Selten schwappen Demos direkt über in den Bundestag. Am 18. November ist das passiert. Das Parlament sollte an diesem Tag über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes abstimmen. Draußen protestierten rund 7000 Menschen in Berlin gegen die Maßnahmen von Bund und Ländern zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Unter den Demonstranten waren Menschen, die so ernst gemeinte wie verleumderische Vergleiche zum Ermächtigungsgesetz zogen, durch das Adolf Hitler 1933 zum Diktator wurde. Gleichzeitig zogen Sympathisanten der Corona-Demonstranten durch den Bundestag, bedrängten Abgeordnete. Eine von ihnen konfrontierte Wirtschaftsminister Peter Altmaier, filmte ihn, beschimpfte ihn. Die Störer, das wurde wenig später öffentlich, waren Gäste zweier AfD-Bundestagsabgeordneter.
Was hat dieser Vorfall im Bundestag bedeutet? Wie sollte das Parlament umgehen mit der Gefahr durch Extremisten? Und wo verläuft die Grenze zwischen erlaubtem Streit und verbotener Aggression?
Watson hat darüber mit Claudia Roth gesprochen, frühere Bundesvorsitzende der Grünen und seit 2013 Vizepräsidentin des Bundestags.
watson: Frau Roth, vergangene Woche sind "während der Demos gegen die Corona-Politik rechte Aktivisten in den Bundestag gekommen – und haben dort Abgeordnete bedrängt und beleidigt, darunter Wirtschaftsminister Altmaier. Was haben Sie als Bundestagsvizepräsidentin gedacht, als Sie davon erfahren haben?
Claudia Roth: Diese Leute sind eingeschleust worden. Sie sind mittlerweile bekannte Personen, die als Gäste von AfD-Abgeordneten in den Bundestag gelangt sind. Eine dieser Personen, die Frau, die unter anderem Wirtschaftsminister Peter Altmaier bedrängt und beschimpft hat, hatte zum Beispiel schon im vergangenen Sommer bei einem Kulturempfang der Grünen-Fraktion gefilmt und sich dann entsprechend darüber ausgelassen.
Und nun stand sie im Bundestag – und nicht nur sie.
Wir haben jetzt erlebt, dass eine Gruppe von rechten Bloggern durch den Bundestag gezogen ist, gefilmt hat, in Büros von Abgeordneten hineingegangen ist. Damit wurde das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag bedrängt, es wurde versucht, ihn in seiner Arbeitsfähigkeit zu behindern. So etwas haben wir in der Form noch nicht erlebt.
Die Nähe zwischen AfD und Corona-Verschwörungsgläubigen ist nicht neu, auf mehreren Corona-Demos sind AfD-Abgeordnete aufgetreten. Ist die AfD der parlamentarische Arm der Corona-Schwurbler?
Ja, auf jeden Fall. Die AfD ist doch stolz, die Corona-Verschwörungsanhänger zu vertreten. Sie sind nicht nur der parlamentarische Arm dieser Szene, sondern auch von Rechtsextremen wie der Identitären Bewegung oder den Reichsbürgern. Der Bundestagsabgeordnete Peter Bystron hat 2017 gesagt, die Identitären seien die "Vorfeldorganisation der AfD". Viele derer, die auf die Corona-Demos gehen, geht es oft gar nicht um kritische Auseinandersetzung mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, sondern vielmehr darum, ihre Verschwörungsideologien oder Antisemitismus zu verbreiten. Gerade auch jüdische Organisationen machen sich große Sorgen mit Blick auf diese Demonstrationen und die Plakate, die dort hochgehalten werden.
Nach den Störern vergangene Woche im Parlament hat es am Mittwoch wieder einen Vorfall im Regierungsviertel gegeben: Ein Mann ist mit seinem Auto gegen einen Zaun des Kanzleramts gefahren. Das deutsche Regierungsviertel ist im Vergleich zu anderen Ländern offen, den Bundestag kann grundsätzlich jeder Bürger gratis nach Anmeldung besuchen. Kann sich der Bundestag diese Offenheit noch leisten?
Wir wollen den Bundestag weiterhin als ein offenes Haus verstehen und das Parlaments- und Regierungsviertel nicht in eine Hochsicherheitszone verwandeln. Dennoch ist die Radikalisierung erschreckend: mehr Hass, mehr Gewalt, mehr Angriffe. Derzeit gibt es online eine Art "virtuellen Galgen", an dem angebliche "Demokratiefeinde" zu hängen wären. Da stehen die Namen ganz vieler Kolleginnen und Kollegen, Adressen und Telefonnummern von ihren Eltern und Kindern. Das ist absolut unerträglich! Hinter dieser Radikalisierung steckt eine Strategie.
Was meinen Sie?
