Kaum ein anderer deutscher Politiker ist seit Beginn der Corona-Pandemie so oft zu sehen und zu hören wie Karl Lauterbach. Den einen gilt er als Miesmacher, der im Umgang mit der Pandemie nur immer noch schärfere Einschränkungen vorschlägt – andere feiern ihn dafür, dass er seit Monaten auf allen Kanälen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Virus verbreitet. Und dafür, dass er mit seinen Vorhersagen zum weiteren Gang der Pandemie oft recht gehabt hat.
watson hat mit Karl Lauterbach ein exklusives Interview geführt, das wir in zwei Teilen veröffentlichen. Im ersten Teil geht es um den zeitweiligen Stopp der Impfungen mit dem Vakzin von Astrazeneca und die Folgen.
Lauterbach sagt, dass die Ängste vor einem Vertrauensverlust in den Impfstoff übertrieben seien, er übt heftige Kritik an der Impfstoffbeschaffung durch die EU – und er glaubt, dass es ein guter Sommer wird, wenn in Deutschland drei Dinge getan werden.
watson: Herr Lauterbach, auf Twitter haben zu Wochenbeginn, nachdem das Gesundheitsministerium die Verimpfung des AstraZeneca-Stoffs beschlossen hatte, Hashtags wie #Karl4Gesundheitsminister getrendet. Offenbar sehen Sie viele Menschen als kompetent genug für dieses Amt an. Wie geht es Ihnen damit?
Karl Lauterbach: Ich muss ehrlich sagen, dass ich das gar nicht verfolgt und nur am Rande mitbekommen habe. Ich hatte eine extrem arbeitsreiche Woche und habe darüber gar nicht nachgedacht.
Hätten Sie Lust, für Jens Spahn einzuspringen?
Darüber will ich nicht öffentlich spekulieren. Offen gesagt: Die Arbeit, die jetzt gerade in Berlin ansteht, ist eine Teamleistung. Da kommt es nicht nur auf den Gesundheitsminister an. Und wir sind als Team gut besetzt.
Würden Sie es nach der Bundestagswahl in Erwägung ziehen, vielleicht unter einem SPD-Kanzler Olaf Scholz?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht.
Sie haben am Montag in der Talkshow "hart aber fair" gesagt, an Gesundheitsminister Spahns Stelle hätten Sie wohl trotz der Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts die Astrazeneca-Impfungen nicht gestoppt. Aber wäre das Vertrauen für den Stoff nicht sowieso dahin gewesen?
Das ist keine Kritik von mir an Jens Spahn gewesen. Man kann das so oder so entscheiden. Ich denke das nur vom Ende her: Wenn wir den Impfstoff nicht ausgesetzt und stattdessen erklärt hätten, wie gering das Risiko tatsächlich ist, dann hätten wir einen enormen Vertrauensvorsprung für Astrazeneca aufgebaut in Deutschland – mit Blick auf die Entscheidung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA darüber, ob die Impfungen weiter fortgesetzt werden.
Den Impfstopp hat es nun aber am Montag gegeben. Menschen haben – begründet oder nicht – Angst vor dem Astrazeneca-Vakzin. Ist dieser Impfstoff jetzt für viele Leute endgültig verbrannt?
Nein. Der Impfstoff wird gewünscht, gerade von älteren Menschen, denen er den größten Nutzen bringt. Wenn wir ihn dort auch gezielt einsetzen, dann wird er dort auch angenommen werden. Ich gehe davon aus, dass gar kein Astrazeneca-Impfstoff liegenbleiben wird.
Warum sind Sie sich da so sicher?
Aus den Impfzentren Köln, Düren und vielen anderen weiß ich zum Beispiel, dass dort seit Wochen nicht viel Astrazeneca-Impfstoff liegenbleibt, trotz der negativen Berichte. Die Medienberichte über Dosen, die liegenbleiben, spiegeln die aktuelle Situation nicht mehr wider. Wir haben den Astrazeneca-Stoff in den vergangenen Wochen vor allem bei jüngeren Menschen verimpft. Bei denen ist die Bereitschaft zur Impfung nur noch nicht so groß, wächst aber.
Warum ist das so?
