Was für ein Jahresbeginn: Nach einem schleppenden Impfstart kam die Nachricht, dass zu wenig Impfstoff für die Zentren bereitsteht. In derselben Woche erreichen uns Bilder aus Washington, die einen wütenden Mob zeigen, der, angestachelt durch den noch amtierenden US-Präsidenten, das Kapitol der US-Hauptstadt stürmt. Das neue Jahr begann so deprimierend, wie das vergangene aufgehört hat.
Auch wenn diese Zustände in den USA weit weg scheinen, sind sie sehr präsent in Deutschland: Auch hier gibt es Gruppen bei Telegram, die sich radikalisieren und auch hierzulande gibt es Hass gegen Politiker. Und: Auch hier gibt es Verschwörungserzählungen, die Angst vor dem Corona-Impfstoff verbreiten.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil macht sich Sorgen über die Entwicklung unserer Gesellschaft, er hatte sich bisher immer sicher gefühlt in unserer Demokratie. Aber auch ihm bereitet es Kopfzerbrechen, wenn er Demos von Corona-Leugnern sieht. Watson hat mit ihm darüber geredet, wie man der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken kann.
Watson trifft Lars Klingbeil in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale der SPD. Das mehrstöckige Gebäude, das sonst bis zu 60.000 Besucher im Jahr empfängt und in dem die vielen SPD-Mitarbeiter ihre Büros haben, ist Corona-bedingt kaum besetzt. Klingbeil ist offiziell erst seit Montag wieder im Dienst, aber die Ereignisse der vergangenen Woche haben ihm wenig Freizeit gelassen.
"Ich hing den Abend über fassungslos vor dem Fernseher."
watson: Herr Klingbeil, vergangenen Mittwoch erreichten uns erschütternde Bilder aus den USA von einem Mob, der das Kapitol gestürmt und die heiligen Hallen des Parlaments geschändet hat. Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Lars Klingbeil: Ich hing den Abend über fassungslos vor dem Fernseher. Ich hoffe wirklich, dass Trump für seine rechte Hetze noch des Amtes enthoben wird.
Sie haben selbst mal in Washington gelebt, Sie kennen die Stadt. Haben Sie noch Verbindungen dorthin?
Ja, ein Freund von mir ist zurzeit dort, wir haben uns Nachrichten hin und her geschrieben und er hat mich auf dem Laufenden gehalten.
Die Bilder erinnern uns Deutschen an das Eindringen der Demonstranten in den Bundestag.
Daran habe auch ich sofort gedacht. Wie es war, als rechte Corona-Leugner im Sommer die Treppe des Reichstags gestürmt haben oder als die AfD Leute in den Bundestag eingeschleust hat und hier Abgeordnete bedroht wurden.
Sie waren an diesem Tag vor Ort, wie viele andere Abgeordnete auch. Wie ging es Ihnen damit?
Man wusste zunächst nicht, was da bei den Demos vor dem Bundestag passiert. Dann machten Meldungen die Runde, dass fremde Personen in den Gebäuden sind. Ich habe meinen Mitarbeitern gesagt, sie sollen im Büro bleiben und die Türen von innen abschließen.
"Die Feindseligkeit nimmt zu."
Hatten Sie Angst?
Ich persönlich nicht, was sicher auch an meiner Statur liegt. Aber keiner wusste, was die vorhaben und da mache ich mir schon auch sehr grundlegende Gedanken. Uns steht ein Superwahljahr bevor, das heißt auch Wahlkampf an Infoständen in der Fußgängerzone oder an den Haustüren. Was ist mit den vielen tausenden Ehrenamtlichen, wenn sich solche Szenen auch anderswo wiederholen. Die Feindseligkeit nimmt zu. Unsere Wahlkämpfer muss ich vor Angriffen schützen. Ich kenne Kommunalpolitiker der SPD, die selbstgebastelte Galgen im Briefkasten vorfinden.
Watson Politik-Redakteur Lukas Weyell im Gespräch mit SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Bild: watson / Michelle marie nuhn
Was denken Sie, wenn Sie die Demonstrationen von Corona-Leugnern hier in Berlin sehen, bei denen Politiker von vielen Menschen übel beschimpft werden?
Eigentlich würde ich gerne auf jeden einzelnen zugehen und mit ihm diskutieren…
Diskutieren?
Alles andere liegt mir völlig fern.
Glauben Sie noch daran, dass man diese Menschen mit Argumenten überzeugen kann?
