Schwere Verläufe. Überlastete Kliniken. Bedrohte kritische Infrastruktur. So liest sich die Prognose des Expertenrats der Bundesregierung für den anstehenden Coronaherbst.
Das steht uns bevor, wenn es schlecht läuft. Wenn sich die Pandemie ungünstig entwickelt – mit neuen Varianten zum Beispiel. Anfang Juni legte das Experten-Gremium seine mittlerweile elfte Stellungnahme vor. "Die Pandemie ist definitiv nicht vorbei", sagte der Chef der Berliner Charité, Hayo Kroemer.
Auch deshalb ist momentan wieder mehr von SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf Twitter zu lesen. Man will sich innerhalb der Regierung mit neuen Maßnahmen auseinandersetzen. Aber so einfach ist das nicht – in der Koalition gibt es sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Problem.
Besonders ein Koalitionspartner fällt auf: Die FDP.
Anders als Gesundheitsminister Lauterbach sind die Liberalen nicht davon überzeugt, Maßnahmen zu fordern, ehe überhaupt etwas passiert ist.
Lauterbach hat bereits damit begonnen, eine Rechtsbasis für Corona-Maßnahmen im Herbst vorzubereiten, das bestätigte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums der Nachrichtenagentur dpa. Der Koalitionspartner FDP wiederum pocht darauf, erst eine geplante wissenschaftliche Bewertung bisheriger Beschränkungen abzuwarten, "bevor wir uns auf einzelne Maßnahmen vorschnell festlegen", wie Justizminister Marco Buschmann (FDP) bereits Ende Mai gesagt hatte. Den Liberalen reicht die Einschätzung des Expertenrats also nicht aus.
Stattdessen sollen die bisherigen Maßnahmen evaluiert werden. Diese Aufgabe ist gemäß Infektionsschutzgesetz einem Sachverständigenausschuss zugedacht. Die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Bundestag benannten Expertinnen und Experten sollen ihr Ergebnis bis 30. Juni vorlegen. In einem Gespräch mit der "Neuen Züricher Zeitung" sagte Buschmann:
Für ihre Corona-Politik sah sich die FDP in den vergangenen Monaten schon häufiger mit starker Kritik konfrontiert. Im Frühling trendete auf Twitter beispielsweise der Hashtag #Buschmannstote. Auch FDP-Vize-Vorsitzender Wolfgang Kubicki wurde des Öfteren öffentlich kritisiert.
Auf watson-Nachfrage führt Kubicki aus, was aus seiner Sicht sinnvoller wäre als Lockdowns oder 2G- und 3G-Beschränkungen:
Das alles seien Dinge, an denen der Gesundheitsminister schon heute – ohne neues Infektionsschutzgesetz – arbeiten könne.
Es sind aber auch Stellschrauben, die Lauterbach nicht von jetzt auf gleich drehen kann, damit sie im Herbst bereits greifen. Eine Impfpflicht, die die Impflücke hätte schließen können, wurde vom Bundestag außerdem abgelehnt.
Kubicki hält es für "intellektuell etwas dürftig, eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung ausschließlich an grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen festzumachen".
Experten wie der Forscher Sebastian Müller von der TU Berlin sprechen unterdessen bereist von einer Sommerwelle. In einem Gespräch mit dem "Handelsblatt" beschrieb Müller seine Simulation, nach der die Neuinfektionen in der zweiten Junihälfte drastisch steigen dürften.
Kritik am Pandemie-Kurs der FDP gibt es aber nicht nur von außen. Der frühere FDP-Innenminister (1978-1982) Gerhart Baum nannte die Corona-Politik der Liberalen jüngst "populistisch" und gab ihr die Schuld an den Wahlflauten in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Kubicki beeindruckt dieser Vorwurf nicht.