Weil das Risiko Jüngerer, schwer an Covid-19 zu erkranken, deutlich geringer ist. Aber wenn wir jetzt den Astrazeneca-Impfstoff gezielt bei Älteren einsetzen, dann wird das passieren, was wir seit einiger Zeit beobachten: Er wird sehr gut angenommen werden. Ich rechne damit, dass Astrazeneca auch bei den 50- bis 80-Jährigen sehr stark begehrt sein wird.
Sie meinen also, der Vertrauensverlust in den Astrazeneca-Impfstoff, den manche Politiker und viele Journalisten gerade sehen, der ist gar nicht so groß?
Genau. Es wird ein ausgesprochen großes Interesse an diesem Impfstoff bei den 50- bis 80-Jährigen geben. Von dem Schaden am Vertrauen in den Astrazeneca-Stoff wird am Ende nicht viel übrig bleiben. Wir werden uns damit abfinden, dass es in seltenen Fällen auch schwere Nebenwirkungen gibt. Unser eigentliches Problem ist aber weiterhin, dass wir nach wie vor zu wenig Impfstoff haben.
Die Beliebtheit des Stoffs ist nur das eine Problem. Das andere ist die Impfgeschwindigkeit. Wir sind jetzt ein Jahr in der Pandemie – mit der Angst vor tödlichen Erkrankungen und den vielen Belastungen des Lockdowns. Wir wissen, dass Impfungen momentan der einzige dauerhafte Weg raus aus beidem sind. Wie heftig ist der Rückschlag durch den Stopp der Astrazeneca-Impfungen?
Der Impfstoff ist ja bis auf wenige Bestände nicht verloren gegangen, er steht uns nach wie vor zur Verfügung. Nur: Auch in den kommenden Monaten haben wir wohl zu wenig Impfstoff. Das ist das Hauptproblem, das wir zu lösen haben. Wir können momentan mit dem Stoff, den wir haben, die Ausbreitung der Coronavirus-Variante B117 nur begrenzt stoppen.
Auch wegen der fehlenden Impfdosen sprechen viele Journalisten und Oppositionspolitiker von "Impfdesaster". Halten Sie den Ausdruck für gerechtfertigt?
Nein, wer von Impfdesaster spricht, übertreibt.
Sondern?
Es gibt Probleme. Insbesondere hätte die EU viel mehr Produktionskapazität für Impfstoffe aufbauen müssen. Die USA haben das getan. Und die großen Pharmaunternehmen hätten ja genauso gut in Europa zusätzlich produzieren können wie in Amerika. Dann hätten wir auch hier allen bis 1. Mai ein Impfangebot machen können. So, wie das vor Kurzem US-Präsident Joe Biden seinen Bürgern versprochen hat und umsetzen wird.
Die Rede ist bei uns vom Ende des Sommers.
Ja, wir schaffen das in Deutschland erst vier Monate später. Das ist schon ein bedeutsamer Unterschied. Es wird sich zeigen, ob man der EU noch einmal die Aufgabe überträgt, Impfstoff in größerer Menge zu beschaffen.
Ist es also ein europäisches Impfdesaster? Der Punkt ist ja: Viele Menschen schauen von hier aus etwa nach Israel, wo ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist und die Menschen wieder draußen feiern und das Leben genießen. Und in Deutschland sind wir nach wie vor im Lockdown. Und das hängt ja mit den langsamen Impfungen zusammen...
Genau. Es ist nicht genügend Impfstoff da. Die Europäische Union hat spät und zu wenig eingekauft und sich nicht ausreichend um die Produktion gekümmert.
Insbesondere jüngere Menschen fordern, den Astrazeneca-Impfstoff freizugeben – und es jeder und jedem Einzelnen zu überlassen, ob sie oder er sich damit impfen lassen will. Wäre das überhaupt möglich?
Das wäre schon möglich. Es wäre aber ein großer Fehler.
Warum?
Das Risiko der 80-Jährigen, an Covid-19 zu sterben, ist 600-mal so hoch wie das der 30-Jährigen. Es wäre deshalb vollkommen unsinnig, den Impfstoff jetzt – mitten in der dritten Welle der Pandemie – für Menschen mit 30 einzusetzen. Man würde sehr viele Todesfälle in Kauf nehmen, die vermeidbar wären. Wieso sollte man das tun? Das wäre höchstens sinnvoll, wenn die 80-Jährigen den Impfstoff nicht wollten. Davon kann aber nicht im Ansatz die Rede sein.
