibt, dann ist es der Bundestag. Da sind so viele infiziert. Und ich bin ein eitler Mensch, deshalb habe ich mir einen Schal drübergezogen.
"Dann gibt es Minister wie Jens Spahn, bei dem ich den Eindruck habe, er möchte die Krise nutzen, um möglichst viele Grundrechtseinschränkungen durchzubringen."
Wie bewerten Sie die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung in der Krise?
Ich finde es sehr ambivalent. Es gibt einzelne Minister*innen, die offen sind für die Vorschläge der Opposition. Dann gibt es aber auch Minister wie Jens Spahn, bei dem ich den Eindruck habe, er möchte die Krise nutzen, um möglichst viele Grundrechtseinschränkungen durchzubringen, wie beispielsweise mit seinem Vorschlag zur Handy-Ortung.
Wir leben in einer Zeit, in der wegen des Infektionsschutzes das öffentliche Leben faktisch komplett zum Erliegen gekommen ist. In so einer Zeit muss eine Regierung besonders verantwortungsvoll agieren und eben nicht den Eindruck hinterlassen, man möchte mal Sheriff spielen.
"Ich habe insgesamt den Eindruck, die CDU hat den Ernst der Lage noch nicht verstanden."
In welche Kategorie fällt Markus Söder?
Der macht natürlich auch Wahlkampf für sich in dieser Zeit. Bei der CDU/CSU im Bund habe ich den Eindruck, die blockieren alle sozialen Maßnahmen, wo sie können. Die Union wollte ernsthaft verhindern, dass die sozialen Dienste mit unter den Rettungsschirm kommen. Da mussten wir Druck aufbauen und zum Glück hat die CDU dann auch eingelenkt. Ich habe aber insgesamt den Eindruck, die CDU hat den Ernst der Lage noch nicht verstanden.
Wie kommen Sie darauf?
Millionen Menschen verlieren gerade von heute auf morgen ihre Einkommensgrundlage. Viele Kleinstunternehmen brauchen jetzt Hilfen, aber auch Freiberufler und Soloselbständige, Senioren oder Studierende, deren Minijobs jetzt einfach weggebrochen sind. Menschen, die eh schon arm sind, geht es jetzt noch schlechter.
Viele Tafeln und Suppenküchen schließen. Kinder, die in Kitas und Betreuungseinrichtungen essen konnten und Bastelmaterial bekamen, sind jetzt auf sich alleingestellt. In Supermärkten sind die Regale mit günstigen Produkten teilweise auf Grund von Hamsterkäufen leer, so dass die Menschen auf teurere Markenprodukte ausweichen müssen. Das ist für Menschen, die nur vom Hartz IV-Regelsatz leben, ein echtes Problem.
Was wäre Ihre Lösung dafür?
Ich engagiere mich für eine monatliche Aufstockung um 200 Euro für alle, die von Sozialleistungen leben. Leider blockiert die Bundesregierung diese wichtige Maßnahme bisher.
Sie hatten auch ein bedingungsloses Grundeinkommen während der Coronakrise ins Spiel gebracht. Rücken Sie davon jetzt ab?
Nein. Ich bin ein großer Fan des bedingungslosen Grundeinkommens, ich kämpfe seit 20 Jahren dafür und habe auch die Petition, die aktuell viel Zuspruch findet, unterstützt. Die jetzige Krise führt uns eines vor Augen: Wie schnell man seine Einkommensquelle verlieren kann und unverschuldet vor dem Nichts steht. Wir brauchen deshalb eine materielle Grundlage für alle in der Gesellschaft, auf der jeder stehen kann.
"Wir müssen mit einer Wirtschaftskrise in historischem Ausmaß rechnen. Da muss man größer denken."
Und wie soll das finanziert werden? Der Bund hat gerade erst viele Milliarden Schulden aufgenommen, um den Rettungsschirm zu finanzieren und die Steuereinnahmen werden bei einer Rezession in den nächsten Monaten nicht mehr werden…
Ich würde es anders sehen. Es hatte sich schon vor Corona eine wirtschaftliche Rezession angedeutet. Jetzt kommt die Corona-Krise noch hinzu. Das heißt, wir müssen mit einer Wirtschaftskrise in historischem Ausmaß rechnen. Das lässt sich mit der Zeit der Wirtschaftskrise in den 1930ern vergleichen, als der New Deal entworfen wurde. Da muss man größer denken und ich finde, dass ein Grundeinkommen ein gutes Mittel ist, damit jeder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Allerdings wird darüber in der Linken kontrovers diskutiert.
Was denken Sie denn, was wir aus der Corona-Krise lernen werden? Wird es mehr Anerkennung für die jetzt sogenannten "systemrelevanten Berufe" geben?
Bei aller Not und allem Leid, das jetzt mit Corona auf uns kommt, ist es ein großer Fortschritt, dass wir den Begriff "systemrelevant" neu definieren. Zur Zeit der Finanzkrise galten nur Banken als systemrelevant. Das hat sich verändert und das ist ein enormer Fortschritt. Wir haben jahrelang in Kampagnen dafür geworben, dass die Berufe am und mit Menschen mehr Lohn verdienen. Im Bundestag sind alle aufgestanden und haben den Pflegerinnen und Pflegern stehend applaudiert. Es sollte nur nicht bei einem warmen Dankeschön bleiben.
"Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dass aus dem Gesundheitssystem Gelder herausgezogen werden für Profite."
