Watson: Frau Chebli, Sie sind in einer Familie mit zwölf Geschwistern aufgewachsen. Sie lebten in Ihrer Jugend zeitweise mit neun Ihrer Geschwister und Ihren Eltern in einer Dreizimmerwohnung. Hat Geld in Ihrer Kindheit und Jugend eine große Rolle gespielt?
Sawsan Chebli: Das Thema war omnipräsent. Wir waren sehr arm.
Wie sieht das heute aus?
Heute bin ich unabhängig und sehr dankbar dafür. Ich weiß, wie wenig selbstverständlich diese Unabhängigkeit ist und vergesse aber nie, woher ich komme. Das erdet und macht demütig.
Das heißt aber, Armut spielt trotzdem noch immer eine Rolle in Ihrem Leben.
Ja, ich engagiere mich beispielsweise bei der Berliner Tafel. Früher stand mein Vater an den Ausgabestellen der Tafel an der Schlange und hat von dort Essen mit nach Hause gebracht. Meine Mutter bekommt heute noch staatliche Unterstützung. All das prägt.
Das war der Ansporn für Sie, in die Politik zu gehen. Sie sagten einmal sinngemäß: "Mein Leben wurde immer von Politik bestimmt. Jetzt möchte ich Politik bestimmen." Sie wollten mehr soziale Gerechtigkeit in die Welt tragen. Was hat sich in der Zeit, seit Sie in die Politik gegangen sind, getan?
Sämtliche Studien attestieren Deutschland leider kein gutes Bild. Menschen aus Nicht-Akademikerfamilien oder aus Familien, die von Transferleistungen leben, haben kaum eine Chance, den Aufstieg zu schaffen. Erfolg im Berufsleben, Einkommen und Aufstieg sind hierzulande so abhängig voneinander wie in wenigen anderen OECD-Staaten. Wer einmal arm ist, bleibt in der Regel arm. Es ist ein Teufelskreis.
Mit OECD-Staaten meinen Sie die 38 Staaten, die sich in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung engagieren – etwa Frankreich, Belgien oder auch die Türkei. Bildungsfinanzierung und Chancengleichheit werden durch Studien dieser Organisation jährlich verglichen.
Richtig. Und die Corona-Krise hat die Lage noch mal verschärft. Stichwort: digitale Kompetenz. Auch hierzu gibt es Studien, die zeigen: Digitale Kompetenz hängt von sozialer Herkunft ab. Bei Kindern von erwerbslosen Eltern ist diese weit unter dem Durchschnitt. Und durch Isolation und Homeschooling hat sich die Kluft noch vergrößert. Es gibt aber auch gute Beispiele.
Welche sind das?
Ein Beispiel ist mein altes Gymnasium. Da gab es zu meiner Zeit deutlich weniger Schülerinnen und Schüler aus arabischen oder türkischen Einwandererfamilien.
Und diese Veränderung sehen Sie auch an anderen Bildungseinrichtungen?
Ja, auch die Universitäten sind etwas diverser geworden. Die dritte Generation lechzt danach, den Aufstieg zu schaffen und mitzuspielen. Sie wollen sich nichts mehr vorschreiben lassen. Aber es sind verhältnismäßig immer noch zu wenige, die sich durchsetzen können. Wir können nicht von allen Kindern erwarten, aus eigener Kraft den Aufstieg zu schaffen. Hier ist die Politik gefragt.
Sehen Sie dieses Thema bei der neuen Bundesregierung gut aufgehoben?
Im Koalitionsvertrag verspricht die neue Bundesregierung allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft Teilhabe und Aufstieg. Die Förderung soll schon in der Kita beginnen. Und genau so muss es sein. Zudem soll die Durchlässigkeit beruflicher und akademischer Bildung etwa mit Förderprogrammen für Migrantinnen und Migranten oder durch die Senkung von Kosten von Meisterkursen und -briefen verbessert werden. Das geht alles in die richtige Richtung. Aber wir haben noch ein weiteres Problem.
Welches?
Den Aufstieg erschweren auch Diskriminierungserfahrungen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt. Eine Frau, die ein Kopftuch trägt, ist unter Umständen dreifach benachteiligt: als Frau, als Migrantin und als Muslimin. Auch Männer, die den Namen Mohammed oder Ali tragen, müssen trotz hervorragender Qualifikationen sehr viel mehr Bewerbungen abschicken, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, als Männer mit dem Namen Michael oder Frank. Das sind strukturelle Probleme, die wir nicht allein mit mehr Geld wegbekommen.
