Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin und Gründungsvorsitzende des Liberal-islamischen Bunds: einer Religionsgemeinschaft, die eine liberale Auslegung des Islams vertritt. Im vergangenen Herbst trat Kaddor außerdem in die Partei Bündnis 90/Die Grünen ein. Sie kandidiert für den Bundestag.
watson hat mit ihr darüber gesprochen, wie die Taliban junge Menschen rekrutieren, was die Islamauslegung der radikalen Gruppierung für den Rest der Muslime bedeutet – und warum sich nach den Geschehnissen in Afghanistan die deutsche Einwanderungspolitik ändern sollte.
Frau Kaddor, die Taliban, die in Afghanistan nach 20 Jahren wieder die Macht an sich gerissen haben, propagieren ein angeblich ursprüngliches Leben. Sie wollen ein Emirat gründen, das von oben herab regiert. Das wirkt alles sehr nach gestern gewandt. Wieso schließen sich junge Menschen dieser radikalen Gruppierung an?
Lamya Kaddor: Es ist nach gestern gewandt. Aber ich glaube, das sehen junge Menschen nicht als erstes, wenn sie sich ihnen annähern. In der Regel verführen Islamisten wie die Taliban junge Menschen und waschen ihre Gehirne. Sie erklären ihnen, dass man 'back to the roots' will – das klingt sehr modern und nach Entschleunigung. Sie erklären ihnen, dass der Islam zu seiner ursprünglichen Form zu Zeiten des Propheten Mohammed zurückkehren soll, also ins siebte Jahrhundert nach Christus, zum reinen, wahren und unverfälschten Glauben. Was selbstverständlich durchweg konstruiert ist, was man aber ohne Background-Wissen nicht so leicht durchschaut. Und so klingt das für viele Menschen – auch für junge – attraktiv.
Inwiefern attraktiv?
Wir alle hadern ab und zu mit dem irdischen Leben, mit Überflutungen, Bränden, Corona – jeder macht das auf seine eigene Art und Weise. Und viele Menschen, vor allem während der Pubertät, stellen sich erst recht Sinnfragen. Junge Menschen sind da besonders verletzlich – und empfänglich für Antworten. Das gilt hierzulande, aber ähnlich auch in Staaten wie Afghanistan, wo die Zukunftsperspektiven besonders düster sind. Ich glaube, das ist der ausschlaggebende Punkt: Die Taliban nutzen die Orientierungslosigkeit und das Gefühl, auf der Suche zu sein und nicht anzukommen, aus. Und das nicht nur bei jungen Menschen.
Einfache Antworten und das Gefühl dazuzugehören: Das klingt wie die Methodik, die man aus der rechtsextremen Szene kennt.
Genau. Wie Akteure in der rechten Szene schaffen auch Islamisten soziale Angebote und stiften einen Gemeinschaftssinn. Sie sprechen die Sorgen der Menschen an – manchmal direkt, manchmal indirekt. Was hinter ihrem vergifteten Angebot steckt, das verstehen viele jedoch nicht. Und wenn sie erstmal in den Strudel geraten sind, wenn ihnen das Geschilderte Orientierung gibt, sie Vertrauen entwickeln und sich in der Gemeinschaft aufgenommen fühlen, dann ist ihnen die Lehre dahinter am Ende egal.
Wieso egal?
Die islamistische Lehre wird akzeptiert, weil die Menschen das Gefühl haben, dass alles außen rum so stark ist und sie erfüllt. Sie nehmen die Ideologie dahinter in Kauf. Gerade junge Männer profitieren davon. Ihnen wird Macht zugesprochen, über andere zu richten. Über Frauen und Andersgläubige. Man kann auch sagen, die Ideologie und alles, was damit zusammenhängt, sind der Preis, den sie zunächst bereit sind, für soziale Anerkennung zu zahlen. Mit der Zeit wird die Ideologie dann ein selbstverständlicher Teil von ihnen. Bis sie vielleicht mal wieder jemand wachrüttelt.
Wir haben bei der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) miterlebt, wie Frauen sich der Organisation angeschlossen und sich mit Kämpfern verheiratet haben lassen. Wie ziehen radikale Islamisten Frauen an?
