Weiße, Männer, Akademiker: Im 2017 gewählten Deutschen Bundestag sind manche soziale Gruppen deutlich stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Andere dagegen sind unterrepräsentiert: Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte – und junge Erwachsene. Die "Süddeutsche Zeitung" hat diese Unterschiede zwischen Gesamtbevölkerung und Abgeordneten einmal herausgearbeitet: Nur 8,5 Prozent der Bundestagsabgeordneten waren zu Beginn der Legislaturperiode zwischen 18 und 35 Jahre alt. Ihr Anteil in der Gesamtbevölkerung ist laut Statistischem Bundesamt aber mehr als doppelt so hoch.
Am 26. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Schaffen es diesmal mehr junge Erwachsene ins Parlament?
Die entscheidende Voraussetzung dafür wäre, dass für die Parteien auch mehr junge Menschen kandidieren. Genauer gesagt: Dass in den großen Parteien mehr junge Menschen realistische Chancen auf einen Einzug in den Bundestag bekommen.
Wie sieht es damit aus bei Union, SPD, FDP, Linken und Grünen? Watson hat bei den Jugendorganisationen der Parteien nachgefragt, wie viele Menschen bis 35 für den Bundestag kandidieren. Und wir haben die Chefs der Jugendorganisationen gefragt, ob sie zufrieden sind mit der Anzahl junger Kandidaten. Die Ergebnisse im Überblick.
Über 30 Mitglieder der Jungen Union (JU), der gemeinsamen Mitgliedsorganisation von CDU und CSU, werden bei der Bundestagswahl für ein Mandat kandidieren. Das gibt die JU gegenüber watson bekannt. Bei der Wahl 2017 waren es noch 24 Kandidaten im "JU-Alter", also zwischen 18 und 35 Jahren. Die Anzahl junger Kandidaten wird sich also wohl leicht erhöhen.
Zu den bekanntesten jungen Kandidaten für die Union gehört Tilman Kuban. Der 33-jährige Vorsitzende der JU und Mitglied im CDU-Bundesvorstand bewirbt sich um das Direktmandat im niedersächsischen Wahlkreis Hannover-Land II. Das hat bei der Wahl 2017 allerdings – knapp – die SPD mit dem Abgeordneten Matthias Miersch geholt. Spannend wird daher auch sein, an welche Stelle der CDU-Landesliste in Niedersachsen Kuban gewählt wird. Nur ein Platz im oberen Teil ist erfolgversprechend, 2017 schafften es die ersten fünf CDU-Kandidaten auf der niedersächischen Landesliste in den Bundestag.
Zur deutschlandweiten Zahl der jungen Kandidaten für CDU und CSU erklärt Kuban gegenüber watson:
Bei der SPD bewerben sich – Stand Ende Januar – knapp 80 Menschen unter 35 Jahren um ein Bundestagsmandat. Nach Angaben der Jusos, der SPD-Jugendorganisation, sind das fast 30 mehr als 2017. Damals kandidierten demnach 50 junge Erwachsene. Für die Bundestagswahl 2021 hätten sich "so viele Jusos wie noch nie auf den Weg zu Bundestagskandidaturen gemacht", heißt es von einer Sprecherin der sozialdemokratischen Jugendorganisation. "Da ist in den vergangenen Jahren viel Selbstbewusstsein gewachsen", meint sie gegenüber watson.
Zu den jungen Bundestagskandidatinnen wird voraussichtlich auch die 28-jährige Jessica Rosenthal gehören, die im Januar neu gewählte Bundeschefin der Jusos. Sie plant, im Wahlkreis ihres Wohnorts Bonn (den die SPD seit 2002 durchgehend gewonnen hat) als Direktkandidatin ins Rennen zu gehen, die Aufstellungskonferenz dazu soll Mitte Februar stattfinden. Auch Kevin Kühnert, SPD-Vizebundesvorsitzender und Rosenthals Vorgänger an der Spitze der Jusos, will ins Parlament. Kühnert bewirbt sich um das Direktmandat im Berliner Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg.
Juso-Chefin Rosenthal selbst zeigt sich gegenüber watson zufrieden mit der Anzahl an Kandidaten unter 35. Sie erklärt:
Von der FDP gibt es noch keine Zahlen zur Zahl der Kandidaten bis 35 Jahre. Die Jungen Liberalen (Julis), die Jugendorganisation der Partei, verweist darauf, dass wegen der Corona-Pandemie besonders viele Aufstellungsveranstaltungen für Kandidaten verschoben worden seien. Man gehe aber "davon aus, dass auch bei der Bundestagswahl 2021 wieder genauso viele oder sogar noch mehr junge Kandidierende für die FDP antreten werden wie 2017", erklärt Laura Schieritz, Sprecherin und stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, gegenüber watson.
