In der Krise schlägt die Stunde der Exekutive, heißt es. Ganz Deutschland schaut gerade auf Politiker von Union und SPD, die in Pressekonferenzen den Takt vorgeben. Sie sind es, die den Bürgern aktuell sagen, ob es Lockerungen in der Corona-Krise gibt, ob es bald wieder ein Stück Normalität in diesen außergewöhnlichen Zeiten gibt – oder (noch) nicht.
Genau das nervt den Vizechef der zweitgrößten Oppositionspartei im Bundestag. "Die Bundeskanzlerin erweckt dauernd den Eindruck, dass sie bestimmen darf, wie 83 Millionen Menschen in Deutschland leben. Das ist infektionsrechtlich falsch", sagt FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Er fordert einen baldigen schrittweisen Rückgang zur Normalität und ist der Meinung: "Die Zeit der Virologen und Epidemiologen ist vorbei."
Kubicki ist mit 68 Jahren offiziell Teil der Risikogruppe, die besonders gefährdet ist, einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf zu erfahren. Warum er seine Gesundheit weniger von Corona als von Weißwein und Gewichtszunahme bedroht sieht und weswegen er wenig von Karl Lauterbach, aber viel von seinem Unions-Wunsch-Kanzlerkandidaten Armin Laschet hält, erzählt der FDP-Politiker im Interview mit watson.
watson: Herr Kubicki, der Sommer steht vor der Tür. Haben Sie Ihren Urlaub schon geplant?
Wolfgang Kubicki: Den musste ich absagen. Meine Frau und ich hatten eine Kreuzfahrt geplant und das geht natürlich nicht, weil man auf einem Kreuzfahrtschiff die Abstandsregeln nicht einhalten kann. Ansonsten wären wir nach Mallorca in unser Ferienhaus gefahren, das geht nun aber auch nicht, weil unsere spanischen Gastgeber uns die Einreise nicht gestatten. Daher werde ich den Sommer an der Ostsee verbringen.
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hatte generell davon abgeraten, einen Sommerurlaub zu planen. Was halten Sie denn davon?
Ich halte von Karl Lauterbachs Erklärungen nicht viel. Seine Idee ist es ja, den Lockdown bis zur Findung eines Impfstoffes beizubehalten. Das kann anderthalb bis zwei Jahre dauern. Abgesehen davon ändert er alle zwei Tage seine Meinung. Das kann er gerne tun, aber ich weiß nicht, ob er der SPD damit einen Gefallen tut. Viele Dinge, die er gesagt hat, waren in der Vergangenheit unsinnig und sind es jetzt immer noch.
Was denn zum Beispiel?
Er hat am Sonntag noch gesagt, man solle testen, testen, testen. Und jetzt erklärt er, dass er die Auffassung von Jens Spahn teilt, dass man sich beim Testen auf die konzentrieren sollte, die Symptome haben, was völlig unsinnig ist, weil viele Infizierte gar keine Symptome zeigen.
Corona führt auch dazu, dass viele Millionen Deutsche die vergangenen Wochen zu Hause verbracht haben. Sie wahrscheinlich auch. Wie ist Ihre Erfahrung mit dem Homeoffice?
Die einzig gute Erfahrung ist, dass wir inzwischen FDP-Sitzungen per Videokonferenzen abhalten. Das hat sich bewährt und man fragt sich, warum wir das nicht schon früher gemacht haben, sondern regelmäßig für ein, zwei Stunden nach Berlin gefahren sind.
Stört Sie auch etwas?
Ich beobachte, dass Homeoffice nachlässig macht. Der Kleidungsstil ist legerer. Man läuft auch mal in Jogginghose oder Polohemd durch die Gegend. Außerdem ist man im Homeoffice freier in der Getränkeauswahl.
Und zu was greifen Sie da so gern?
Das kann nachmittags auch schon mal zu einer Weißweinschorle führen. Im Homeoffice kann das ja auch Gott sei Dank niemand überprüfen, außer jemand hat bei einer Telefonkonferenz vergessen, die Videofunktion auszuschalten. Dann prostet man sich zu.
Das klingt ja schon beinahe romantisch…
Ja, das Problem ist nur, je länger Sie sich im Homeoffice aufhalten, desto stärker wird die Gewichtszunahme. Ich hab in den letzten vier Wochen drei Kilo zugenommen, weil ich so wenig rauskomme und der Stress nicht mehr da ist, von Termin zu Termin zu hetzen. Weniger Stress führt bei mir auch immer zu mehr Gewicht.