Auch hier gibt es Parallelen zur rechten Szene: Der Frauenanteil liegt bei ungefähr 10 bis 20 Prozent. Beim Dschihadismus wollen Frauen einen Beitrag leisten und die islamische Gemeinschaft vergrößern. Teil der Dschihad-Romantik ist auch, die Frau eines potenziellen Märtyrers zu sein. Ich würde auch sagen, dass es sich sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Dschihadisten um Weltflucht handelt. Dieser Rückzug scheint für viele attraktiver zu sein, als sich um ihre Ausbildung zu kümmern und ihr richtiges Leben zu gestalten. In der islamistischen Gemeinschaft werden zwar ihre Rechte beschnitten, aber sie fühlen sich von der Gruppe angenommen und durchaus wertgeschätzt. In der Gesamtgesellschaft werden sie oft diskriminiert. Auch bei Frauen gilt: Die Mechanismen der Radikalisierung sind bei Islamisten wie bei Rechtsextremen dieselben. Eine Ideologie kann dann wie eine Hülle darübergestülpt werden.
Aktuell geben sich die Taliban so, als hätten sie sich in den vergangenen 20 Jahren modernisiert. Als würden sie nicht erneut eine Schreckensherrschaft anstreben. Was haben Afghanen und Afghaninnen jetzt zu befürchten?
Wir reden hier von absoluten Extremisten. Ich glaube nicht, dass das es so kommen wird, wie sie vorgeben. Auch wenn man bedenken muss: Nach außen funktioniert die Illusion, man würde in einem "islamischen" Emirat leben, nur, wenn man den Anschein bewahrt, dass auch Frauen eine gewisse Stellung haben. Auch ein islamistischer Staat braucht eine Gemeinschaft. Und dazu gehören Frauen. Eine Gesellschaft, in der nur Männer leben, kann keine funktionierende Gesellschaft bilden.
Vor allem würde sie aussterben.
Auch das. De facto ist es so, dass der extreme Fundamentalismus in der Islamauslegung der Taliban mit Werten wie Gleichberechtigung rein gar nichts anfangen kann, und sich die Männer als uneingeschränkte Herrscher aufführen. Kurz: Frauen und Mädchen drohen unter den Taliban schlimmste Repressionen, Einschränkungen und Angriffe.
Viele Menschen vor Ort haben Angst. Frauen, Ortskräfte, Künstler und Aktivisten fürchten um ihr Leben. Gibt es irgendjemanden, der den Versprechungen der Taliban traut?
Auf ihre Versprechungen kann man nichts geben. Als die Taliban das letzte Mal an der Macht waren, zwischen 1996 und 2001, haben die Afghanen viel Leid durch sie erfahren. Die Welt wurde oft genug Zeuge dessen. Wer soll jetzt glauben, dass das anders wird? Nochmal, das sind keine gewöhnlichen Verhandlungspartner. Sie machen keine Kompromisse. Extremisten müssen extremistisch sein. Natürlich haben sie auch ihre Sympathisanten, besser gesagt, sie haben Anhänger und Menschen, die versuchen, sich mit ihnen zu arrangieren, um so am Leben zu bleiben. Aber jeder halbwegs vernünftige Mensch wird direkt erkennen, dass die Taliban keine lebbare Form einer Weltanschauung bieten.
Das große Problem ist aktuell, dass diejenigen, die nicht mit den Taliban sympathisieren, das Land nicht verlassen können.
Das ist eine Tragödie, die mich fassungslos und wütend macht. Weil wir als westliche Staatengemeinschaft nach 20 Jahren in dem Land versagt haben, und die besonders gefährdeten Menschen nicht früher rausgeholt haben. Und weil wir jetzt nicht dafür sorgen, dass es legale Flucht- und Migrationsrouten gibt. Diese Schuld reicht bis in unsere Innenpolitik. Das Problem hängt aus meiner Sicht auch damit zusammen, dass wir kein ordentliches Einwanderungs- und Integrationsgesetz haben.
Schon bevor die Lage in Afghanistan eskaliert ist, sind viele Menschen nach Deutschland und Europa geflüchtet.
Wir wussten, dass Menschen kommen würden und sind trotzdem nicht vorbereitet. Und um ehrlich zu sein, sind wir nicht nur jetzt bei Afghanistan, sondern bei vielen Krisen zu behäbig: die Klimakrise, die Überschwemmungen oder der Syrienkrieg ab 2011. Wir sind schlecht darin, in Notfällen zu reagieren. Und wir brauchen sehr lange, um uns auf Notsituationen einzustellen – im Fall von Afghanistan haben 20 Jahre nicht gereicht.
Glauben Sie, dass das, was jetzt passiert, dazu führt, dass Deutschland seine Einwanderungspolitik ändert?