Es geht, erstens, um die gezielte Entgrenzung von Sprache, Antidemokraten nutzen unterschiedliche Themen aus, um beispielsweise Minderheiten zu demütigen. Zweitens folgt eine gezielte Relativierung unserer Geschichte, der Holocaust, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, wird kleingeredet und verharmlost. Lange war die Flüchtlingspolitik der Anlass für diese Strategie.
Jetzt sind es die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie.
Ja, und das geht so weit, dass sich der AfD-Abgeordnete Karsten Hilse bei einer Corona-Demo vor das Brandenburger Tor stellt und behauptet, die Nazis seien während des Holocaust mit den Juden so umgegangen wie jetzt die Bundesregierung in der Corona-Krise mit den Bürgern! Der dritte Teil dieser Strategie ist die systematische Verächtlichmachung demokratischer Institutionen wie unserer Parlamente.
Und was lässt sich dagegen tun?
Wir müssen die Abgeordneten schützen – und die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundestag. Wir müssen sicherstellen, dass das Parlament arbeitsfähig bleibt. Gleichzeitig will ich mir den Bundestag als offenen Ort nicht wegnehmen lassen von denen, die genau diese Offenheit angreifen. Wir diskutieren im Präsidium und im Ältestenrat gerade darüber, wie wir das hinbekommen: den Schutz verbessern – und gleichzeitig den Bundestag als offenes Haus erhalten.
Wie könnte das konkret aussehen? Die Gefahr ist ja, dass man in einen Teufelskreis kommt: Schottet sich der Bundestag stärker ab, liefert er denen Futter, die behaupten, die Abgeordneten seien abgehoben und hätten nichts mehr mit der Bevölkerung draußen zu tun.
Es gibt da verschiedene Überlegungen. Momentan gilt die Regel, dass Abgeordnete bis zu sechs Gäste ohne Kontrolle mit ins Haus nehmen dürfen. Diese Regel war bis vorvergangenen Mittwoch, dem Tag der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz, und am vergangenen Donnerstag ausgesetzt. Alle Gäste wurden registriert: Um zu wissen, wer im Haus ist und welcher Abgeordnete der Gastgeber war. Die Registrierung der Gäste könnte man beispielsweise dauerhaft zur Pflicht machen.
Wären Sie dafür?
Ich melde meine Gäste in der Regel schon immer an. Ich finde das einen vertretbaren Schritt, dadurch bleibt der Bundestag trotzdem offen. Und wir überlegen gerade, die Kriterien zu überarbeiten, die zu einem Hausverbot führen – gerade bei Personen, die immer wieder Abgeordnete bedrängen und belästigen. Auch das finde ich richtig.
Aber kann sich ansonsten auch in Zukunft jeder Bürger kostenlos eine Plenardebatte von der Tribüne aus ansehen?
Natürlich, das steht nicht zur Debatte. Aber ich will schon wissen, wer im Bundestag auf der Tribüne sitzt. Gäste auf der Tribüne haben übrigens kein Rede- und schon gar kein Schreirecht. Genau das hatten wir aber vergangene Woche bei einer Sitzung, die ich geleitet habe: Da war ein Gast eines AfD-Abgeordneten, der angefangen hat, von oben runterzuschreien. So jemand verstößt gegen die Regeln und verspielt damit auch den Zugang zu unserem Haus.
Trotzdem soll der Bundestag offen bleiben?
Der Bundestag ist weiter ein offenes Haus, wir sollen streitbar miteinander umgehen, wir wollen auch kein Hochsicherheitstrakt werden. Aber der Bundestag muss ein angstfreier Raum bleiben. Wir hatten hier auf Einladung von AfD-Abgeordneten schon mehrfach bekannte rechtsextreme Aktivisten und Menschen aus dem Umfeld von Pegida im Haus. Es kann nicht sein, dass sich Mitarbeitende des Bundestags vor solchen Menschen fürchten müssen.
Die AfD inszeniert Auseinandersetzungen mit anderen Fraktionen oft als eine ruppige, aber angeblich sehr mutige Form von Kritik und davon, den Mächtigen auf den Zahn zu fühlen. Die Videos besonders aggressiver Redebeiträge verbreitet die AfD dann über ihre YouTube-Kanäle und bekommt von Anhängern viel Zustimmung. Was können Sie als Bundestagsvizepräsidentin dem entgegensetzen?
Dass ich mir einen Bundestag wünsche, der sich über Inhalte streitet. Deswegen habe ich immer kritisch gesehen, dass über die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie fast ausschließlich die Bundesregierung und die Landesregierungen entschieden haben und die Parlamente fast außen vor waren. Die großen Debatten müssen repräsentativ im Parlament stattfinden, die Abgeordneten müssen die Regierung kontrollieren.
Aber zu diesem Parlament gehört eben auch die AfD.
Was die AfD macht, hat nichts mit ernsthaftem Streit um Inhalte zu tun, vielmehr ist es der Versuch, eine demokratische Institution verächtlich zu machen. Das ist rechter Populismus par excellence.
Sie mögen die sachliche Auseinandersetzung?
