"Wir bringen dich um, du Schwein", "Jetzt bist du tot", "Ich steche dich ab" oder "Der Tod wird dich finden". Morddrohungen an Politiker:innen – teilweise versehen mit einem Strick, einer Patronenkugel oder einer Mitteilung des Todesdatums.
Für viele Kommunal- aber auch Spitzenpolitiker:innen ist das Alltag geworden. Und dazu muss nicht einmal zwingend eine Migrationsgeschichte vorliegen. Sagt jemand etwas, was anderen nicht passt: Morddrohung.
Der Fall, der wohl die größte mediale Aufmerksamkeit auf dieses zunehmende Problem gelenkt hat, ist der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Seitdem werden verstärkt Studien zum Thema durchgeführt und Daten erhoben.
Aber auch die geplante Entführung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) im vergangenen Jahr, der Strick, den FDP-Abgeordnete Karoline Preisler vor rund zwei Monaten nach Hause geschickt bekommen hatte und zahlreiche Angriffe auf Parteizentralen und -büros erhielten viel Aufmerksamkeit.
220 Gewaltdelikte verzeichneten die Landeskriminalämter (LKA) allein im vergangenen Jahr gegen "Amtsträger, Mandatsträger und/oder Parteirepräsentanten/ Parteimitglieder", wie das Bundeskriminalamt (BKA) auf watson-Anfrage bestätigte. Insgesamt waren es 4834 Straftaten, die jedoch nicht immer eindeutig politisch Links- oder Rechtsmotivierten zugeordnet werden können.
Woher kommt die gestiegene Gewaltbereitschaft gegen Politiker:innen?
"In jüngerer Vergangenheit zeigen sich – etwa im Kontext der Covid-19-Pandemie – neue Formen des Extremismus, bei denen insbesondere der Staat und seine Institutionen in sicherheitsgefährdender Art und Weise delegitimiert und verächtlich gemacht werden", schreibt das Bundesinnenministerium (BMI) auf seiner Website.
Und tatsächlich ist es nicht nur ein "Gefühl", dass die Gewalt gegen Politiker:innen zunimmt. Extremismusforscherin Lotta Rahlf vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) erklärt auf Anfrage von watson:
Ihre Forschung zu dem Thema beschäftigt sich vornehmlich mit der Kommunalpolitik.
Zwischen 2015 und 2017 habe sich ein Anstieg von verbalen und schriftlichen Anfeindungen, Hasspostings und tätlichen Angriffen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise beobachten lassen, meint Rahlf. Gründe für Gewalt in der Kommunalpolitik seien etwa geplante Infrastrukturprojekte oder Äußerungen zu polarisierenden Themen.
Es ist also kein Phänomen, das nur die jüngere Vergangenheit betrifft – oder etwa erst im Zuge der Corona-Pandemie aufgetreten ist.
Das BKA hat mit Motra ein kommunales Monitoring gestartet, zu Hass, Hetze und Gewalt gegenüber kommunalen Amtsträger:innen. Laut den 2022 veröffentlichten Daten zu 1495 Befragten gab fast die Hälfte (46 Prozent) an, zwischen Mai und Oktober 2021 Anfeindungen gegen die eigene Person oder Angehörige erlebt zu haben. Davon auch viele Fälle im digitalen Raum. Ein bis zweimal pro Monat komme es online zu Anfeindung, wie die Befragten angaben.
Bundestagsabgeordneter Cem Özdemir (Grüne) hat Ende 2019 eine Droh-Mail bekommen, in der ihm mitgeteilt wurde, er stünde als Erstes auf einer Todesliste. "Zurzeit sind wir am Planen, wie und wann wir Sie hinrichten werden, bei der nächsten öffentlichen Kundgebung? Oder werden Sie von uns vor ihrem Wohnort abfangen?", zitiert die Funke-Mediengruppe damals die mutmaßlichen Verfasser, eine Gruppe mit dem Namen "Atomwaffen Division Deutschland" (AWD).
Özdemir erstattete Anzeige. "Ich kann mich auf den Begleitschutz durch das BKA verlassen", sagte Özdemir damals den Funke-Zeitungen. "Doch was ist mit all den Kommunalpolitiker:innen und den ehrenamtlich Engagierten, die angefeindet werden und keinen Personenschutz haben?" Es müsse möglich sein, am Spielfeldrand, im Bus und auf der Betriebsfeier für eine offene Gesellschaft einzutreten, ohne danach Hasskommentare auf Social Media zu bekommen.
Laut Rahlf ist genau das das Problem. "Angriffe gegen kommunale Amts- und Mandatsträger:innen haben unmittelbare demokratiegefährdende Konsequenzen", sagt sie. Denn: Zahlreiche Politiker:innen überlegen, sich deshalb aus der Politik zurückzuziehen oder sich nicht mehr zu bestimmten Themen zu äußern. Jede:r zehnte Befragte der Motra-Studie gab an, erwogen zu haben, das Amt niederzulegen.
Auch eine Verhaltensänderung der Politiker:innen sei Rahlf zufolge problematisch. Laut einer bundesweiten Studie der Körber-Stiftung aus dem Jahr 2021 unter Bürgermeister:innen, haben 68 Prozent der Befragten aus Sorge vor Anfeindungen oder Beleidigungen ihr Verhalten geändert. "Sowohl der Rückzug als Folge von Angriffen sowie präventive Verhaltensänderungen schädigen nachhaltig die Demokratie", sagt Rahlf.
Bundestagsabgeordnete für die SPD Dresden, Rasha Nasr, teilte kürzlich in ihrer Instagram-Story, dass sie und ihr Team nun einen Selbstverteidigungskurs machen würden. "Da wir uns in einer Situation befinden, die wir leider nicht mehr allein meistern können", begründete Nasr ihren Schritt in einem Video.
Das Problem der Gewalt gegen Politiker:innen sieht auch ihre Partei. Auf watson-Anfrage teilt ein Sprecher der SPD mit:
Belastbare Zahlen könne die Partei jedoch nicht liefern, da die Fälle nicht zentral erfasst würden. Ähnliche Aussagen trafen auch andere Parteien, wie etwa die Linke, auf Anfrage von watson.
Eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion bei der Bundesregierung aus dem Juni 2023 ergab erschreckende Zahlen: 129 Angriffe auf Parteieinrichtungen wurden allein gegen die Grünen in der ersten Jahreshälfte 2023 verübt. Danach folgt mit 50 Angriffen die SPD und mit 38 die AfD. 30 wurden bei der Linken gemeldet, 18 bei der CDU, 8 bei der FDP und keine bei der CSU.
Grünen-Bundesgeschäftsführerin Emily Büning sagt dazu auf Anfrage von watson:
Ein Sprecher der FDP teilt mit:
Die CDU/CSU wurde von watson ebenfalls angefragt, hat jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht geantwortet.
"Betroffene äußern wiederholt den Wunsch nach stärkeren Beratungsstrukturen", sagt Rahlf. Im Zuge der wachsenden medialen Aufmerksamkeit für die steigende Gewalt gegen Politiker:innen sei zum Glück auch das Beratungsangebot gewachsen. So gebe es einige Anleitungen und Anlaufstellen von öffentlichen Stellen, wie man sich als Betroffene:r zu verhalten habe.
Dass das jedoch offenbar nicht ausreichend ist – und hier die Bundesregierung gefordert ist – zeigen die Zahlen der steigenden Gewalt gegen Politiker:innen.