Und wie bewerten Sie nun die Maßnahmen der Bundesregierung?
Sie gehen in die richtige Richtung. Alle wissen, wir müssen auf dem Sektor Bildung besser werden, auch um wettbewerbsfähig zu sein.
Sie sprachen gerade von Strukturen in der Bildung – was ist aus Ihrer Sicht das Thema, das sofort angegangen werden muss?
Alles muss sofort angegangen werden. Uns läuft die Zeit davon. Mir macht Sorgen, dass unsere Erzieherinnen und Erzieher am Limit arbeiten. Sorge bereitet mir auch der akute Lehrermangel. Unverständlich finde ich, dass wir in dieser schwierigen Lage dann auch noch Frauen, die ein Kopftuch tragen und Lehrerinnen werden wollen, vom Lehrerberuf ausschließen. Und wir müssen in Sachen Digitalisierung deutlich schneller und besser werden. Zu viele Kinder haben auch schon vor Corona die Schule ohne Abschluss verlassen. Corona hat die Lage verschärft. Wir können es uns einfach nicht leisten, noch mehr Kinder zu verlieren.
In armen Verhältnissen aufzuwachsen und den Aufstieg schaffen zu wollen, ist auch eine starke emotionale Belastung. Was würden Sie Kindern und Jugendlichen mit auf den Weg geben?
Wichtig ist, dass sie an sich glauben und nicht gleich bei der ersten negativen Erfahrung aufgeben und alles hinschmeißen. Wichtig ist auch, dass sie aktiv Unterstützung suchen. Hier braucht es eine bessere Aufklärungsarbeit an den Schulen. Es gibt nämlich Programme, die gezielt junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ansprechen und fördern. Zum Beispiel Stipendien- und Mentoring-Programme wie "Geh deinen Weg" der Deutschland Stiftung Integration. Ich selbst bin hier Mentorin. Es gibt auch Vereine wie "Senior Partner in School" (SiS), wo ich Schirmherrin bin.
Ein Programm, bei dem Schülerinnen und Schülern bei den Schulaufgaben geholfen wird.
Bei SiS setzen sich ältere Menschen für Kinder aus schwierigen Verhältnissen ein. Als Schulmediatoren unterstützen sie sie bei der Lösung von Konflikten. Oft fehlt es diesen jungen Menschen an Selbstbewusstsein. Dies zu stärken, ihnen zu zeigen, wie wertvoll und gut sie sind, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, das alles ist so wichtig.
Ihr Tipp wäre es also, dass sich Menschen in diesen Situationen ihre eigenen Stärken bewusst machen?
Richtig. Mentoring-Programme zeigen ja nicht nur den Weg nach oben, bieten Beratung für das Erwerbsleben an, sondern sie sind gut, um mit mehr Selbstbewusstsein durchs Leben zu gehen. Gerade bei jungen Migrantinnen und Migranten habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie häufig zwischen den Stühlen sitzen und nicht wirklich wissen, wo sie hingehören. Sie durchleben Identitätskrisen – das kann extrem belastend sein. Hier hilft es, Vorbilder zu haben und zu sehen: Es ist okay, sich nicht nur deutsch oder türkisch oder muslimisch zu fühlen, sondern verschiedene Identitäten zu haben. Wir alle haben mehrere Identitäten.
Wie haben Sie das damals geschafft?
Ich hatte immer Menschen um mich herum, die an mich geglaubt haben. Ich habe meinem Vater, der verstorben ist, sehr viel zu verdanken. Er selbst hat nie eine Schule besucht, aber er war im Herzen gebildet, war weise und wusste, wie wichtig es ist, einen Abschluss zu machen. In der Grundschule war es mein Lehrer, der an mich geglaubt und mein Potenzial gesehen hat. Auf dem Gymnasium war es ähnlich. Immer wieder gab es Menschen in meinem Leben, die mir nicht nur Halt gegeben, sondern mich auch gefördert haben.
Würden Sie sagen, dass sie Glück hatten? Viele Menschen mit Migrationserfahrung erzählen da ganz andere Geschichten.
Es gehört mehr als Glück dazu. Ich war ehrgeizig und hatte den unbedingten Willen, meiner Stimme Gehör zu verschaffen und etwas zu verändern. Meine Eltern waren immer Spielball der Politik, abhängig von den politischen Entscheidungen anderer. Das wollte ich nicht. Mein Zuhause war für mich eine Schule. Es hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, sich nicht aufzugeben. Ich habe zudem früh erkannt, dass mir das System nicht hilft.