Robert Habeck vertreibt sich die Zeit bei Telefonschalten gerne damit, Wäsche zu machen. Gibt es etwas – außer Trinken – mit dem Sie sich nebenher ablenken?
Mit Trinken vertreibe ich mir nicht die Zeit – Wassertrinken dient der Aufrechterhaltung der Gesundheit. (lacht) Ich lese gelegentlich nebenher. Wenn man merkt, dass man erst in zwanzig Minuten wieder dran ist, schaue ich auch gerne nebenbei Fernsehen.
Katja Kipping sagte kürzlich zu uns: "Wenn es ein Risikogebiet gibt, dann ist es der Bundestag". Dort gab es zu Beginn der Pandemie auch relativ viele Fälle. Wie gefährlich ist der Aufenthalt dort?
Überhaupt nicht. Wir hatten am Anfang der Pandemie vier Infektionsfälle bei Abgeordneten, jetzt keine mehr. Die Abstandsregeln sind im Bundestag, weil es so große Gebäude sind, sehr gut einzuhalten. Außerdem haben wir genug Desinfektionsspender. Ich kann den Kollegen nur empfehlen, häufiger als in der Vergangenheit die Hände zu waschen und zu desinfizieren. Das mache ich jetzt auch häufiger.
Sie sind aufgrund Ihres Alters Teil der sogenannten Risikogruppe. Fühlen Sie sich genug geschützt?
Mein Problem besteht darin, dass mir sämtliche Risiken des Lebens regelmäßig begegnen. Das geht von Genussmitteln und gutem Essen bis zu sozialen Kontakten. Ich bin altersbereinigt gesundheitlich sehr gut drauf. Mich muss keiner beschützen. Ich brauche weder die Fürsorge von Angela Merkel noch von jemand anderem.
Fühlen Sie sich von der Bundesregierung bevormundet?
Ja. Vor allen Dingen, weil ich weiß, dass die Bundesregierung gar nicht dafür zuständig ist, meine Freiheit aufgrund von infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zu beschränken. Die Bundeskanzlerin erweckt dauernd den Eindruck, dass sie bestimmen darf, wie 83 Millionen Menschen in Deutschland leben. Das ist infektionsrechtlich falsch.
Sondern?
Die Gesundheitsämter vor Ort bzw. die Landesregierungen. Ich würde mir wünschen, dass Bundes- und Landesregierungen ihre Maßnahmen besser begründen. Der saarländische Verfassungsgerichtshof hat gerade Teile der Ausgangsbeschränkung gekippt, weil die Einschränkung von Grundrechten begründet werden muss und da reichen bloße Szenarien nicht aus. Mit jedem Tag müssen diese Maßnahmen besser begründet sein.
Die Bundesregierung kommuniziert also schlecht?
Das sowieso. Mir fehlt aber auch einfach mal ein klares Ziel. Es ist überhaupt nicht klar, wann der Shutdown enden soll und sämtliche Grundrechtsbeschränkungen aufgehoben werden. Nach den ersten drastischen Maßnahmen, die ich geteilt habe, müssen wir mehr und mehr Richtung Normalzustand gehen. Das heißt auch, dass die Krankenhäuser wieder mehr Patienten aufnehmen müssen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Operationen immer weiter verschoben werden und Menschen dadurch in der Gefahr stehen, nicht durch, sondern wegen Corona zu sterben. Irgendwann muss eine Regierung, egal ob Bundes- oder Landesregierung, mal erklären, welches Ziel wir erreichen wollen und wann es dann so weit ist.
Nun, definiert wurden sie schon…
Ja, aber das hat ständig gewechselt. Erst war das Ziel, die Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern, was ja inzwischen auch kein Thema mehr ist. Dann die Verdopplungszeit und anschließend die Reproduktionsrate. Ich halte das für schwer akzeptabel und nicht mehr nachvollziehbar. Ich glaube, die Zeit der Virologen und Epidemiologen ist vorbei. Jetzt brauchen wir die Hygieniker und Infektiologen. Mir ist völlig egal, wie das Virus aussieht, wir müssen verhindern, dass wir angesteckt werden.
Haben Sie den Eindruck, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) zu viel Einfluss auf die Entscheidung der Bundesregierung nimmt?
Das glaube ich nicht, weil es eine Behörde ist, die dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordnet ist.
Aber Sie kritisieren deren Ergebnisse.