Ich hoffe es sehr und mache mich seit Jahren stark dafür. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Wir brauchen allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten Einwanderung. Unabhängig davon müssen wir aus humanitären Gründen Menschen aufnehmen. Das muss politisch gesteuert werden, auch um potenzielle Aufnahmegesellschaften nicht zu überfordern. Das regelt sich nicht von allein. Geflüchtete und Migranten sind da. Und sie werden mehr, und zwar auch durch unsere verkorkste Außenpolitik. In vielen Köpfen sind die Notwendigkeiten noch nicht angekommen. Auch weil die Politik, wie zuletzt Unionskanzlerkandidat Armin Laschet, einen Satz immer wiederholt: "2015 darf sich nicht wiederholen." Ich hoffe eher, dass sich das große Versagen von damals nicht wiederholt. Wir müssen Einwanderung begleiten und steuern.
Was meinen Sie mit steuern?
Wir müssen genau prüfen, wer hier einwandert – und genug Integrationsangebote schaffen. Wir müssen kommunizieren, was für uns Integration bedeutet und Maßgaben dafür setzen. Zum Beispiel, dass die Menschen unsere Sprache lernen oder sich ernsthaft zum Grundgesetz in all seinen Facetten bekennen. Es muss aber ebenso klar sein, dass die Menschen, die diese Maßgaben erfüllen, dann auch gleichberechtigt sind. Bisher sind Zugewanderte für viele in unserem Land oft Menschen zweiter Klasse.
Denken Sie, dass zusätzliche Flüchtlinge aus Afghanistan – vorausgesetzt, die Evakuierungen gehen gut aus – der AfD in die Hände spielen?
Natürlich wird die AfD ihre Feindbilder schüren. Und natürlich werden sie wieder vom vergewaltigenden, männlichen Flüchtling erzählen, der sich an jungen deutschen Frauen vergeht. Ich will selbstverständlich keine Gewalttaten von Geflüchteten irgendwie relativieren – mir geht es hier aber um das Narrativ, an dem sich die AfD bedient. Und diese Saat fällt leider nach wie vor bei zu vielen Menschen auf fruchtbaren Boden.
Haben Sie Sorge, dass sich durch das Drama in Afghanistan und durch die Herrschaft der Taliban das Bild des Islams in nicht-muslimischen Ländern verschlechtert?
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mussten sich Muslime für so ziemlich alles rechtfertigen: für sogenannte "Ehrenmorde", für Salafisten in Deutschland, für IS-Kämpfer und Terror. Ich glaube also nicht, dass die Taliban Muslimen in Deutschland das Leben noch schwerer machen können. Die Vorurteile sind längst verbreitet.
Was lässt sich gegen diese Vorurteile tun?
Die "normalen" Muslime müssen stärker dagegen aufstehen. Es ist natürlich nicht ihre Hauptaufgabe, sobald irgendwo auf der Welt Terror im Namen ihres Glaubens geschieht, zu erklären, dass es nicht im Sinne des Islams ist. Aber ich glaube schon, dass es eine Positionierung braucht. Muslime sollten deutlich machen, dass Islamismus nichts mit ihrem Glaubensverständnis zu tun hat. Extreme Lesarten gibt es in jeder Religion. Allerdings will ich an der Stelle ebenso betonen, dass die Bedrohung durch radikalislamische Gruppierungen vor allem gegen andere Muslime gerichtet ist.
Inwiefern das?
Die meisten Opfer des IS waren andere Muslime. Die Mär, die Islamisten gerne erzählen, ist, dass sie nur gegen Nicht-Muslime vorgehen würden. Aber das ist natürlich eine Lüge. Denn für sie sind Nicht-Muslime alle Menschen, die ihnen widersprechen. Ihre Willkür reicht, überspitzt formuliert, so weit, Menschen schon bei kleinsten Verfehlungen auszuschließen. Das kann eine Frau sein, die ein Stück zu viel Haut zeigt, oder ein Mann, der raucht.
Rauchen reicht auch schon?
Das ist aus fundamentalistischer Sicht ein unislamisches Verhalten. Wenn Islamisten es wollen, würden sie es nutzen, um Menschen für nicht mehr muslimisch zu erklären – und auf Unglauben steht die Todesstrafe. Wie gesagt, wir reden hier nicht über zivilisierte Gruppen. Die ärgsten Feinde von Fundamentalisten sind gemäßigte Muslime: ich zum Beispiel. Deshalb bekomme ich regelmäßig Drohungen und Beschimpfungen von ihnen. Oder von Rechten.