Die Köpfe der Querdenken-Bewegung auf keinen Fall. Aber die Bürgerinnen und Bürger, die verunsichert sind und Antworten suchen, wollen den Dialog. Das ist ja auch unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker. Ich habe allen Bürgerinnen und Bürgern, die mir Nachrichten mit irgendwelchen Verschwörungstheorien geschickt haben, geantwortet und sie zum Austausch eingeladen.
Was für Erfahrung haben Sie damit gemacht?
Das Überzeugen mit Fakten ist nicht leicht. Wenn da Ideen kommen, wie die, dass Bill Gates vorhat, uns alle zu chippen, dann weiß ich auch nicht mehr. Bei allem Kopfschütteln darüber, müssen wir uns aber auch immer klarmachen: Es sind nur 20.000 auf solchen Demonstrationen und die überwiegende Mehrheit in Deutschland ist vernünftig.
"Dass Twitter und Facebook Trump erst zum Ende seiner Amtszeit sperren, ist zu billig."
Trotzdem hat diese Minderheit online eine wahnsinnige Macht, wenn sie sich organisiert. Brauchen wir eine Zensur im Netz?
Eine Zensur ist falsch. In digitaler Kommunikation liegen große Chancen, aber natürlich sehe ich auch, wie Trump und seine Unterstützer die sozialen Medien missbrauchen.
Reicht es aus, den US-Präsidenten auf Twitter zu sperren?
Es gab schon davor genug Gründe ihn zu blockieren. Dass Twitter und Facebook ihn erst jetzt zum Ende seiner Amtszeit sperren, sich einfach so vom Acker machen und so tun, als hätten sie mit dem Aufstieg Trumps nichts zu tun, ist zu billig. Sie haben ihm vier Jahre lang eine Plattform geboten und alles mitgemacht.
Wie ist es in Deutschland? Hier gibt es auch immer wieder Probleme mit Fake-News und Hetze. Sollten Accounts der AfD ebenfalls gesperrt werden?
Wir haben dafür das Netzwerkdurchsetzungsgesetz auf den Weg gebracht, für das wir viel Haue von links und rechts bekommen haben. Aber es hilft, Ordnung ins Netz zu bringen und Grenzen aufzuzeigen. Damit können im Zweifel eben auch Accounts gesperrt werden, die Hass und Hetze verbreiten und das sollten wir auch tun.
"Ich glaube, dass Markus Söder immer leidet, wenn er nicht die Debatte der Woche bestimmt."
Falschmeldungen und Verschwörungsmythen sind nicht nur bei den neuen Medien ein Problem. Gerade erst hat RTL den Wendler aus den aufgezeichneten Folgen von "DSDS" geschnitten, weil er den Holocaust verharmlost hat. Welche Verantwortung haben Medien wie TV-Sender?
In so einer polarisierten Gesellschaft wächst die Verantwortung bei allen Medien. Beim Wendler sieht man, dass die Zeit vorbei ist, in der man noch sagen konnte, ist doch egal was der macht, Hauptsache die Kohle stimmt. Es ist wichtig, dass da genauer hingeschaut wird.
Bei Wendlers Hauptkanal Telegram passiert das bisher noch überhaupt nicht. Viele Verschwörungsideologen wie auch Attila Hildmann nutzen den Dienst, weil er praktisch nicht kontrolliert wird…
Das ist eine Kommunikation, die weit unter dem Radar der Öffentlichkeit stattfindet. Es ist erschreckend, dass sich Nachrichten über Telegram-Gruppen tausendfach verbreiten und dort eine Parallelgesellschaft entsteht, die keinen Kontakt mehr zu anderen Medien hat.
Das Digitale kreiert eine neue Realität.
Ja, und die hat auch analoge Konsequenzen. Ich habe vor Kurzem in meinem Wahlkreis mit dem Leiter eines Pflegeheims telefoniert, der mir gesagt hat, dass ein Teil des Personals Bedenken hat bei der Impfung gegen Corona, aus Angst unfruchtbar zu werden. Das sind Botschaften, die von Impfgegnern auf Telegram herumgeschickt werden.
Ist es da hilfreich, wenn Markus Söder in der aktuellen Stimmung eine Impfpflicht fordert?
Ich glaube, dass Markus Söder immer leidet, wenn er nicht die Debatte der Woche bestimmt. Mit solch einem Vorstoß sorgt er für Verunsicherung und Spaltung.
Wie wollen Sie dieser Spaltung entgegenwirken?