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Als Sofortmaßnahme einen monatlichen Aufschlag von 500 Euro auf den Lohn von Pflegekräften. Nur wenn mehr Stellen geschaffen werden und mehr Menschen für diesen Beruf gewonnen werden, kann der Stress im Pflegealltag reduziert werden. Zudem müssen wir unser Gesundheitssystem krisenfest machen. So wie das bisher gelaufen ist, mit Personalnotstand und dem Druck, dass kommunale Krankenhäuser privatisiert werden sollen, geht das nicht. Deshalb brauchen wir nun eine Strategie zur Entprivatisierung der Krankenhäuser, die noch in privater Hand sind.
Warum möchten Sie die Krankenhäuser entprivatisieren?
Wenn jemand ein Krankenhaus kauft, macht er das ja nicht aus Edelmut, sondern weil er daraus Gewinne machen will. In Folge der Privatisierung müssen Profite daraus herausgezogen werden und diese Gelder fehlen dann entweder bei der Behandlung der Patientinnen oder beim Personal. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dass aus dem Gesundheitssystem Gelder herausgezogen werden für Profite.
Zu Adidas:
"In Zeiten der Krise offenbart sich ja auch immer der Charakter."
Apropos Profite... Was halten Sie denn davon, dass Unternehmen wie Adidas die Mietzahlungen für ihre Filialen teils aussetzen wollen?
In Zeiten der Krise offenbart sich ja auch immer der Charakter. Man sieht gerade zwei Dinge in der Gesellschaft. Es gibt ermunternde Beispiele von Solidarität, zum Beispiel, Nachbarschaftshilfe an vielen Orten. Dann gibt es aber natürlich auch das Gegenteil: Total egoistische Profitgier.
Zurück zur Linken. Ihre Partei hat vor einigen Wochen für Schlagzeilen gesorgt, als bei einer Strategie-Konferenz darüber gesprochen wurde, Angehörige wohlhabender Schichten zu töten oder, wie von Ihrem Kollegen Bernd Riexinger scherzend hinzugefügt, einer "gesellschaftlich nützlichen Arbeit" zuzuführen. Das war beides wohl nicht ernst gemeint. Aber der Schaden war da. Können Sie verstehen, dass das Menschen verärgert hat?
Es darf bei der Frage der Gewalt keine Zweideutigkeiten geben. Deswegen war der Wortwechsel, der ja ironisch gemeint war, daneben und beide Beteiligten haben sich umgehend und klar entschuldigt. Ich weiß, dass Bernd Riexinger seinen Fehler bereut und zwar aus tiefstem Herzen.
"Es gibt auch Trennendes zwischen den Grünen und der Linken. Aber wir sprechen zu oft darüber, anstatt zu überlegen, was für Gemeinsamkeiten wir haben."
Trotzdem ist seit diesem Vorfall das Fragezeichen bei manchen sicherlich größer geworden, ob die Linke bereit ist, auch im Bund Regierungspartei zu sein.
Wenn wir die Alltagssorgen der Menschen wirklich lösen wollen, brauchen wir Regierungsmehrheiten links der CDU. Ich werbe seit längerem mit Leidenschaft für andere linke Mehrheiten.
Ich vermute mal, dass Sie auf linke Mehrheiten mit den Grünen anspielen…
Es gibt auch Trennendes zwischen den Grünen und der Linken. Aber wir sprechen zu oft darüber, anstatt zu überlegen, was für Gemeinsamkeiten wir haben. Viele Menschen haben sich von der Demokratie abgewandt, weil sie das Gefühl haben, für sie bedeutet Veränderung nur, dass es schlechter wird. Diese Menschen müssen die glaubhafte Aussicht bekommen, dass sich auch für sie wieder etwas verbessern kann.
Robert Habeck findet die Idee von einem bedingungslosen Grundeinkommen schon mal generell ganz gut…
Naja, bei ihm klingen die Überschriften toll. Ob das, was er dann konkret in der Substanz meint, wirklich ein armutsfestes Grundeinkommen ist, darüber müssen wir noch diskutieren. Doch um über das zu reden, wo die Linke, SPD und Grüne schon heute gemeinsame Ziele haben: Wir könnten sachgrundlose Befristungen abschaffen und in sichere Arbeitsplätze umwandeln. Wir könnten eine Bürgerversicherung sowie eine Kindergrundsicherung einführen und eine Mindestrente.
Das klingt für mich wie eine Bewerbungsrede für Rot-Rot-Grün…
Ich mag den Begriff nicht. Ich kann verstehen, dass Journalisten ihn verwenden, weil er griffig ist. Aber jenseits der Berliner Politik-Blase reden die Menschen weniger in Farbspielen, sondern haben konkrete Sorgen und Wünsche: Die Miete soll nicht ständig steigen, der Bus sollte häufiger fahren. Deshalb spreche ich lieber von neuen linken Mehrheiten, die eine sozialökonomische Wende einleiten, wonach alle vor Armut geschützt sind und die Mitte bessergestellt ist.
Demnächst steht wieder ein Parteitag Ihrer Partei an. Es ist noch nicht klar, wann er stattfinden wird, aber werden Sie erneut um den Vorsitz kandidieren?
Netter Versuch, aber gerade ist nicht der Zeitpunkt für Personaldebatten. Jetzt müssen wir erst mal herausfinden, wann der Parteitag überhaupt stattfinden kann.
CDU: Merz will neues Wehrpflicht-Modell für junge Generation einführen
Schon seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion um die Wehrpflicht wieder Fahrt aufgenommen. Die Ampel änderte während ihrer Regierungszeit nichts am aktuellen System. Durch die Neuwahlen könnten aber bald schon wieder junge Menschen verpflichtet werden.