Wie groß ist denn aus Ihrer Sicht das Risiko gerade bei jüngeren Menschen, Komplikationen durch den Astrazeneca-Impfstoff zu erleiden?
Ungefähr eins zu 250.000 bis 300.000, auf Grundlage der Daten, die wir bisher haben. Das ist im Vergleich zum Nutzen des Impfstoffs ein sehr niedriges Risiko. Selbst bei Jüngeren überwiegt der Nutzen des Astrazeneca-Impfstoffs deutlich.
Bei Frauen scheint das Risiko leicht erhöht.
Man weiß nicht, ob das überhaupt so ist. Der Astrazeneca-Impfstoff ist in Deutschland einfach bei jüngeren Frauen bisher deutlich häufiger eingesetzt worden – weil wir eben anfangs den Fehler gemacht haben, ihn nicht bei Älteren einzusetzen. Unter den jüngeren Menschen, die damit geimpft worden sind, waren sehr stark überproportional Frauen.
Wieso das?
Weil es um Berufsgruppen mit hohem Frauenanteil geht: Erzieherinnen, Ärztinnen, Pflegerinnen etwa. Dass die Komplikationen vor allem Frauen betroffen haben, kann also einfach damit zu tun haben. Man weiß das noch nicht.
Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass jetzt eine Art Schwarzmarkt für Astrazeneca entsteht: Dass Leute sich also illegal oder halblegal impfen lassen?
Darüber will ich nicht spekulieren. Wenn wir diszipliniert die Prioritätsgruppen durchimpfen, ist das die beste Vorgehensweise. Das müssen wir jetzt durchziehen.
Seit Tagen steigen die Corona-Infektionszahlen. Andererseits bleiben die Todeszahlen niedrig. Man könnte denken, die Lage sei gar nicht so schlimm. Ist da was dran?
Nein. Die Infektionszahlen steigen erst jetzt gerade. Diejenigen, die sich heute infizieren, sterben im Durchschnitt erst in fünf Wochen. Viele über 80-Jährige sind mittlerweile geimpft und dadurch geschützt, jetzt liegt die Gefahr vor allem bei etwas jüngeren Menschen. Und die Intensivbeatmung bis zum Tod dauert bei einem 50- bis 80-Jährigen deutlich länger als bei einem Älteren.
Wir haben also nur eine Verzögerung zwischen Infektionen und Todesfällen im Vergleich zu früheren Phasen der Pandemie?
Genau. Die Behandlung am Beatmungsgerät dauert bei 50-Jährigen viel länger, falls der Patient doch stirbt. Ein über 80-Jähriger stirbt deutlich schneller, wenn er einen schweren Covid-19-Verlauf hat.
Was sagen Sie denjenigen Menschen, die jetzt – wie einige Bürgermeister in Ostdeutschland – fordern, man dürfe nicht mehr so stark auf die Inzidenz der Corona-Fälle schauen?
Das ist aus meiner Sicht medizinisch abwegig. Ich glaube auch nicht, dass die meisten Bürger bereit sind, das zu glauben. Das ist vielleicht einfach vorgeschoben, man will eben noch eine Weile die Öffnungen mitnehmen und geht ins Risiko. Dieses zusätzliche Risiko, an Covid-19 zu erkranken, tragen dann aber auch die Bürger. Nicht nur die Bürgermeister. Gerade in den neuen Bundesländern leben viele ältere Menschen und Menschen mit Risikofaktoren.
In zwei Tagen beginnt kalendarisch der Frühling, die Temperaturen werden steigen. Wie sieht es für uns aus: Werden wir einen guten Sommer haben?
Das halte ich nach wie vor für möglich. Dafür müssen wir drei Dinge machen. Erstens, diszipliniert möglichst viele Erstimpfungen durchführen, indem wir den Zeitabstand zwischen Erst- und Zweitimpfung spreizen. Zweitens, die Impfreihenfolge streng einhalten. Und drittens müssen wir bis zum Sommer die Fallzahlen reduzieren, indem wir in Schulen und Betrieben zweimal testen. Wenn wir all das tun, können wir noch immer einen sehr guten Sommer haben.