Was das Impfen angeht: Wir müssen mit Argumenten überzeugen und Vertrauen schaffen, das ist jetzt sehr wichtig. Es braucht eine große Akzeptanz-Kampagne. Was die Verbreitung von Lügen im Netz angeht: Die Sicherheitsbehörden müssen in die Netzwerke rein. Wenn Michael Wendler oder Xavier Naidoo dort strafrechtlich relevante Dinge verbreiten, muss das eine Konsequenz haben.
Über Klimaschutz:
"Ich verstehe die Kritik, dass es vielen zu langsam geht."
Dieses Jahr ist Bundestagswahl. Es ist die Erste, die Sie als Generalsekretär organisieren. Sagen Sie uns, warum sollten junge Leute die SPD wählen?
Für die Ansprache von jungen Menschen braucht es junge Gesichter. Wir erleben gerade an vielen Stellen einen Generationenwechsel in unserer Partei, viele junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen in den Bundestag. Allen voran Kevin Kühnert oder Jessica Rosenthal. Und wir haben im vergangenen Jahr auch gezeigt, dass wir uns als Partei um die Belange von jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden kümmern.
Inwiefern?
Als es darum ging, dass zu Beginn der Corona-Pandemie junge Menschen ihre Nebenjobs verloren haben, haben wir Druck gemacht, dass es eine Unterstützung für Studierende gibt. Bildungsministerin Anja Karliczek hätte die Studierenden sonst einfach im Regen stehen lassen. Es gab eine Initiative, dass Auszubildende von ihren Betrieben trotz Corona übernommen wurden. Und wir setzen uns auch dafür ein, dass die digitale Bildung endlich vorankommt. Das hat bisher leider nicht ausreichend geklappt.
Das allein reicht noch nicht, denn junge Menschen interessieren sich momentan besonders für das Thema Nachhaltigkeit.
Die SPD hat in den vergangenen Jahren drei wesentliche Dinge in Sachen Klimaschutz erreicht: den Atomausstieg, den Kohleausstieg und ein verbindliches Klimaschutz-Gesetz. Wir sind das einzige Land in Europa, das das macht. Die ganze Welt schaut auf uns und fragt sich, ob das funktioniert. Wenn das klappt, werden wir zum Vorbild für den Rest des Globus. Darauf bin ich stolz.
Trotzdem ist die SPD an einer Regierung beteiligt, die sich von den Klimazielen von Paris verabschiedet hat.
Ich verstehe die Kritik, dass es vielen zu langsam geht. Aber wir müssen auch schauen, dass wir alle Menschen in Sachen Klimaschutz mitnehmen. Wir müssen aufpassen, dass wir aus der Kohle aussteigen und trotzdem nicht dafür sorgen, dass eine ganze Generation in den Kohleabbau-Gebieten sagt, wir wählen jetzt die AfD. Das ist sonst nicht nachhaltig für unsere Demokratie. Ich will, dass wir sehr ambitioniert sind, aber wir dürfen den Zusammenhalt nicht aus den Augen verlieren.
Die Europawahl hat gezeigt, dass viele Wähler von der SPD zu den Grünen abgewandert sind. Nach einem Wahlkampf, bei dem Umweltschutz ganz oben auf der Agenda war. Offensichtlich traut man den Grünen nach wie vor mehr Kompetenz in Sachen Umweltschutz zu.
Klar, die sind ja auch damit groß geworden. Aber das heißt ja nicht, dass ihre Konzepte automatisch besser sind. Für uns spielt das Soziale immer auch eine Rolle, auch beim Klimaschutz. Wir brauchen einen Wettkampf um die besten Ideen in Sachen Klimaschutz, gerne auch mit den Grünen.
Und davor scheuen Sie sich nicht?
Nein. Die Grünen leben gerade sehr viel davon, dass sie dem Zeitgeist entsprechen, aber irgendwann müssen sie auch mal konkrete Fragen beantworten. Wenn dann mal feststeht, ob Robert Habeck oder Annalena Baerbock Kanzlerkandidatin wird, geht es nicht mehr nur noch um Wohlfühlen, sondern auch um Details.
"Angela Merkel hinterlässt eine große Lücke in dieser Partei."
Aktuell wird zunächst einmal über den Kanzlerkandidaten der CDU debattiert. Wen würden Sie sich denn als neuen CDU-Chef wünschen?
Armin Laschet, Norbert Röttgen und Friedrich Merz haben alle ihre Schwächen und sicher auch ihre Stärken…
Welche Stärken meinen Sie konkret?
Die suche ich aktuell noch (lacht).