Wie meinen Sie das?
Ich bin nicht wegen, sondern trotz des politischen Systems da, wo ich bin.
Sie mussten also gegen die Umstände, die Strukturen kämpfen?
Ja. Für die Politik gab es für staatenlose Kinder keine Perspektive, keine Zukunft in Deutschland. Wir sollten zurück nach Hause, das es für meine Eltern als Palästinenser aber nicht mehr gab. Armut und Staatenlosigkeit, da war man zum Scheitern verurteilt.
Jetzt haben sie eine politische Laufbahn hinter sich, die aber auch von Höhen und Tiefen geprägt ist. Bereuen Sie etwas?
Fast alles hat seinen Sinn. Auch Rückschläge und Tiefen. Wenn ich zurückblicke, überwiegt das Gefühl von Stolz und Dankbarkeit.
Nun waren Sie aber bereits die stellvertretende Sprecherin des Außenministeriums unter Frank-Walter Steinmeier, Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Staatskanzlei. Nachdem es nicht für die Bundestagswahl gereicht hat, haben Sie kein Amt mehr.
Man kann auch ohne Amt etwas verändern, gestalten, Politik machen. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass nichts in meinem Leben einfach nur so passiert ist.
Schicksal?
Auch das, ja. Ich habe meine Arbeit als Staatssekretärin geliebt und ich war auch erfolgreich. Ich habe viel gelernt und möchte nichts missen. Aber wie gesagt, man kann auch jenseits institutionalisierter Politik gesellschaftliche Debatten anstoßen und gestalten und ich muss dabei niemanden um Erlaubnis bitten.
... weil man Ihnen dort den Mund verboten hat?
Weil wir als politische Beamte keine Politiker sind, sondern eben politische Beamte.
Sie sind ja auch schon immer auf Twitter sehr laut.
Ja, Twitter ist für mich ein Medium, um Diskussionen anzustoßen, auf Missstände in unserer Gesellschaft und positive Beispiel und Vorbilder hinzuweisen. Ich möchte den Rechten da nicht das Feld überlassen. Als ich vor zwanzig Jahren in die SPD eingetreten bin, habe ich es nicht getan, um still zu sein. Ich wollte verändern und jenen eine Stimme geben, die verletzlich sind und keine haben.
Haben Sie das Gefühl, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, hat Sie ausgebremst?
Ich habe meinen Job gut gemacht. Ich war loyal – und dankbar für das Vertrauen, das man mir entgegengebracht hat. Und das allein zählt.
Trotzdem: Sie haben sich vergangenes Jahr um die Bundestagskandidatur in Ihrem Wahlkreis beworben – und es nicht geschafft. Wie gehen Sie mit solchen Rückschlägen um?
Ich war mir natürlich darüber im Klaren, dass es schwer werden würde. Ich hatte gerade erst ein Kind bekommen. Da überlegst du dir schon mehrmals, ob es richtig ist, so einen Weg einzuschlagen. Für mich war das dennoch der richtige Weg.
Und die Niederlage dann gegen Michael Müller?
Klar, Niederlagen sind ätzend. Dennoch: 40 Prozent gegen den Regierenden Bürgermeister und damaligen Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz zu erzielen, ist eine Leistung und darauf bin ich stolz.
Frau Chebli, der Satz "Sagt mir, woher du kommst und ich sag dir, wohin du gehst" – was macht der mit Ihnen?
Ich möchte niemals, dass wir uns damit abfinden, dass dieser Satz zutreffen könnte.
Wohin gehen Sie denn?
Derzeit genieße ich es, jenseits institutioneller Zwänge Dinge zu tun, die mir am Herzen liegen.
Können Sie mir ein paar Beispiele nennen?
Ich engagiere mich nach wie vor gegen Rassismus und Antisemitismus zum Beispiel im Rahmen eines europaweit erstmaligen Hackathons gegen Antisemitismus. Ich setze mich für die Stärkung von Frauen im Advisory Board des Center for Feminist Foreign Policy ein. Ich bin Board von Global Citizen, einer Organisation, die sich unter anderem gegen weltweite Armut und für Bildung einsetzt. Ich unterstützte zudem eine Initiative der Candid Foundation zur Zukunft und digitalen Wandel in der Arabischen Welt. Die Zahl der Anfragen zu Podiumsdiskussionen, Interviews und Ähnlichem zeigt, dass die Leute offensichtlich nicht so sehr an meinem Titel als vielmehr an meiner Person interessiert sind und daran, was ich zu sagen habe. Das fühlt sich gut an.