Nach den verheerenden Explosionen in der libanesischen Hauptstadt Beirut kamen aus mehreren Ländern Hilfsangebote. Darunter war auch Israel, südlicher Nachbarstaat des Libanon – und seit 1948 offiziell im Kriegszustand mit ihm. In der israelischen Metropole Tel Aviv wurde die Fassade des Rathauses in den Farben der libanesischen Flagge beleuchtet. Die libanesische Regierung schlug das Angebot medizinischer Hilfe durch die israelische Regierung aus – man akzeptiere keine Hilfe von einem "Feindstaat", sagten mehrere libanesische Offizielle.
Was bewirken solche Gesten und Solidaritätsangebote? Können sie ein Beitrag dazu sein, den Konflikt zwischen Israel und Libanon zu entschärfen? Und wie geht es nach der Explosionskatastrophe jetzt politisch weiter im Libanon, der seit Langem in einer tiefen Krise steckt? Wir haben darüber mit Malte Gaier gesprochen, Leiter des Regionalbüros Beirut der Konrad-Adenauer-Stiftung.
watson: Herr Gaier, das Bild der libanesischen Flagge auf der Fassade des Rathauses von Tel Aviv ist um die Welt gegangen. Kann ein solches Bild dazu beitragen, das Verhältnis zwischen den Menschen im Libanon und denen in Israel zu verbessern?
Malte Gaier: Ich höre von Menschen hier im Libanon, dass das nur am Rande wahrgenommen wird. Für Sympathien hat das eher nicht gesorgt. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Israel ein solches Angebot macht: Schon während des Syrien-Kriegs haben Krankenhäuser im Norden Israels verschiedenen Konfliktparteien angeboten, Verwundete zu versorgen. Die israelischen Stellen haben ihre Angebote öffentlich unterbreitet, unter anderem über Kanäle der israelischen Streitkräfte. Ein solches Angebot kann die libanesische Regierung kaum annehmen, ohne in Erklärungsnot zu kommen. Aber die Situation jetzt ist schon besonders...
Was meinen Sie?
Wir haben gerade im Libanon eine Notsituation wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Möglicherweise kann Israel da schon helfen – vielleicht nicht direkt, sondern über internationale Hilfsorganisationen. Und vielleicht kommt davon auch wirklich etwas bei den Bürgern im Libanon an.
Der libanesische Staat befindet sich offiziell im Krieg mit Israel, die mächtige schiitische Hisbollah-Miliz hat das Ziel, Israel zu vernichten – und libanesischen Bürgern ist es gesetzlich verboten, Kontakt zu israelischen Bürgern aufzunehmen. Gibt es da überhaupt Dialog zwischen den Menschen im Libanon und in Israel?
Direkten Austausch gibt es wirklich kaum, Hass und Abneigung sitzen nach mehreren Kriegen seit der Gründung Israels 1948 bei vielen immer noch tief. Aber die Solidaritätsbekundungen, die gerade über Social Media immer wieder verbreitet werden, könnten tatsächlich eine neue Form des Dialogs sein. Was ich im Libanon immer wieder höre, ist ein gewisses Verständnis dafür, dass man sich doch ähnlich ist in manchen Dingen.
Wie meinen Sie das konkret?
Zum Beispiel Beirut und Tel Aviv: Beide sind ja pulsierende Metropolen am östlichen Mittelmeer. Aber das sind leider Ausnahmen. Die Grenze zwischen Israel und Libanon ist nicht nur durch Sperranlagen und Militär abgesichert, sie ist auch unglaublich präsent in den Köpfen. Das geht so weit, dass die andere Seite in den Medien und in den Gesprächen kaum vorkommt. Israel ist für viele Libanesen viel weiter weg als die meisten europäischen Länder – obwohl es der direkte Nachbar ist.
Das heißt, Sie haben wenig Hoffnung, dass sich das Verhältnis nach der Katastrophe von Beirut wirklich bessert?
Auf eine schnelle Normalisierung zu hoffen, wäre viel zu optimistisch. Das sind Prozesse, für die es üblicherweise Jahrzehnte braucht. Und momentan gibt es ja immer wieder Konflikte: Seit Jahren streiten Israel und Libanon zum Beispiel darüber, in welchem Winkel die Seegrenze zwischen ihnen gezogen werden soll – weil es vor der Küste erhebliche Gasvorkommen gibt. Ein Konflikt übrigens, bei dem auch Deutschland helfen könnte.
Engagiert sich Deutschland aus Ihrer Sicht genug in der Region? Die USA haben ja in den vergangenen Jahren viel Kredit in der muslimischen Welt verspielt.