Die 22-jährige Schieritz hat, ebenso wie der 27-jährige Bundesvorsitzende der Julis, Jens Teutrine, schon angekündigt, für den Bundestag kandidieren zu wollen. Schon ins Rennen geschickt hat die FDP im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost die 33-jährige Netzpolitikerin Ann Cathrin Riedel. Und in Berlin-Lichtenberg wurde mit der 17-jährigen Noreen Thiel (die am Wahltag 18 Jahre alt sein wird) eine der jüngsten Direktkandidatinnen Deutschlands ins Rennen geschickt. Direktkandidaten der FDP sind allerdings quasi chancenlos: Das letzte Direktmandat hat die FDP 1990 geholt. Entscheidend für die jungen Kandidatinnen und Kandidaten wird also sein, ob sie einen aussichtsreichen Platz auf der jeweiligen Landesliste ihrer Partei bekommen.
Die FDP hat im jetzigen Bundestag schon die jüngste Fraktion: Bei der Konstitutierung im Herbst 2017 lag das Durchschnittsalter der liberalen Abgeordneten bei 45,5 Jahren – das ist 5,3 Jahre jünger als bei der AfD, der Fraktion mit dem höchsten Durchschnittsalter. Die FDP-Fraktion stellt mit dem heute 28-jährigen Roman Müller-Bohm (den watson im vergangenen Sommer interviewt hat) auch den jüngsten Abgeordneten und mit Gyde Jensen die jüngste Abgeordnete. Daneben haben sich mit dem 31-jährigen Innenpolitiker Konstantin Kuhle und dem 33-jährigen Sicherheitspolitiker Benjamin Strasser zwei FDP-Abgeordnete unter 35 einen Namen gemacht.
Zu den jungen Kandidaten, die diesmal antreten, sagt Juli-Bundeschef Teutrine:
Die Jugendorganisation der Linkspartei geht nach eigenen Angaben von einer sehr niedrigen Zahl junger Kandidaten aus. "Nach jetzigem Stand erwarten wir zwischen zwei bis vier Kandidaturen", heißt es aus der Zentrale der Linksjugend.solid gegenüber watson.
Mit Blick auf die Erfolgschancen der Kandidatinnen und Kandidaten erklärt Maximilian Schulz, einer der acht Bundessprecherinnen und -sprecher der Linksjugend: "Uns würde der Einzug von mehr als zwei U35-Genoss:innen überraschen." Im Vergleich zur Wahl 2017 sei die Zahl der Kandidaten "nach unseren Informationen gleichbleibend niedrig."
Schulz äußert gegenüber watson offen seine Frustration über die niedrige Zahl junger Kandidaten. "Fast jedes fünfte Mitglied der Linkspartei ist unter 30 Jahre alt. Dieses Rekordverhältnis findet sich aber nicht in der Kandidatinnen- und Kandidatenlage zur Bundestagswahl 2021 wieder."
Mit Blick auf die Grünen meint Schulz:
Schulz appelliert an die Partei, daran etwas zu ändern. Wörtlich erklärt er:
Zu Beginn dieser Legislaturperiode war das Durchschnittsalter der 69 Linken-Bundestagsabgeordneten mit 50,0 tatsächlich genauso hoch wie das bei der Unionsfraktion. Durchschnittlich waren die Abgeordneten von SPD (50,5) und AfD (50,8) noch älter, die von Grünen (47,0) und FDP (45,5) deutlich jünger. Jüngster Linken-Abgeordneter ist momentan der 30-jährige Michel Brandt, der sich schwerpunktmäßig mit Menschenrechten beschäftigt.
An der Spitze der Grünen Jugend ist die Stimmung zu den jungen Kandidaten deutlich positiver. Mehr als 70 junge Menschen unter 35 kandidieren in diesem Jahr für den Bundestag, teilt Anna Peters, Bundessprecherin der Grünen Jugend, gegenüber watson mit. 26 davon seien jünger als 28. Bei der Bundestagswahl 2017 hätten hingegen nur zehn bis 20 Menschen unter 35 für ein Mandat kandidiert. Die Zahl der Kandidaten, so heißt es von der Jugendorganisation der Grünen, sei so groß wie nie zuvor.
Zu den jungen Kandidaten, die für die Grünen in den Bundestag einziehen wollen, gehören der 20-jährige Fridays-for-Future-Aktivist Jakob Blasel und die stellvertretende Parteivorsitzende Jamila Schäfer (27).
Peters' Fazit zu den jungen Kandidaten gegenüber watson: "Unsere Kandidierendenzahlen gehen für diese Bundestagswahl 2021 durch die Decke."
Peters erklärt dazu weiter, mit Blick auf Organisationen wie Fridays for Future:
Nach aktuellem Stand und den Angaben der Jugendorganisationen zu urteilen, werden 2021 bei SPD und Grünen so viele junge Menschen kandidieren wie noch nie. Auch von der FDP sind einige Kandidaturen zu erwarten, auch wenn diese noch nicht offiziell sind. CDU und CSU können nach Angaben ihrer Jugendorganisationen die Anzahl junger Kandidaten im Vergleich zur letzten Wahl ebenfalls ausbauen, nur bei der Linksjugend herrscht Frust über mangelnde Chancen für junge Politiker.
Watson begleitet einige der jungen Kandidaten und stellt sie in einer exklusiven Porträt-Reihe vor: