Gökhan Gültekin Sedat Gürbüz Said Nesar Hashemi Mercedes Kierpacz Hamza Kurtović Vili Viorel Păun Fatih Saraçoğlu Ferhat Unvar Kaloyan Velkov
Das sind die Namen der neun Menschen, die am 19. Februar 2020 aus rassistischen Motiven heraus ermordet wurden. Ein Jahr nach dem Attentat soll ihrer heute gedacht werden.
Mit diesem Jahrestag gilt es auch, sich einer Realität zu stellen, die in Deutschland lange verdrängt wurde: Rechtsextreme Gewalt und rechter Terror begleiten Deutschland seit Jahrzehnten. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus einsetzt, zählt von 1990 bis 2020 mindestens 213 Menschen, die durch rechte Gewalt in Deutschland gestorben sind.
Rechter Terror ist kein Einzelfall und Rassismus ein Problem, das die gesamte Gesellschaft durchzieht.
Watson hat daher Politiker, Experten und Betroffene gefragt, wie Hanau Deutschland aber auch ihre eigene Sicht auf Deutschland verändert hat und was getan werden muss, um endlich entschiedener gegen Rassismus und Rechtsextremismus vorzugehen.
Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen): "Wir müssen die Todesursache Rassismus klar benennen"
Grünen-Politiker Cem Özdemir engagiert sich bereits seit Jahren für die Aufklärung rechtsextremer Gewalttaten.Bild: www.imago-images.de / bXander Heinl/photothek.de
"Nach den Anschlägen in Hanau musste ich an Mevlüde Genç denken, die bei dem Mordanschlag von Solingen 1993 fünf ihrer Liebsten verloren hat. Und ich musste beispielweise an Familie Kubaşık denken, die während der NSU-Mordserie mit ihrem Schmerz allein gelassen und sogar selbst verdächtigt wurde. Beiden hat man versprochen, dass sich solche rassistischen Morde nicht wiederholen. Vor einem Jahr wurden zehn Menschen in Hanau ermordet, die Todesursache war einmal mehr Rassismus und wieder wurden Familien ihrer Liebsten beraubt. Deutschland hat sein Versprechen nicht eingehalten, Rassismus tötet hierzulande immer noch.
"Deutschland hat sein Versprechen nicht eingehalten, Rassismus tötet hierzulande immer noch."
Wir müssen die Todesursache Rassismus klar benennen. Das ist wichtig, um sie zu bekämpfen. Polizei und Verfassungsschutz müssen gegenüber Rechtsterrorismus null Toleranz walten lassen. Das gilt für Hanau, aber gerade auch für die NSU-Morde, die bis heute nicht richtig aufgeklärt sind. Deswegen fordern wir Grünen ein zentrales Archiv, das Beweismaterialien, Akten und andere Unterlagen zentral sammelt, sichert und wissenschaftlich aufarbeitet. Mit lückenhafter Aufklärung lassen sich keine rechten Netzwerke zerschlagen – das muss uns aber endlich gelingen."
Sevim Dağdelen (Die Linke): "Das organisierte Versagen von Politik und Behörden im Umgang mit dem Rechtsterrorismus ist erschütternd"
Sevim Dağdelen war bis 2019 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag.Bild: imago images / Christian Spicker
"Die NSU-Morde, der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag in Halle – die rassistischen Morde von Hanau reihen sich ein in eine Welle rechtsterroristischer Angriffe. Der Rechtsterrorismus und rechte Terrornetzwerke bedrohen nicht nur Freiheit und Demokratie, sondern auch ganz konkret das Leben von Bürgerinnen und Bürgern.
Das organisierte Versagen von Politik und Behörden im Umgang mit dem Rechtsterrorismus ist erschütternd und muss lückenlos aufgeklärt werden. Rechtsradikale Strukturen in Polizei und Bundeswehr gilt es entschlossen zu bekämpfen. Die zahlreichen solidarischen Reaktionen nach dem Anschlag in Hanau aus der Bevölkerung zeigen jedoch auch: Es gibt in Deutschland viele Menschen, die bereit sind, sich den Faschisten entgegenzustellen. Das gibt mir Zuversicht.
"Es gibt in Deutschland viele Menschen, die bereit sind, sich den Faschisten entgegenzustellen."