Zu watson sagt er:
Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr zeigt sich irritiert aufgrund des Vorwurfs. Gegenüber watson sagt er: "Wer das kritische Hinterfragen geltender Freiheitseinschränkungen als Populismus bezeichnet, den kann ich nicht verstehen." Die FDP habe sich in der Pandemie stets an der Wissenschaft orientiert, daher habe die Partei eine Rückkehr zur Normalität gefordert, sobald klar gewesen sei, dass keine Überlastung der Kliniken drohe. "Das hat sich auch im Nachhinein als ausdrücklich richtig dargestellt", sagt Dürr.
Gleichzeitig sei klar, dass das Parlament handlungsfähig bleiben müsse, sollte eine gefährlichere Virusmutation auftauchen. "Die Pandemie ist nicht vorbei", stellt Dürr klar.
Und auch der Generalsekretär der FDP, Bijan Djir-Sarai erklärte in einem Gespräch mit der "Funke Mediengruppe":
Nicht die Freiheit müsse begründet werden, sondern ihre Einschränkung. Es sei dem Druck der FDP zu verdanken, dass die Ampel rechtzeitig eine Exit-Strategie und ein neues Infektionsschutzgesetz mit verhältnismäßigen Maßnahmen formuliert habe.
Tatsächlich war es auch die FDP, die darauf gedrängt hat, dass die Corona-Maßnahmen im Frühling ausgelaufen sind. Der heutige Justizminister und damalige Abgeordnete Buschmann hatte bereits im Oktober 2021 angekündigt, dass alle Maßnahmen am 20. März enden werden. Pünktlich zum Frühlingsanfang.
Von einer geordneten Exit-Strategie kann außerdem nicht die Rede sein. Schließlich wurde im März sehr schnell eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes durchgewunken, mit der niemand so richtig glücklich war. Aus dem Bundesgesundheitsministerium hieß es damals, die Länder müssten sich darauf konzentrieren, die künftig noch bestehenden Möglichkeiten so schnell wie möglich anzuwenden.
Konkret gemeint war damit, die Hot-Spot-Regelung anzuwenden, die den Ländern strengere Maßnahmen als den Basisschutz erlaubten. In Hamburg beispielsweise wurde das gemacht – die FDP der Hansestadt fand das gar nicht gut.
Denn mit dem neuen Gesetz sind seit Anfang April allgemeine Maskenpflichten für Veranstaltungen oder beim Einkaufen sowie 2G- und 3G-Zugangsregelungen weggefallen. Vorerst gilt ein "Basisschutz" – etwa mit Maskenpflichten in Bussen, Bahnen, Kliniken, Praxen und Pflegeheimen.
Für Kubicki ist es, wie für viele seiner Partei, essenziell, die alten Maßnahmen zu evaluieren, ehe neue debattiert werden. Die Menschen könnten von einem Rechtsstaat erwarten, dass alles dafür getan werde, die Grundrechtseinschränkungen so gering wie möglich zu halten, heißt es. Genauso müssten die Bürgerinnen und Bürger erwarten dürfen, dass der Staat die Maßnahmen mithilfe neuer Erkenntnisse verfeinere. Das Robert-Koch-Institut sei dieser Aufgabe nicht ausreichend nachgekommen, meint der FDP-Vize.
Kubicki sagt dazu:
Der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr wirbt auf Anfrage außerdem dafür, den Wissenschaftlern der Evaluierungskommission die Zeit bis zur Abgabefrist zuzugestehen. Denn der Bericht sei die Grundlage für den weiteren Umgang mit dem Virus – gerade mit Blick auf Sommer und Herbst. Dürr fasst zusammen: "Bereits jetzt unfertige Teile der Evaluation zu kommentieren, schadet dem Ansehen der Wissenschaft."
Die derzeit geltende Fassung des Infektionsschutzgesetzes läuft bis zum 23. September. Nach der Sommerpause muss der Deutsche Bundestag also über eine neue Fassung debattieren. Und zwar mit den Daten, die sich aus der Begutachtung der bisherigen Maßnahmen ergeben haben. Das Parlament muss dann im Herbst schnell darüber entscheiden, wie es weitergehen soll. Zumindest dann, wenn eine weitere Hau-Ruck-Aktion wie bei der aktuellen Fassung vermieden werden soll.