Die Helfer des THW, die am Donnerstag nach Beirut gekommen sind, wurden hier sehr gut aufgenommen. Auch die vielen Spendenaufrufe aus Deutschland haben die Sicht auf das Land verbessert. Bei meiner Arbeit vor Ort merke ich seit Jahren, wie gut der Ruf Deutschlands hier ist: Wir gelten als neutral, haben keine Vergangenheit als Kolonial- oder Mandatsmacht in dieser Region. Viele Libanesen besuchen Deutschkurse, die Bundeskanzlerin genießt hier ein sehr hohes Ansehen.
Welche Rolle spielt da der Imagewandel Angela Merkels seit 2015, ihre Geste der Offenheit in Richtung Geflüchteter aus mehrheitlich muslimischen Ländern?
Die Bundeskanzlerin war im Juni 2018 in Beirut. Damals konnte man wirklich sehen, wie beliebt sie hier ist. Zu dieser Zeit stritt sie ja gerade mit der CSU über den Kurs in der Flüchtlingspolitik. Man hat das damals als starke Geste wahrgenommen: Dass sie während dieses Streits gerade ein Land besucht, in dem besonders viele Flüchtlinge untergekommen sind. Für uns ist klar, dass der Libanon ein Freund und Partner ist, das gilt auch für die gesamte EU.
Was kann Deutschland tun, um den Menschen im Libanon jetzt zu helfen?
Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, wie viel wir schon getan haben. Zeitweise war Deutschland der Staat, der die zweitgrößte Summe an Hilfsgeldern für den Libanon bezahlt hat, um bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu helfen. Darüber sollten wir vielleicht noch mehr reden. Deutschland ist nicht besonders gut darin, über das zu sprechen, was man in der Welt an Hilfe leistet. Aber verstecken müssen wir uns auf jeden Fall nicht. Und auch jetzt haben wir ja wieder Hilfe zugesagt.
Der französische Präsident Emmanuel Macron ist am Donnerstag nach Beirut an den Ort der Katastrophe gekommen und hat dort direkt mit wütenden Anwohnern gesprochen. Das waren sehr eindrucksvolle Bilder. Was will Frankreich im Libanon tun?
Macron selbst hat seinen eigenen Stil – aber Frankreich ist seit Jahrzehnten im Libanon aktiv. Und Frankreich hat eben als ehemalige Mandatsmacht sehr enge kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindungen in den Libanon. Ich habe von vielen Libanesen zu Macrons Besuch vor allem eines gehört: Wie kann es sein, dass ein ausländischer Staatschef als erster an den Unglücksort reist, während unsere eigenen Politiker sich nicht blicken lassen? Und ich habe Sätze gehört wie: "Solche politischen Anführer bräuchten wir jetzt!"
Aber kann so etwas nicht auch als europäische Arroganz herüberkommen?
Es gab ja auch den Vorwurf, dass die internationale Gemeinschaft einschließlich Frankreich die jetzige politische Elite im Libanon jahrzehntelang unterstützt haben. Und diese Elite ist bei der Mehrheit der Menschen extrem unbeliebt. Viele machen sie für das Unglück am Hafen von Beirut verantwortlich.
Der Libanon hat schon vor dem Unglück in einer tiefen Krise gesteckt. Gleichzeitig ist das politische System dort sehr kompliziert: Christen, schiitische Muslime und sunnitische Muslime teilen sich die Macht, es gibt mit der Hisbollah-Miliz einen Staat im Staat. Und jede kleine Machtverschiebung ist gefährlich, weil sie zu einem Bürgerkrieg führen kann. Das ist wie ein extrem gefährliches Mikado-Spiel. Wie kann das Land da aus der Krise kommen?
Das ist sehr schwierig. Was viele im Ausland jetzt hoffen, ist, dass die Katastrophe von Beirut ein letzter Weckruf war für die politische Elite im Land. Dass sie jetzt wirklich anfängt, Reformen anzustoßen. Ja, es gibt die Protestbewegung, für die seit dem vergangenen Oktober besonders viele junge Menschen auf die Straße gehen und Reformen fordern. Aber das System der Machtaufteilung zwischen Bevölkerungsgruppen ist so tief verankert im Land, obwohl es sehr ineffizient ist. Das geht so weit, dass zum Beispiel Jobs im öffentlichen Dienst für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe geschaffen werden – und die Mitarbeiter dann gar nicht arbeiten. Ein solches System aufzulösen, produziert Verlierer. Und ich sehe da momentan kein richtig gutes Szenario für die Zukunft.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Wenn ich auf die Aufräumarbeiten hier in Beirut schaue, dann sehe ich, dass sich Bürger selbst organisieren: Die räumen Trümmer weg, helfen Obdachlosen, unterzukommen. Unter den Helfern sind viele Studenten und teilweise ganze Schulklassen. Von staatlicher Seite kam bislang noch nichts, man sieht keine Arbeiter der Stadt, keine Soldaten. Und die einfachen Bürger packen selbst mit an. Es gibt da offensichtlich einen sehr intakten Kern aus engagierten Menschen in der libanesischen Gesellschaft. Und das macht mir tatsächlich Hoffnung.