Der rechte Terror in Hanau kommt nicht aus dem Nichts. Er basiert auf rassistischer Hetze und menschenverachtendem Hass, die sich in unsere Gesellschaft gefressen haben. Die Aufrufe zum Zusammenstehen sind richtig und wichtig, bleiben aber wohlfeil, wenn gleichzeitig die große soziale Spaltung in unserem Land ausgeblendet wird. Die Verwerfungen am Arbeitsmarkt und die damit verbundenen sozialen Unsicherheiten sind eine Ursache für die steigende Unzufriedenheit und Spaltung in der Gesellschaft und machen für Rassismus anfällig.
Neben der entschiedenen Bekämpfung rechtsextremer Gruppen und Netzwerke durch die Sicherheitsbehörden muss die soziale Frage zentrales Thema im Kampf gegen rechts sein. Es braucht eine Politik, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und den Nährboden für Rassismus austrocknet, anstatt weiter zu spalten."
Bijan Djir-Sarai (FDP): "Mir ist erneut deutlich geworden, wie viel Hass in diesem Land existiert"
Bijan Djir-Sarai ist außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.Bild: Getty Images Europe / Sean Gallup
"Die Ereignisse in Hanau waren für mich schockierend und mir ist erneut deutlich geworden, wie viel Hass in diesem Land existiert. Auch stelle ich mir die Frage, ob Deutschland für Menschen mit Migrationshintergrund ein sicheres Land zum Leben ist.
"Ich stelle mir die Frage, ob Deutschland für Menschen mit Migrationshintergrund ein sicheres Land zum Leben ist."
Rechtsextremismus muss viel konsequenter bekämpft und an der Wurzel gepackt werden. Das heißt, dass vor allem den Personen, die Hass säen, Gewalt predigen und Wegbereiter vom Extremismus sind, viel mehr entgegengesetzt werden muss. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."
Mahmut Özdemir (SPD): "Die Familien der Opfer fordern zurecht Aufklärung und Konsequenzen"
Mahmut Özdemir ist seit 2013 für die SPD im Bundestag.null / Bettina Engel-Albustin / fotoage
"Die Gefahr rechtsextremistischer Anschläge war immer vorhanden, da dürfen wir uns nichts vormachen. Die steigende Zahl von Straftaten mit rassistischem Motiv ist alarmierend. Die traurigen Erkenntnisse und Fehler, die bereits im Umgang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) gemacht wurden, haben uns frühzeitig genug auf den dringenden Handlungsbedarf für Politik und Sicherheitsbehörden aufmerksam gemacht.
Wir sind es allen Opfern von Hass und Rechtsextremismus schuldig, entschlossen genug zu handeln, um weitere Taten möglichst zu verhindern. Der Tod von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov darf nicht in Vergessenheit geraten. Die Familien der Opfer fordern zu Recht Aufklärung und Konsequenzen.
"Der Hass, der im Internet geschürt wird, entfaltet sich ganz ungeniert im Alltag."
Nicht erst seit der Corona-Pandemie kann ein verstärktes Wirken von Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern im Internet beobachtet werden. Hier fallen ihre kruden Ansichten leider vermehrt auf Nährboden und bringen viel mehr Menschen mit Inhalten aus der rechten 'Internetbubble' in Berührung, als uns lieb sein kann. Der Hass, der im Internet geschürt wird, entfaltet sich dann auch ganz ungeniert im Alltag.
Ich kann nur jeden ermutigen, im Alltag aufmerksam zu bleiben und sich einzumischen und seine Stimme gegen Hass und Gewalt zu erheben. Denn eines muss uns bewusst sein: Wir sind mehr! Das gilt auch im Internet, selbst wenn es manchmal nicht so scheint. Ansichten, die nicht verfassungskonform sind, muss widersprochen werden, sie müssen gemeldet werden. Hier sehe ich die Betreiber von Social-Media Plattformen noch stärker in der Pflicht.
"Eines muss uns bewusst sein: Wir sind mehr!"
Es ist gut, dass die Bundesregierung nach dem Anschlag von Hanau einen Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus einberufen hat. Mit 89 vielfältigen Maßnahmen von mehr Prävention, mehr Forschung, der Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen, einem wirksameren Opferschutz und einer besseren Zusammenarbeit zwischen Justiz und Sicherheitsbehörden setzen wir ein wichtiges Signal. Wir müssen das Problem Rechtsextremismus und strukturellen Rassismus an ihrer Wurzel packen und mit aller Kraft weiter bekämpfen. Dafür braucht es einen starken Rechtsstaat.