Und wer wäre der bessere Nachfolger für die Kanzlerin?
Ehrlich gesagt, hinterlässt Angela Merkel eine große Lücke in dieser Partei und auch an der Spitze des Landes und ich traue keinem der drei CDU-Kandidaten zu, dass er diese Lücke füllt.
Die SPD fordert jetzt eine verbindliche Homeoffice-Pflicht, um der Pandemie Herr zu werden. Wie hat sich denn für Sie das vergangene Jahr im Homeoffice angefühlt?
Ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie im März kurz vor dem Lockdown noch einen zweiten Tisch gekauft hat, so, dass wir nicht beide am Esstisch arbeiten müssen. (lacht) Aber ehrlich gesagt sind das Luxus-Probleme. Wir sind privilegiert, dass wir überhaupt im Homeoffice arbeiten können. Sehr viele Menschen in Dienstleistungs- oder Pflegeberufen können das allerdings nicht. Gerade auf den Intensivstationen oder in Pflegeheimen wird gerade übermenschliches geleistet. Andere sind in Kurzarbeit und haben Angst um ihren Job.
Lena-Sophie Müller ist Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Initiative D21 e.V. Seit 2019 sind sie und Klingbeil verheiratet.Bild: SCHROEWIG News & Images / Eva Oertwig / SCHROEWIG
Trotzdem hat die Pandemie auch vor der Parteizentrale der SPD nicht halt gemacht. Hier sind kaum Mitarbeiter vor Ort. Wie hat sich Ihr Alltag im vergangenen Jahr verändert?
Ich bin deutlich mehr zu Hause und arbeite fast ausschließlich von dort. Dieses Interview ist einer der wenigen Termine, die ich noch im Büro mache. Vor Corona war ich vier Tage die Woche irgendwo im Land unterwegs, mein Job als Generalsekretär ist in dieser Pandemie ein anderer geworden.
Wie hält das Ihre Ehe aus, dass Sie jetzt so viel zu Hause sind?
(lacht) Mein Job ist generell nicht ideal für eine Ehe. Wir haben im Sommer 2019 geheiratet und mussten unsere Flitterwochen auf März 2020 verschieben, weil die SPD auf einmal keinen Vorsitzenden mehr hatte und ich die Wahl organisieren musste. Und im vergangenen März kam dann Corona dazwischen.
Sie werden die Flitterwochen doch sicher nachholen.
Selbst wenn Corona morgen vorbei wäre, ist ja immer noch Bundestagswahl. 2021 wird das nix, aber meine Frau und ich können auch noch ein bisschen warten.
Auf dem Instagram-Channel von watson beantwortet Lars Klingbeil Entweder-Oder-Fragen.Bild: watson/instagram
Insta-Rubrik: "Entweder... oder..." mit Lars Klingbeil
Auch Lars Klingbeil hat für uns einige Fragen beantwortet, die es als Videos auch auf dem Instagram-Channel von watson zu sehen gibt.
watson: Podcast mit Kevin Kühnert oder Gerhard Schröder?
Lars Klingbeil: Podcast mit Kevin Kühnert.
Livestream oder Talkshow?
Talkshows sind auch gut, aber Livestreams sind besser.
Rockstar oder Bundeskanzler?
Rockstar geht leider nicht mehr, die Zeit ist abgelaufen.
Mit Christian Drosten im Labor oder Attila Hildmann vegane Burger essen?
Ganz klar mit Christian Drosten im Labor.
Juror bei "DSDS" oder "The Voice of Germany"?
Der Wendler ist ja nun raus, dann nehme ich die Stelle ein.
Zwei Wochen Dschungelcamp oder ein Tag Praktikant bei Donald Trump?
Das ist schwierig. Aber dann lieber Donald Trump. Das ist glaub ich spannend zu beobachten und dann zu lernen, wie man es wirklich nicht macht.
Mit wem lieber ein Bier trinken, Armin Laschet, Norbert Röttgen oder Friedrich Merz?
Friedrich Merz. Ich glaube, der ist am spannendsten und mit ihm könnte man mehr diskutieren und mehr streiten.
Ukraine-Krieg: Russland droht wegen Kriegskosten Rezession
Seit mehr als zwei Jahren führt Russland einen Großangriff gegen die Ukraine aus. Die westlichen Sanktionen gegen den Kreml wurden immer wieder als "nutzlos" kritisiert. Kreml-Chef Wladimir Putin stellte das Land auf Kriegswirtschaft um, damit konnte er die Sanktionen weitgehend abfedern.