Ich bin einer der größten Fans von politischem Streit: Ich komme aus Bayern, es gibt nix Schöneres als ein Battle mit der CSU. Wenn wir uns da in den Bierzelten streiten, geht es manchmal heiß her. Aber wir sind hier nicht im Bierzelt, wir sind im Bundestag. Die Demokratinnen und Demokraten tun gut daran, zu zeigen, wie streitbare Auseinandersetzung aussieht. Die kann aber nicht dazu führen, dass Abgeordnete beschimpft, bedrängt werden und ihnen Angst gemacht wird, oder dass das dann gefilmt und in die rechten Medienblasen hochgeladen wird, wie es mit Wirtschaftsminister Altmaier passiert ist.
Haben Sie überhaupt eine Chance, mit dieser Vorstellung vom demokratischen Streit und seinen Grenzen durchzudringen zu Menschen, die der AfD-Erzählung glauben: Also, dass die AfD die Partei sei, die sich mutig gegen die anderen Parteien stelle?
Ich glaube nicht, dass man zu denen durchdringt, die tief in dieser rechten Blase feststecken. Da gibt es kaum mehr die Möglichkeit, Brücken zu bauen. Gleichzeitig merke ich schon, dass es sogar innerhalb der AfD-Fraktion knistert. Auch da gibt es Leute, die sagen, dieses Verhalten, die Angriffe auf andere Abgeordnete, die Spielchen mit löchrigen Masken einzelner AfD-ler, dass das der AfD schade.
Möchten Sie AfD-Anhängern, die Sie noch erreichen können, eine Brücke bauen?
Ich möchte mit Menschen, die skeptisch sind und die Kritik an den Corona-Maßnahmen haben, reden. Ich will ihren Standpunkt hören und versuchen zu verstehen. Und ich will ihnen vermitteln, wie unglaublich schwierig diese Abwägung ist: auf der einen Seite der Schutz der Gesundheit, der im Grundgesetz verankert ist, auf der anderen Seite der Schutz der Freiheitsrechte. Es ist die ständige Suche nach der bestmöglichen Lösung – ohne Garantie, dass man dann tatsächlich auch die beste Lösung findet. Es ist mir zudem ein wichtiges Anliegen, zu erklären, dass gerade niemand eine Diktatur errichten will und dass der infame Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis unzulässig ist.
Und was ist mit den Menschen, die Sie nicht mehr erreichen können?
Ich als grüne Bundestagsvizepräsidentin stoße sicher schnell an Grenzen beim Versuch, AfD-Anhänger zu überzeugen. Aber ich glaube, dass ich viele Demokratinnen und Demokraten davon überzeugen kann, dass in dieser schwierigen Zeit der Zusammenhalt das Wichtigste ist. Wir müssen jetzt beweisen, dass es eine Demokratie besser durch eine Pandemie schafft als ein autoritäres Regime.
In dem es das Recht auf Demonstration nicht gibt.
Ich fände es falsch, jetzt das Demonstrationsrecht einzuschränken, es ist ein Grundnahrungsmittel der Demokratie. Was hingegen schon geht, ist Regeln aufzustellen, damit aus Demonstrationen keine Gesundheitsgefahr wird.
Im Juni 2019 gab es eine Störaktion, bei der Fridays-for-Future-Aktivisten ein Jugend-Planspiel unterbrochen, ein Transparent hochgehalten und sich auf den Boden gelegt haben. Was ist denn da der Unterschied zu der Störaktion der rechten Aktivisten vor ein paar Tagen?
Das war damals kein Angriff auf Menschen, auf Abgeordnete. Es war eine Art Übersetzung der Klimakrise. Im April gab es auch einen Fridays-for-Future-Protest, bei dem Plakate vor dem Bundestag ausgelegt wurden. Dabei haben sich die Demonstranten akribisch an Corona-Regeln gehalten. Das kann man von den Corona-Demonstrationen nicht behaupten. Da werden außerdem Plakate von Kanzlerin Merkel und dem Virologen Christian Drosten in Sträflingskleidung getragen, darunter das Wort "schuldig". Das ist der Aufruf zu Verhetzung und Hass. Das ist schon ein ganz großer Unterschied.
Im Juni kletterten sogar Greenpeace-Aktivisten auf das Gebäude des Bundestages...
Und haben dort ein Transparent entrollt. Das ist nicht erlaubt, das muss verhindert werden. Selbst, wenn mir der Inhalt des Protests viel näher liegt als andere, haben wir es auch entsprechend kommentiert und verfolgt. Mit Blick auf die sogenannten Querdenken-Demos müssen sich spätestens jetzt die Menschen im Klaren sein, mit wem sie da mitmarschieren. Sie müssen sich fragen, ob sie mit Verfassungsfeinden, Rechtsextremisten, mit Antisemiten und Rassisten unterwegs sein wollen. Niemand kann mehr sagen: Das wusste ich nicht. Die Plakate und die Symbole sind offensichtlich.