Ich bin hocherfreut, dass wir sehr viel wissenschaftliches Knowhow in Deutschland haben. Das Helmholtz-Institut und die TU Ilmenau kommen aber zu ganz anderen Ergebnissen als das RKI. Wissenschaft hat etwas mit Diskurs zu tun und dem Austausch der Meinungen und wissenschaftliche Meinungen können auch widerlegt werden. Wäre das nicht der Fall, würden wir heute immer noch denken, die Erde sei eine Scheibe. Wir müssen wissenschaftliche Meinungen offen diskutieren und dann Entscheidungen treffen.
Sie haben dem RKI vorgeworfen, die Zahlen, die es liefert, wären politisch motiviert…
Das ist nicht ganz richtig. Ich habe gesagt, man könnte langsam den Eindruck bekommen, dass die Veröffentlichung der Zahlen politisch motiviert sei. Wenn innerhalb von zwei Tagen der Wert von 1,0 auf 0,76 sinkt, dann habe ich Schwierigkeiten, daran weitgehende politische Entscheidungen und Grundrechtseingriffe zu knüpfen. Auch für Wissenschaftsjournalisten ist nicht nachvollziehbar, wie der Wert 1,0 zustande gekommen ist.
Die vorher als bedrohlich erklärte Marke von 1,0 wenige Tage vor der Telefonkonferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern entfaltet natürlich eine besondere Wirkung. Ob die Tatsache, dass es sich beim RKI um eine nachgeordnete Behörde des Gesundheitsministeriums handelt, eine Rolle gespielt hat, darüber darf und muss diskutiert werden.
Auch dem Virologen Hendrik Streeck wurde bei seiner Studie in Heinsberg vorgeworfen, sich von der Regierung von Armin Laschet instrumentalisieren zu lassen, um Ergebnisse zu liefern, die eine Lockerung der Maßnahmen ermöglichen. Was halten Sie denn von seiner Forschung?
Ich sehe nicht die Gefahr, dass Forschungsergebnisse verändert werden, weder beim RKI noch bei Hendrik Streeck. Renommierte Forscher können es sich gar nicht leisten, ihre Ergebnisse zu verfälschen. Es geht hier eher darum, wann die Ergebnisse präsentiert werden und wie man diese interpretiert. Ich halte Hendrik Streeck aber für einen fähigen Wissenschaftler und bin gespannt, was seine Studie letztendlich als Ergebnis liefert.
Bei der aktuellen Diskussion um die Lockerung der Maßnahmen spielt auch Parteipolitik eine Rolle. Wer empfiehlt sich gerade besser als Kanzlerkandidat der Union, Markus Söder oder Armin Laschet?
Zunächst einmal: Wer infektionsrechtliche Maßnahmen mit einem Schaulaufen um die Kanzlerkandidatur verbindet, ist nicht ganz dicht in der Birne. Hier wird in Grundrechte eingegriffen und das muss man gut begründen. Abgesehen davon glaube ich immer noch, dass Armin Laschet der bessere Kandidat ist.
Warum?
Er könnte die verschiedenen Strömungen innerhalb der Union verbinden. Außerdem hat er bereits vor der Krise bewiesen, dass er ein guter Ministerpräsident ist. Bei Markus Söder könnte man den Eindruck gewinnen, als gehörte ihm das Land und er wäre der wiederauferstandene Ludwig II. von Bayern, wenn er vermittelt, die Gewährung von Freiheiten sei ein Gnadenakt durch ihn.
Was macht Armin Laschet besser als Markus Söder?
Nordrhein-Westfalen hat gezeigt, dass es mit seinen Maßnahmen die Infektionszahlen in den Griff bekommen hat und das besser als Bayern oder Baden-Württemberg, die über weite Strecken viel höhere Infektionszahlen haben als andere Bundesländer.
In Baden-Württemberg geht es aktuell auch hoch her: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat infrage gestellt, ob die Corona-Maßnahmen gerechtfertigt sind, um möglicherweise Menschen zu retten, "die in einem halben Jahr sowieso tot wären". Nach einem Shitstorm ruderte er zurück. Was halten Sie von seinen Aussagen?
Überhaupt nichts. Sie sind in meinen Augen unerträglich und atmen verfassungswidrigen Geist. Wenn Boris Palmer genau weiß, wer wann stirbt, dann sollte er eine Kirche gründen. Ich weiß es nicht und glaube nicht, dass das Leben eines 90-Jährigen weniger lebenswert ist als das Leben von Boris Palmer. Vielleicht wollte er damit aber auch etwas anderes sagen.
Was denn?