Es geht um die Anerkennung und Wertschätzung einer vielfältigen und chancengerechten Gesellschaft sowie einer besseren Teilhabechance von Menschen mit Einwanderungsgeschichte: schlichtweg um ein lebenswertes und vielfältiges Deutschland und Europa."
Serap Güler ist Integrationsstaatsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen.Bild: www.imago-images.de / Ralph Sondermann
"Der 19. Februar 2020 ist ein schwarzer Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Er hat gezeigt, dass sich die hässliche Fratze des Rassismus wieder verstärkt zeigt. Das dürfen und das werden wir nicht hinnehmen. Wir alle, Politik und Gesellschaft, müssen zusammen stehen. Deutschland ist ein weltoffenes Land – gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass dies so bleibt. Wir stellen uns mit aller Macht gegen Hass und Hetze.
"Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dass sich Hanau nicht wiederholt."
Neben gut ausgestatteten Sicherheitsbehörden muss jeder Einzelne von uns viel sensibler werden. Wir müssen in unserem Alltag genau hinschauen und hinhören. Denn aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten. Wir müssen achtsam sein, wenn bestimmte Bemerkungen gemacht werden. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dass sich so ein furchtbares Attentat wie in Hanau in unserem Land nicht wiederholt."
Mehmet Daimagüler: "Der Staat muss bei sich selbst anfangen"
Mehmet Daimagüler war Anwalt im NSU-Prozess. Er vertrat die Angehörigen von İsmail Yaşar und Abdurrahim Özüdoğru – beide wurden vom NSU ermordet.bild: privat
"Ich glaube nicht, dass Hanau eine Zäsur war. Zumindest nicht, wenn die Politik nicht endlich anfängt, sich selbst zu reflektieren. Politiker schimpfen über vermeintliche Clan-Kriminalität und Shisha-Bars und bieten Rechtsradikalen damit eine Projektionsfläche. Immer wieder wurden rechtsextreme Anschläge von der Politik bagatellisiert. Lange wurde zum Beispiel der rechtsextreme Hintergrund des Attentats im Olympiaeinkaufszentrum nicht als solcher benannt.
Rassismus zieht sich zudem durch die Behörden: Wie die Polizei teilweise mit Sinti und Roma oder Menschen mit dunkler Hautfarbe umgeht, ist unerträglich. Wir haben es schon bei den NSU-Morden gesehen: Liegt da ein ermordeter Kurde, wird der erstmal nicht als Opfer, sondern als möglicher Krimineller wahrgenommen.
"Liegt da ein ermordeter Kurde, wird der erstmal nicht als Opfer, sondern als möglicher Krimineller wahrgenommen."
Der Staat muss im Kampf gegen Rassismus also bei sich selbst anfangen. Rassistische Beamte müssen rausgeschmissen und Vorschriften, die Rassismus Vorschub leisten – von denen es einige gibt – geändert werden. Opfer von Hasskriminalität müssen ernst genommen werden. Und ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich zu artikulieren.
Es hat sich nicht nichts geändert in den letzten Jahren. Aber es tut sich zu wenig, zu langsam und zu punktuell. Nach dem NSU, nach Halle und Hanau wird Rassismus nicht mehr tabuisiert. Betroffene sprechen darüber und wehren sich. Wir stehen dennoch ganz am Anfang der Debatte über Rassismus. Aber wenigstens führen wir sie jetzt, so schmerzhaft es auch ist."
Farhad Dilmaghani: "Wir brauchen ein Ministerium für Antidiskriminierung und Migration"
Farhad Dilmaghani ist Gründer der Anti-Rassismus- Initiative DeutschPlus. Nach Hanau erarbeitete er zudem mit einem Wissenschaftler und dem Chef des Thüringer Verfassungsschutzes einen Masterplan gegen Rechtsextremismus.bild: Deutschplus e.v.
"Wir brauchen ein antirassistisches gesellschaftliches Klima. Dazu gehörten ein wirkungsvolles Antidiskriminierungsgesetz und eine handlungsfähige Antidiskriminierungsbehörde. Vorbild könnte der Bundesdatenschutzbeauftragte sein, der umfassende Kontroll- und Aufsichtsrechte hat. So etwas brauchen wir auch für das Thema Antidiskriminierung. Genauso fordern wir ein Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Antidiskriminierung und Migration. Das muss endlich eine kontinuierliche gesellschaftliche ministerielle Aufgabe werden.
"Wir fordern ein Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Antidiskriminierung und Migration."
Wir haben positive Erfahrungen gemacht mit dem Thema Gleichstellung von Frauen – seit den 1980er-Jahren gibt es ein Frauenministerium. Wir haben positive Erfahrungen gemacht mit einem Umweltministerium nach Tschernobyl und auch mit dem Verbraucherschutzministerium nach dem BSE-Skandal. Also immer, wenn es starke gesellschaftliche Themen gegeben hat, wurden die auch in die Institutionen der parlamentarischen Demokratie überführt."
Meron Mendel: "Rassismus wird von Generation zu Generation weitergegeben"
Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, die unter anderem Betroffene von rassistischer Gewalt berät. bild: privat
"Wir haben nach Hanau eine starke Betroffenheit erlebt. Es gab viele Solidaritätsbekundungen von Politikern. Und viele Menschen, für die Rassismus nicht zum Alltag gehört, haben dadurch realisiert, was für ein großes Problem das in unserer Gesellschaft ist. Bis wirklich politisch gehandelt wurde, hat es trotzdem gedauert. Vor zwei Monaten hat die Bundesregierung einen Maßnahmenkatalog gegen Rechtsextremismus und Rassismus vorgelegt. Das war in meinen Augen ein sehr wichtiger Schritt.
"Rassismus wird von Generation zu Generation weitergegeben."
Dennoch sollten wir uns nicht vormachen, dass wir schon am Ziel sind. Rassismus wird von Generation zu Generation weitergegeben. Deshalb ist auch sehr wichtig, dass wir Aufklärungsarbeit leisten. Wir müssen die Sicherheitsbehörden besser dazu schulen. Wir müssen das Thema Rassismus in der Bildungsarbeit aufgreifen. Wir müssen Universitäten und Unternehmen in die Verantwortung nehmen, damit auch dort Anti-Rassismus und Diversität gefördert werden.
Gerade jetzt, da wegen Corona kaum Kontakt möglich ist, ist die Arbeit gegen Rassismus noch schwerer geworden. Gleichzeitig versuchen die Rechten die Pandemie für sich zu nutzen. Rechte Verschwörungsmythen und Online-Hetze haben in dieser Zeit noch einmal massiv zugenommen. Wir dürfen daher nicht denken: Erst gehen wir Corona an und dann kümmern wir uns um Rassismus. Rassismus ist immer ein Thema. Und auch in der Krise sollte klar sein, dass der Kampf dagegen an oberster Stelle stehen muss."
Jeff Kwasi Klein: "Wir brauchen eine Zeitenwende"
Jeff Kwasi Klein ist Projektleiter beim Verein Each One Teach One, der sich unter anderem gegen die Diskriminierung Schwarzer Menschen in Deutschland einsetzt.bild: fenja hardel
"Wir müssen darauf beharren, dass die Aufarbeitung von Deutschlands Rassismusproblem nicht einfach ein Trend ist, sondern ein neues Paradigma wird. Ähnlich wie bei den 68’ern brauchen wir eine Zeitenwende. Hierfür müssen wir die Perspektiven und Forderungen Rassismusbetroffener ernst nehmen und Rassismus als gesellschaftliches Querschnittsthema begreifen.
"Sprache spielt eine große Rolle, da sie Vorurteile festigen, aber auch abbauen kann."
Sprache spielt hier eine große Rolle, da sie Vorurteile festigen, aber auch abbauen kann. Dabei geht es natürlich nicht um Sprachverbote, sondern darum, möglichst alle in dieser Gesellschaft lebenden Menschen mit einzubeziehen und sich diskriminierungsfrei auszudrücken. Wir brauchen darüber hinaus tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Dabei sollten wir nicht davor zurückschrecken, effektive Instrumente zu verwenden – wie Gleichstellungsdaten oder Quotenregelungen.
Konzepte wie Integration und interkulturelle Öffnung haben ausgedient, weil sie sich nicht bewährt haben und am Problem vorbeigehen. Stattdessen brauchen wir eine glaubwürdige Vielfaltspolitik und die Förderung rassismuskritischer Kompetenzen auf allen gesellschaftlichen Ebenen."
Warum Podcasts im Wahlkampf immer wichtiger werden
Wer die deutsche Podcast-Landschaft einigermaßen kennt, hat schon mal von "Hotel Matze" gehört. Seit 2016 gibt es das Interview-Format von Matze Hielscher – und man muss schon konzentriert nachdenken, damit einem ein paar angesagte deutsche Promis einfallen, die noch nicht bei ihm zu Gast waren.