Gerichtsmediziner, wie Professor Püschel aus Hamburg, haben festgestellt, dass niemand an Covid-19 verstorben ist, ohne dezidiert größere Vorerkrankungen gehabt zu haben. Wir wissen auch, dass mit dem Alter die Anzahl der Vorerkrankungen zunimmt. Das darf uns aber nicht zu dem Punkt bringen, an dem wir Menschenleben gegen Menschenleben ausspielen.
Nun ist es so, dass die aktuellen Regelungen zur Bekämpfung des Coronavirus erstmal auch im Mai weitergelten. Was fordern Sie?
Es muss alles beseitigt werden, was aus Infektionsschutzgründen nicht notwendig ist. Ich bin immer noch Teil des Koalitionsausschusses in Schleswig-Holstein. Ich finde es bei uns sehr gut geregelt. Dort wird es ab dem 4. Mai wieder möglich sein, dass man Sportarten betreibt, die keinen Körperkontakt beinhalten. Außerdem wird man wieder segeln dürfen. Es werden auch über kurz oder lang wieder Gaststätten und Hotels geöffnet werden.
Spielt die Größe dabei eine Rolle?
Wir konzentrieren uns auf Abstand- und Hygienevorschriften und nicht auf Quadratmeterzahlen. Wichtig ist, dass sich keine Menschenansammlungen bilden. Wir werden durch eine geschickte Lenkung langsam wieder Tourismus erlauben und darauf achtgeben, dass sich die Menschen nicht an Hotspots wie dem Timmendorfer Strand konzentrieren. Auch die Leute, die einen Zweitwohnsitz in Schleswig-Holstein haben, werden ab dem 4. Mai diesen wieder aufsuchen dürfen. Ab Mitte Juni wird dann aller Voraussicht nach wieder Tagestourismus möglich sein.
Vieldiskutiert ist auch die Fortführung der Bundesliga.
Ich finde das gut, solange sie nicht vor Zuschauern stattfindet.
Wie könnte sichergestellt werden, dass es unter den Spielern keine Ansteckungen gibt?
Die Spieler kennen die Gefahr und es ist ihr eigenes Recht zu spielen, wenn sie das möchten. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist relativ gering, wenn die Spieler vor und nach dem Spiel getestet werden können. Außerdem kann man die Mannschaften in Hotels isolieren für die Dauer der Spielzeit, so wie es bei Europa- und Weltmeisterschaften auch der Fall ist. Dann stecken die Spieler keine anderen Menschen an und können das Virus auch nicht mit auf den Platz bringen.
Shutdown, Ausgangssperre, Sommerurlaub: Welche Lehren sehen Sie denn bis zu diesem Zeitpunkt?
Wir können uns in jedem Fall glücklich schätzen, dass wir so ein gutes Gesundheitssystem haben, um das uns die ganze Welt beneidet. Ich finde es auch unsinnig, eine Verstaatlichung des Gesundheitssystems zu fordern. In Großbritannien haben wir ein verstaatlichtes Gesundheitssystem und sehen, was dabei rauskommt.
Lassen Sie uns noch über ihre Partei sprechen. Aktuell kratzt sie an 5 Prozent je nach Umfrage. Hat die FDP in der jüngsten Vergangenheit Fehler gemacht?
Selbstverständlich haben die Umfrageergebnisse auch mit Fehlern der FDP zu tun, aber nicht ausschließlich. Fragen Sie mal die Grünen, die seit ihrem Höhepunkt deutlich zweistellig verloren haben. Nächstes Jahr wird die FDP wieder so stark sein, wie sie es bei der letzten Bundestagswahl war, wenn nicht sogar stärker. Wenn es in den nächsten Wochen wieder darum geht, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hochzufahren, wird die FDP auch wieder gefragt sein. All die Leistungen, die Olaf Scholz verspricht, müssen auch bezahlt werden. Und dann braucht es die FDP und ihre Wirtschaftskompetenz.
Und mit wem an der Spitze der Partei wird die FDP nächstes Jahr antreten?
2021 wird die FDP mit Christian Lindner an der Spitze in den Bundestagswahlkampf gehen. Davon gehe ich sicher aus.
Gilt Ihr Pakt noch, den Sie 2013 geschlossen haben, sich gegenseitig zu unterstützen?
Das ist kein Pakt. Wir haben keinen Vertrag unterschrieben. Ich habe ihm nur gesagt, dass er von mir nichts in der Öffentlichkeit hören wird, was ich ihm nicht vorher persönlich gesagt habe.
Und dabei bleibt es?
Dabei bleibt es. Mittlerweile haben wir eine so tiefe Vertrauensbasis zueinander, dass selbst unterschiedliche Auffassungen zu Themen nicht zu einem Zerwürfnis führen.